Читать книгу Des Kaisers Waisenknabe - E.R. Greulich - Страница 7

VIERTES KAPITEL

Оглавление

Kinder haben keinen Begriff von der Zeit,

sie leben in den Tag hinein,

als währe das Leben ewig.

Obwohl der Schwächere, hatte Rudolf gegen offenbares Unrecht aufgemuckt, und die Niederlage machte ihn nicht zum Duckmäuser. Dass zum Feigesein manchmal viel Mut gehört, sollte Rudolf bald nach dem Zusammenstoß mit Kapitän Max erfahren. Es geschah dies einen Tag nach dem Erntefest. Erntefest, gefeiert von Arbeitern, die in der Industrie beschäftigt sind? Aber Paradies war umgeben von Feldern, und viele Genossenschafter bebauten Pachtland. Einige meinten auch, man muss den Bauern mal zeigen, was ein richtiges Erntefest ist. Andere fragten, was wohl symbolträchtiger für Friede, Freude, Frohsinn sei als ein Erntefest. Das des Jahres 1913 war heller Sonnenschein vor heranrückendem Gewitter. Emil Treulich verhehlte seine Befürchtung nicht, die Zeit des nächsten Erntefestes könnte schon Kriegszeit sein.

Das Fest begann am frühen Nachmittag des Sonntags mit einem Umzug durch die Paradiessiedlung und das Dorf, dann die Buntzelstraße hinunter bis zur Ecke Dahmestraße, wo rechter Hand der Schulneubau aus dem Boden zu wachsen begann. Einige hundert Meter weiter schwenkte der fröhliche Zug rechts ein zum Spielplatz, einer Wiese mit kärglichem Graswuchs im Besitz der Genossenschaft. Dort hatte man ein Podium aufgebaut, und ringsherum standen selbst gezimmerte Tische mit stabilen Holzbänken. Ein Karussell fehlte ebenso wenig wie eine Reihe Buden. In der einen gab es kochendes Wasser zum Kaffeebrühen, und die Paradieser ließen es sich wohl sein beim Kaffeeduft mit Dampfermusik."

Die Blaskapelle hatte den Festzug angeführt, dahinter kam eine Gruppe Genossenschafter, als Gärtner und Bauern gekleidet, die an Rechen und Heugabeln befestigte Schilder trugen: "Die Arbeitsleut' von Stadt und Land, sie reichen sich die Bruderhand." Auf einem anderen Schild stand: "Friede ernährt - Unfriede verzehrt!" Die Angst vor dem Krieg drückte sich am deutlichsten aus in dem Zweizeiler: "Friede soll uns das bewahren, was wir in die Scheuer fahren!" Klein Rudolf fragte nach dem Geschriebenen, und die Leute lasen es ihm vor. Dann schwieg er nachdenklich, als ob er verstanden habe, doch im nächsten Augenblick gab es Neues zu bestaunen. Da kam ein Erntewagen voller Kinder, die Mädchen trugen Blumenkränze im Haar, die Jungen kleine Garben unter dem Arm. Auf diesen girlandengeschmückten Leiterwagen mit den schweren Apfelschimmeln des Bauern Kumernus davor, war auch Rudolf hinaufgehoben worden, doch bald hatte er sich davongemacht, um den ganzen Umzug zu bestaunen.

Vorn, noch vor der Blasmusik, ritten auf zwei braven Braunen Herr und Frau Amtmann. Er im Gehrock, über der silbrigen Weste die goldene Amtmannskette, daneben im Damensitz Frau Amtmann, in Mieder und Dirndlkleid, einen Ährenkranz auf der blonden Haarkrone. Rudolf konnte sich nicht sattsehen an den prächtigen Reitersleuten, denn es waren der Papa und die Mama. Mit Gebärden und Zurufen suchte er auf sich aufmerksam zu machen, doch sie schienen ihn nicht zu bemerken. Wohl deshalb nicht, dachte er, weil sie mächtig aufpassen mussten, nicht vom Pferd zu fallen.

Ganz anders dagegen benahm sich der berittene Gendarm. Im sonstigen Leben hieß er Fritz Kodazik, ältester Sohn der vielköpfigen Familie und mit seinen starken Beinen wie geschaffen für dieses strapaziöse Amt. Durch Uniformjacke, Pickelhaube und martialischen Bart aus Stiefelwichse fast unkenntlich, steckte die untere Hälfte seines Körpers in einem Pferdeleib aus Gummi, der ausgestopfte Pferdekopf sah ungeheuer echt aus. Der Schutzmann trabte ständig umher, manchmal scheute sein Pferd und ging vorn hoch, manchmal fiel es in Galopp, und die Kinder schrien jedes Mal in herrlichem Grusel, wenn er auf sie zugeprescht kam.

Für Rudolf waren die Eltern auf hohem Ross zwar imposant, doch Fritze Kodazik und sein schnelles Gummipferd fand er aufregender. Dessen ungeachtet gedachte er den Papa zu bitten, ihn auf dem Spielplatz aufs Pferd zu heben. Reiten musste etwas Tolles sein, wie herrlich konnte man danach vor den Spielkameraden prahlen.

Als er die Eltern dann endlich im Festgewühl fand, waren die beiden Rösser von ihrem Besitzer bereits in den Stall gebracht worden. Rudolf war untröstlich, und der Vater stiftete Kleingeld zum Karussellfahren. Die Jungenhand voller Groschen und Sechser, kletterte Rudolf aufs stolzeste Pferd des Ringelspiels und rief den sehnsüchtig schauenden Kindern zu: "Steigt alle ein - ich bezahle!"

Mitleidig schaute der Besitzer auf die Knabenhand voller Geld. "Das reicht eijentlich nich, aber jib schon her." Rudolf entleerte die Faust, er hatte geglaubt, dafür würden sie allesamt stundenlang fahren können. Als er am Ende der Rundfahrt vom Holzpferd kletterte, sagte der Karussellmensch gönnerisch: "Kannst noch mal umsonst."

"Umsonst?" Der Enttäuschte tippte sich an die Stirn. "Angeschmiert haben Sie mich, können sich Ihr Karussell an den Hut stecken!"

"Du Kröte zeichst mir 'nen Vogel?" Der Ringelspielmonarch zog sich die schwarze Glocke bis an die Ohren, als stülpe er einen Helm auf, da ergriff Rudolf das Hasenpanier.

Der Geschröpfte vergaß seine Trauer, als ein Tusch ertönte und Emil Treulich das Podium betrat, eine rote Mappe unter dem Arm. Nachdem Ruhe eingetreten war, sagte er, dass er ein Gedicht von Ernst Preczang sprechen werde, welches ihm wie für diese Gelegenheit geschaffen dünke. Bald lauschten die Menschen immer beteiligter. Zum Schluss hob er die Stimme, sprach mit weit ausholender Geste die letzten Zeilen:

"Was uns zwei Jahrtausend' sangen,

was uns jeder Pfaffe pries,

reißen wir herab vom Himmel,

hier sei unser Paradies!"

Zwischen den Beinen der Erwachsenen war Rudolf bis zum Podium vorgedrungen. Es war atemberaubend. Einer sprach, Hunderte hörten still zu. Keiner hatte solch einen Papa. Während des langsam abebbenden Beifalls klappte Emil Treulich die Mappe zu, die er - das Gedicht kannte er auswendig - mehr des Effekts halber benutzte.

Die Kapelle intonierte die Arbeiter-Marseillaise, stehend sangen alle das Lied.

Die Jüngsten sollten sich nun um Vater Kodazik scharen, der dann mit den munteren Kindlein im Vorschulalter das Podium bestieg. Kodazik glich in Aussehen und Gebaren dem Turnvater Jahn, und diesen Eindruck pflegte er bewusst. Die siebenköpfige Familie Kodazik bewohnte ein Reihenhäuschen in der Nähe des Dreiecks - die Verbreiterung einer Sackgasse - und ab nachmittags konnte ein Uneingeweihter glauben, dort gebe es eine Spielschule. Wie seinen eigenen Kindern gab er allen, die es wünschten, kostenlosen Unterricht im Mandolinen- und Gitarrenspiel, hatte eine Kinder- und Jugendwandergruppe ins Leben gerufen, lehrte sie deutsche Volks-, Wander- und Turnerlieder, und des Sonntagmorgens ging er mit seiner Schar auf Landpartie.

Die Kapelle auf dem Podium rückte ihre Notenständer zusammen, und nun, begleitet von Kodaziks Zupfinstrumentengruppe, tanzten und sangen die Drei-, Vier- und Fünfjährigen einen Volkstanz.

"Und wenn du denkst, ick lieb dich nich

un treib mit di bloß Scherz,

denn zünd di een Laternchen an

und leuchte mi ins Herz.

Kiekebusch, ick segge di,

dat du mich liebst, det freuet mi ... "

Auch Rudolf gehörte zum Tanzgrüpplein des Alten mit dem grauen Backenbart, und er hatte das Tänzchen mit Ilse Tiegler eingeübt. Doch war die Gespielin heulend nach Hause gebracht worden, weil sie sich eine Tasse Kakao über das weiße Kleid geschüttet hatte. Da keine Ersatzdeern vorhanden, musste Rudolf mit Hermann Schilz tanzen. Der Gleichaltrige, ältester Sohn der Zicken-Schilzen, erwies sich als äußerst unmusikalisch.

Die sieben andern Pärchen wirkten teils anmutig, teils drollig, doch auf Tollpatsch Hermanns Gehopse machten sich immer mehr Erwachsene aufmerksam. Das ging sehr gegen die Ehre Rudolfs, und abrupt stieß er die Hände Hermanns von sich. "Warum haste nich gleich jesagt, du bist zu doof zum Tanzen?"

"Weitermachen, weitermachen!" riefen die Zuschauer, doch Rudolf verließ erhobenen Hauptes das Podium. Kleinlaut kam Hermann hinter ihm her. "Weiß ja, ich schaff's nich. Aber unse Mama hat jesagt, ick muss. Wenn ick's bei Vater Kodazik nich lerne, lern ick's nie."

Rudolf höhnte: "Hat sie auch gesagt, du sollst mich blamieren?"

Um die Freundschaft zu erhalten, entschloss sich Hermann zur Bestechung. "Woll'n wir Karussell fahren?"

"Haste Geld?"

Hermann nickte wichtigtuerisch. "Von Papan. Für mein Mut zum Tanzen. Ein Sechser für Eis, ein Sechser für Lakritze."

Rudolf war gerührt. "Mir wird bloß schwindlig vom Karussellfahren, Hermann. Wir sehn lieber mal nach, wie viel Sorten Eis es jibt."

Für die Kinder konnte es kaum einen fröhlicheren Abschluss geben als den Fackelzug. Hinter der Mandolinen- und Gitarrenkapelle Vater Kodaziks zogen sie, lichtselig ihre Stocklaternen tragend, nach Paradies und sangen: "Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne ... "

Karl Sieffert und dessen Schwester waren zum Sammelplatz gekommen, anstatt der Stocklaternen trug jeder einen riesigen Lampion an einer Stange vor sich her.

Vater Kodazik rügte: "Ihr müsst wieder eine Extrawurst haben."

Die Zwölfjährige sagte zu ihrem jüngeren Bruder: "Komm, Karli, wir können unsern Fackelzug auch allein machen." Der Spielplatz wurde begrenzt durch einen Graben von Spatentiefe, über den Karl Sieffert gestolpert sein musste, denn plötzlich hüpfte sein Griesgram-Mond über die holprige Ackerkrume und stand dann in hellen Flammen.

"Juhu!" schrien die Kinder, Kodazik und seine Helfer hatten Mühe, sie beisammen zu halten, alle wollten hinrennen und löschen.

Am nächsten Nachmittag herrschte beinahe so viel Betrieb auf dem Spielplatz wie zum Erntefest. Die Halbwüchsigen halfen den Budenbesitzern beim Abbauen, die kleineren durchsuchten von den Schaustellern hinterlassene Reste. Hermann Schilz fand eine Schachtel Zündhölzer, und im Nu stellte sich heraus, dass er mehr Freunde besaß, als er je gedacht hatte. Alle kamen mit Vorschlägen, zu welch gänzlich ungefährlichen Feuerchen man die Flammenspender einsetzen könne.

Über die Schulter Hermanns hinweg griff Karl Siefferts Hand. "Die nehme ich in Verwahrung, Zicken-Schilz, ihr macht damit bloß Dummheiten." Schriller Protest der Vorschulraben antwortete, doch Orje Bläsner, zwei Jahre älter als Karl Sieffert, trat dem zur Seite. "Seid mal janz stille, sonst verraten wir, det ihr Paradies anstecken wolltet."

Die Mehrheit der Kleinen drohte, über die Minderheit der Großen herzufallen. Karl Sieffert entwischte aufs Podium und schwenkte triumphierend die Schachtel. Er durfte sich die Herausforderung erlauben, auch Orje Bläsner war aufs Podium gesprungen und drohte: "Wer hier rauf kommt, wird runter jeschmissen!"

Die Abgewiesenen berieten, wie man dem eingebildeten Sieffert einen Denkzettel verabreichen könnte. Fred Pulicke, etwas älter als Rudolf, hatte ein Aststück gefunden, das an einen Bumerang erinnerte. Er drückte es dem Spielgefährten in die Hand. "Sag zum feinen Karl, er soll den Diebstahl rausrücken und denn Leine ziehn. Det Podium is für dein' Vadder jebaut worden, aber nich für Streichholzklauer."

Hoffnung blühte auf, der Einfall begeisterte die Heldenschar.

Am wenigsten begeistert war Rudolf. "Und wenn er nich will?"

"Denn schmeißte ihn mit det Stücke Ast!"

Rudolf schwitzte vor Hinundhergerissen sein. Karlchen war doppelt so alt und groß, zudem hatte er sich noch um einen Meter höher gestellt. Aber mit dem Aststück konnte man womöglich einen umbringen. Der Zaudernde streckte Fred das Wurfholz hin. "Schmeiß du."

Fred stemmte die Fäuste in die Hüften. "Hat nu dein Vater jestern hier'n Jedicht aufjesagt oder meiner?"

"Jawoll. Und du musst seine Ehre retten!" tönte einhellig das Echo.

Rudolf wusste nicht recht, was seines Vaters Ehre mit der Streichholzschachtel zu tun hatte, aber er wusste ja auch noch nicht, dass Kinder manchmal beinahe so demagogisch sein können wie Erwachsene.

"Ach - lass den, der is doch feije. - Mit solch een Feichling spielt doch keener mehr!"

Rudolf wurde zu schwach zum Feigesein und sprang auf das wilde Pferd des bösen Mutes. "Gib die Streichhölzer, Sieffert, sonst sollste mal sehn, was passiert!"

Karlchen warnte: "Untersteh dich, du Knirps."

Welche Schande für einen Knirps, Knirps genannt zu werden. Das knorrige Holz traf Karl Sieffert ins Gesicht. Mit einem Schmerzenslaut ging er in die Knie und hielt die Hand aufs Auge. Wortlos starrten alle auf den stöhnenden Jungen, Rudolf war bleich vor Schreck. Orje Bläsner betrachtete aufmerksam das verwundete Auge. "Wenn er blind wird", brüllte er dem unglücklichen Werfer zu, "bist du schuld!"

Reuevoll starrte Rudolf vor sich hin. Als er wieder aufschaute, stand er allein. In der Ferne verschwanden Orje und Karlchen, der sich führen ließ, als sei er bereits blind. Rudolf merkte erst, dass er heulte, als ihm das salzige Wasser in die Mundwinkel lief. Es ließ sich nicht bremsen, obwohl er es sehr wünschte, denn der Papa sagte immer, ein richtiger Junge weint nicht. Zögernd trat er den Heimweg an.

Verstört erzählte er alles der Mama. Sie hörte zu mit ihrem Blick, der auf den Grund der Seele schaut. Am Ende schluchzte der arme Sünder und barg seinen Kopf an der Brust der Mutter.

Die Mama mit den strengen Grundsätzen streichelte ihrem Jungen das Haar und zog ihn fester an sich. Es war so schön, dass er erst recht heulen musste. "Wenn Karlchen blind wird, möchte ich nicht mehr leben." Es hatte ihn ehrlich gepackt. Die Mama nahm ihn auf den Schoß und wiegte ihn, als sei er noch ein Baby. "Nun, nun, Karlchen wird nicht blind werden. Aber wir werden hingehen."

Zwar schlotterte er bei dieser Forderung, aber es drängte Rudolf auch zu erfahren, ob Karlchen wirklich erblindet sei.

Karlchens Mutter war eine hagere Frau, die hochgebürsteten Haare mit dem Dutt obendrauf verlängerten das ernste Gesicht mit den schmalen, blutleeren Lippen. Sie ließ die Treulichs auf dem Treppenflur stehen, bis Rudolfs Mama alles dargelegt und sich besorgt nach dem Befinden des Verletzten erkundigt hatte. Da bat sie die beiden in den Korridor und sagte: "Karl kühlt mit essigsaurer Tonerde. Der Arzt hat gesagt, das Auge ist unversehrt, verletzt ist das Lid."

"Dürfen wir ihm gute Besserung wünschen und uns bei ihm entschuldigen?" bat Martha Treulich. Wortlos öffnete Frau Sieffert die Stubentür. Karls Gesicht zeigte freudige Verwunderung, der Widersacher kam an seine Lagerstatt.

"Nun, Rudi?" mahnte die Mama.

"Lieber Karl ..." Es fiel Rudolf schwer, aber er zwang sich zu dieser Anrede, die er wiederholte, um hastig fortzufahren: "Es tut mir leid. Ich wollte dir bloß Angst machen. Aber der dumme Knüppel ist so dumm geflogen."

Karlchen bewies Seelengröße. Während er mit der Linken die kühlende Gaze auf das zugeschwollene Auge hielt, winkte er mit der Rechten ab. "Ich glaube doch nicht, dass du mein Auge treffen wolltest."

"Meine Eisenbahn hat zwei Lokomotiven", erklärte Rudolf, von Dankbarkeit hingerissen, "die eine schenke ... "

"Wäre ja noch schöner", fiel ihm Frau Sieffert ins Wort, "reden Sie ihm das aus, Frau Treulich."

Die Mama lenkte rasch ein, "aber wenn Karlchen wieder gesund ist, kann er gern zu uns kommen, und sie spielen eben beide mit der Eisenbahn."

"Mal sehen", antwortete Karlchen, "aber eigentlich spiele ich ja nicht mehr viel mit der Eisenbahn."

"Na gut", sagte die Mama, "Hauptsache, du wirst uns recht schnell wieder gesund." Sie gab Frau Sieffert die Hand. "Bitte, tragen Sie uns nichts nach."

"Nett, dass Sie gekommen sind." Das Lächeln auf dem herben Gesicht Frau Siefferts machte es beinahe schön.

Da von den Siefferts die Rede war, soll jene Episode nicht vergessen sein, bei der das durchlöcherte Markisendach dieser Familie eine Rolle spielt, weiterhin Erich Birnhardt, kurz Ete gerufen, sowie die Entwicklung der Luftfahrt, in besserem Hochdeutsch damals Aviatik genannt. Das mag ungereimt klingen, doch wann ist das Leben schon gereimt.

Bereits im Geburtsjahr Rudolfs war es einem Menschen gelungen, auf Leinwandflügeln und mit knatterndem Motor den Ärmelkanal zu überfliegen. Der Ingenieur Louis Blériot wurde entsprechend gefeiert, kaum weniger als die Brüder Wright, die sich als Erste per Motorkraft in die Luft erhoben hatten. Sie, wie Blériot und eine Anzahl anderer Flugpioniere, wurden berühmt, aber weder sie noch die übrige Menschheit begriffen, dass mit diesem "tollkühnen Sport" nicht nur die Eroberung der Luft, sondern auch die des Weltraums begonnen hatte. Dieses Manko an Voraussicht wurde ausgeglichen durch eine kaum vorstellbare Begeisterungsfähigkeit. Den Tag des ersten "Deutschen Rundflugs" im Sommer 1911 wünschten an die fünfhunderttausend Menschen mitzuerleben. Zu Fuß, per Fahrrad und auch Tandem, mit Kremsern, Kutschen, Droschken und Taxen zogen sie zum Flugplatz. Sonderzüge spien alle fünf Minuten weitere Menschenmassen auf dem Bahnhof Niederschöneweide-Johannisthal aus, Fahrkartenknipser wurden fortgeschwemmt, die Bahnhofsumzäunung niedergewalzt, die Gendarmen verschwanden im Malstrom, der sich in den idyllischen Vorort Johannisthal ergoss, gegen den Bretterzaun des Flugplatzes brandete und dann die umliegende Landschaft überschwemmte, weil der weite Platz bereits von dreihunderttausend früher Aufgestandener besetzt war. Wer das miterlebt hatte, konnte sagen, er habe den Flügelschlag des neuen Jahrhunderts gespürt. Jedenfalls formulierte es Emil Treulich ähnlich, wenn er zum Sohn davon sprach. Denn selbstverständlich hatte der Papa den damals Zweijährigen zum Rundflug nicht mitgenommen, es verbot sich auch, weil die Bahnsdorfer Aviatikbegeisterten zu Fuß nach Johannisthal gepilgert waren.

Im Oktober 1913 kam der Mann ohne Nerven nach Johannisthal, Adolphe Pegoud. Dieser französische Luftikus wurde mit Recht Kunstflieger genannt. Wieder zogen Scharen von Bahnsdorfern nach Johannisthal, und Rudolf durfte wieder nicht mit.

Zurückgekehrt, berichteten die Männer von dem Teufelskerl, der mit seinem Aeroplan einen regelrechten Salto mortale flog, sogar zweimal hintereinander. Emil Treulich stieg auf einen Schemel, und zwei Brettchen aus Zigarrenkistenholz - sonst zum Kastagnettenklappern benutzt - zu einem Kreuz übereinanderliegend, demonstrierte er schwungvoll, wie dieser Pegoud in der Luft zu Hause war. Am tollsten waren ja die Sturzflüge. Wie ein Stein stürzte Pegoud aus der Höhe herab, aber kurz vor der Erde stoppte er und brauste wieder hinauf zu den Wolken. Am aufregendsten war es, als er auf die Tribüne am kaiserlichen Aeroclub zuraste. Ein einziger Schreckensschrei stieg zum Himmel, die Monokelfritzen und ihre Damen mit den Wagenradhüten warfen sich schon zu Boden, da zog Pegoud seine Kiste im letzten Moment hoch, brauste dicht übers Tribünendach hinweg, kam kurz darauf zurück, flog an der Tribüne entlang und winkte in französischer Galanterie, als wolle er den Angstschlotternden zurufen: Haben Sie mehr Vertrauen in meine Flugkunst!

Emil Treulich stieg vom Schemel herab, und damit war die Hauptvorstellung beendet. Doch Rudolf wurde nicht müde, weiterzufragen. Ob der mutige Franzose schneller als eine Lokomotive sei? Mindestens dreimal so schnell, lautete die Antwort, und der Vierjährige hielt sich vor Erstaunen den Mund zu. Auch die Mama hatte Fragen, sie erkundigte sich, wie es wohl komme, dass nun, nach Eroberung der Luft, auch dort wieder nur die Männer das Steuer in der Hand halten. Emil Treulich erinnerte an die vielen Unfälle bei der Fliegerei. Es drohte eine Diskussion über Flugkunst und Frauenrecht, deshalb fragte Rudolf rasch, was der arme Pegoud wohl mache, wenn er mal ganz eilig aufs Töpfchen müsse? Die Eltern lachten herzhaft, die Mama erklärte, solch ein trainierter Mensch wie Monsieur Pegoud habe genug Willenskraft, warten zu können, bis er wieder auf der Erde sei.

Rudolf hätte den Papa weiterhin mit Fragen eingedeckt, doch der Kaffee wurde aufgetragen, und die drei Baugenossen Parkowski, Ardies und Birnhardt erschienen zum sonntäglichen Skat. Gemeinsam hatten sie Pegoud erlebt, sie erzählten begeistert, und Rudolf saß mit offenem Mund. Die eingefleischten Skatbrüder vergaßen vorerst ihr Spiel, und das wollte etwas heißen. Sie bewunderten in Pegoud und seiner Flugkunst das Jahrhundertereignis und ahnten nicht, dass Militaristenhirne bereits planten, die großartige Errungenschaft als Kriegsgerät zu missbrauchen.

Fragte man in diesen Tagen einen Jungen, was er werden wolle, dann lautete die Antwort: Flieger wie Pegoud. Bloßer Wunschträume überdrüssig, begannen die älteren Jungen, ihrem Idol praktisch zu huldigen; sie bastelten Flugzeuge. Mehrere dieser leichten Vögel aus Wurstspeilen und Leinwand baute Ete Birnhardt. Etes Vater war Taxichauffeur. Zu der Zeit waren Pferdedroschken immer noch beliebter als ihre Konkurrenz, die Benzinkutschen, die statt Rossäpfel nur Gestank hinter sich ließen, und wollten sie konkurrieren, mussten sie hübsch blank geputzt sein.

Ob seines Vaters ehrlichem Broterwerb hatte Ete viel Spott auszustehen. Kam er irgendwann auch nur eine Minute zu spät, gleich hieß es: "Musstest wohl Papas Stänkerkiste putzen, wat?" Wollten sie ihn hänseln, riefen ihn Freund und Feind "Putzer".

Übung macht den Meister, und als Neuestes in der Modellbauerei hatte Ete ein wahres Prachtwerk mit einem Gummimotor gebastelt. Immer wieder drängten ihn die Freunde zu Vorführungen. Er hatte schon Blasen an Daumen und Zeigefinger, denn der Propeller der Rumpler-Taube musste so lange gedreht werden, bis die vielen parallel laufenden Gummibänder zu einem hoch gespannten Strick zusammengedreht waren. Stellte man nun die Leichtgewichtige auf den Boden und ließ den Propeller los, dann jagte die Gummispannkraft Etes Taube einige Zentimeter über dem Erdboden dahin.

Ruhm kann lästig werden, bald verkündete Ete, er könne nicht nur Flugzeuge fabrizieren, sondern auch Flugzeugabstürze. Es sprach sich schnell herum. Zur festgesetzten Zeit öffnete sich das Stubenfenster im obersten Stockwerk des erstgebauten Hauses in der Paradiesstraße. Ete hielt die unschuldige Flugtaube zur Ansicht weit aus dem Fenster und verkündete den Beginn des Todesfluges. Lautes Ah und Oh ertönte, die Straße war verstopft von einer quirlenden Kindermenge, erstaunlich, wie viel Gören, trotz propagierten Zweikindersystems, in Paradies vorhanden waren.

Ete stopfte den Pilotensitz voll Watte, tränkte die Watte mit Benzin, entzündete ein Streichholz und warf das Leinenspielwerk mit voller Wucht in die Luft. Hundertstimmiger Schrei ließ jegliches Lebende in der Baugenossenschaft erzittern, wild flüchtete, lief, rannte, raste alles davon, jeder fürchtete, vom brennenden Aeroplan getroffen zu werden. Doch die Angst war umsonst. Zwar flog das Modell erst ein Stück in die Welt hinaus, doch dann kehrte es in elegantem Bogen zum Haus zurück, glitt sanft ein Stück seitwärts und sauste dann im Sturzflug hinab auf Siefferts Markise, die dort als Sommerdach den Vorgarten zierte. Rufe des Entsetzens stiegen zum Himmel. "Ojemine, wenn nu det Haus abbrennt ...!"

Orje Bläsner war wieder einmal zur Stelle und beförderte das qualmende Unglück mit einer Harke zur Erde, wo die stolze Himmelstaube unrühmlich zertreten ward.

Ete kam eilenden Fußes die Treppe hinunter, um Löschdienst zu leisten, aber zu spät, in der Markise gab nun ein Loch mit schwarzem Rand den Blick in den Himmel frei. Frau Birnhardt rief den Sohn zwecks Abstrafung nach oben. Die Freundschaft plädierte lauthals für Freispruch. Dessen ungeachtet bekam Ete vom Vater abends "seine Wamse". Am nächsten Skatabend bei Treulichs erboste sich der rotbäckige Choleriker: "Der Bengel soll mit'm Stabilbaukasten spiel'n, Blech kann wenichstens nich fliejen. Die verdammten Stoppelhopser machen unsre Jungs janz knille."

Für die ersten Luftsprünge bejubelt, wurden die deutschen Aviatiker bald als Stoppelhopser verlacht, denn geraume Zeit kamen sie ins Hintertreffen gegen solch ausländische Flieger-Asse wie Monsieur Pegoud.

Ein Jahr später, als der Krieg begonnen hatte, unterstand das Flugwesen dem Oberkommando des Heeres, und jetzt wurden in Johannisthal Kriegsflieger ausgebildet. In der Sommerzeit gab es in der Umgebung Bahnsdorfs so manche Notlandung. Im Nu sprach sich das jedes Mal herum, und die Jugend rannte zum Ort des Unglücks. Schnell hatten die Kinder mitbekommen, dass eine der Ursachen gebrochene Benzinleitungen waren. "Die müssten eijentlich aus Platin sein", verkündete Fachmann Ete, "det is siebenmal zäher als Kupfer." Er hatte auch den Freunden geraten, nie ohne eine leere Pulle loszurennen, denn beim ersten Mal hätte er blutige Tränen weinen mögen angesichts der Benzintränen, die nutzlos in den märkischen Sand tropften.

Einmal brachte auch Rudolf eine Benzinbeute heim. Der Doppeldecker aus Sperrholz, mit dem schwarzen Eisernen Kreuz auf dem Rumpf, war aufgefallen, weil er mehrmals ins Trudeln kam, was sehr nach Absturz aussah. Im letzten Augenblick hatte sich das Flugzeug gefangen und war kurz vor dem Wald auf einem Stoppelacker gelandet. Als die ersten Schnellläufer bei der Landestelle ankamen, saß der Flieger noch immer im Cockpit und starrte vor sich hin. Auf die besorgten Fragen antwortete er nicht, der Schock schien ihm Verstand und Glieder zu lähmen. Dann gab er sich einen Ruck und kletterte aus dem Pilotensitz. Ein teurer Fuchskragen zierte seine Lederjacke, er zerrte die Pilotenkappe vom Kopf, setzte eine weiche Offiziersmütze auf und klemmte sich ein Monokel vor das rechte Auge. Unwillkürlich trat der Kreis der Gaffer einen Schritt zurück. Der Herr Offizier fragte: "Wo ist das nächste Telefon?" Kinder und Jugendliche schwiegen, doch ein älterer Mann trat ehrerbietig näher und erklärte den günstigsten Weg. Ohne sich zu bedanken, stelzte der Herr davon. Ete Birnhardt fragte in seinem Rücken: "Dürfen wir 'ne Pulle unters troppende Benzin halten?" Der mit dem Fuchskragen drehte sich brüsk um und schnauzte: "Nein!" Volksgemurmel antwortete, und es ließ sich beim besten Willen nicht als freundlich bezeichnen.

Der Notlander war noch gar nicht im Ort verschwunden, da begann sich schon Etes Flasche zu füllen. Ein Knäuel Jungen mit leeren Flaschen drängte sich um ihn, jeder beteuerte, Erster am Flugzeug gewesen zu sein. Rudolf war heftig zurückgeschubst worden und stand sehr am Rande des Geschehens. Ete knipste seine gefüllte Brauseflasche zu und wies auf Rudolf: "Nu kommt erst der Kleene dran, den habt ihr fast dotjetreten!"

"Höh, höh, wer bestimmt denn det?"

"Ick natürlich."

"Hat's dir der Monokelfatzke erlaubt?"

"Erlaubnis hab ick mir selbst erteilt. Und nu erteil ick sie mir noch für'n kleenen Rudi, ihr kriegt ja alle noch, Jungs."

Ete klopfte bestätigend an den Rumpf. "Der hat 'ne Menge Pengzin, der wollte mindestens bis Buxtehude."

Niemand wusste genau, wo Buxtehude liegt, es war bei den Bahnsdorfern ein Begriff für sehr weit. Pengzin sagten sie, wenn es spöttisch klingen sollte, jemand hatte irgendwann behauptet, das Wort Benzin sei französischen Ursprungs.

Gemeinsam trabten Ete und Rudolf nach Hause, am Durchgang zur Nummer elf verabschiedete sich der Kleine vom Großen und versicherte dankbar, er werde dem Papa von Etes Hilfe erzählen.

Ete schwenkte abwehrend den Zeigefinger. "Erstens is dein Papa nich hier; zweetens isser im Krieg; und drittens is et besser, du sagst ihm nischt. Wie ick deinen Papa kenne, gloobt der noch, wir haben det Benzin jeklaut."

Des Kaisers Waisenknabe

Подняться наверх