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Ein Camp, das es nicht geben darf
ОглавлениеNasser Schnee schmatzte unter ihren Gummisohlen. Der kleine, drahtige Wuntram marschierte neben drei anderen in der ersten Reihe. Er marschierte an der Spitze, ohne dass es ihm streitig gemacht worden wäre. Sie schätzten seine unauffällige Tüchtigkeit.
Ein Pfiff gellte und erstarb, als wäre er es müde, die nässliche Luft zu durchdringen. Der Zug auf dem Gleis neben der Straße dampfte langsam davon. Steif und lahm, waren sie eben ausgestiegen, nach dreimal vierundzwanzig Stunden Fahrt durch den halben Kontinent aus der Niederung des Mississippi hinaus in Gebirgsregionen, durch Wälder, Steppen, Riesenfelder und wimmelnde Städte. Unter den missmutigen Flüchen der Posten hatten sie sich zur Kolonne formiert. Sie marschierten ohne Tritt. Die Gespräche tröpfelten schläfrig.
In der zweiten Reihe, neben Walter Bauer, trottete Heinz Hesse, und hinter ihnen kamen Necke, Buschinski, Hellmann, Dieck und alle anderen, die sich vorgenommen hatten, wie in McLoin auch im neuen PW-Camp wieder zur Kompanie Wuntrams zu gehören.
Melancholisch schaute Hesse der kleiner werdenden Wagenschlange nach. Man war also in Massachusetts. Der Name erinnerte an Indianergeschichten. Sanfte Bodenwellen, mit Tannen und Mischwald bestandene Hügel in der Ferne ließen an Deutschland denken. Doch voraus, wohin sich der Heerwurm der achthundert Kriegsgefangenen auf der glitschigen Asphaltstraße bewegte, da lag ein Stück Amerika, wie sie es bis zum Überdruss kannten, eines der tausend Army-Camps, eine kleine Stadt für sich, bis auf wenige Gebäude aus Holz gebaut, auf dem Reißbrett entworfen und wie von Mister Fords Fließband gespuckt. In der Sonne mochten die Baracken weiß strahlen. Der trübe Novembertag gab ihnen die Farbe des grauen Schnees.
"Weihnachten vierundvierzig also in Fort Heaven", nörgelte Necke, "ich lach' mich tot, wenn wir Weihnachten fünfundvierzig auch noch hier sitzen."
Keiner antwortete. Sie nahmen ihm das Gerede übel.
"Seht mal den da", Buschinski wies nach rechts, wahrscheinlich einer von der Army-Zeitung, Stars and Stripes, der unseren glorreichen Einzug filmt."
Fünfzig Schritte entfernt, stand ein amerikanischer Offizier im schnittigen olivfarbenen Wintermantel. Mit einer Schmalfilmkamera visierte er den Zug der Kriegsgefangenen an. Sie konnten das leise Sirren nicht hören, aber sie sahen den Blick des Objektivs ihre Reihen entlangwandern und Bild um Bild schlucken. Irgendwann würden sie nun in Zeitungsspalten erscheinen oder über eine helle Wand marschieren.
Einige PWs winkten. Der Offizier machte eine abweisende Geste, lief auf steifen Beinen ein Stück voraus und wiederholte die Aufnahme.
Aufmerksam äugend, zogen sie in den Ort ein. Trotz des grämlichen Wetters wirkte er sauberer als McLoin mit seinen schwarzen Dachpappebaracken und den Flocken der Fettkohle, die in der Luft tanzten.
Dieck prophezeite: "Auf uns warten Zelte hinter Stacheldraht."
"Antinazilager hinter Stacheldraht?" Hellmann hob die Augenbrauen. "Schlechter Beginn einer besseren Zusammenarbeit."
Sie hatten zwei Kirchen hinter sich gelassen, das Einkaufshaus, die Feuerwehrstation, das Theatergebäude aus rotem Backstein und den villenartigen Offiziersklub; der Ort lichtete sich. Enttäuschtes Murren durchlief die Reihen. Wahrscheinlich würden sie irgendwo in den Hügeln kampieren müssen.
Dieck sah sich ärgerlich um. "Wann begreift ihr endlich. Versprechungen gehören zur Politik der Amis."
Über Wuntrams Nasenwurzel zeigten sich zwei senkrechte Falten. Er entgegnete nichts, presste den schmallippigen Mund fester zusammen.
"Na bitte!" Dieck wandte sich in pessimistischer Genugtuung an Hellmann. Sie marschierten einem hohen Drahtzaun entgegen, der hier und dort von rohgezimmerten Wachtürmen überragt wurde. Das Tor öffnete sich, Posten mit der Aufschrift Military-Police auf dem blauen Ärmelband hatten sich zu beiden Seiten aufgestellt und zählten die Einmarschierenden.
Die Asphaltchaussee setzte sich als Lagerstraße fort. Der vorausmarschierende Sergeant bog rechts ein und auf dem großen Platz neben einer Spielhalle für Basketball hieß es: Seesäcke absetzen. Fluchend trieben die Posten einige PWs zurück, die sich davonstehlen wollten, um in den verlassenen Barackenstraßen Umschau zu halten.
Wuntram wurde in die Halle gerufen, dann Buschinski und Kressert, die beide ebenfalls gut englisch sprachen.
Hellmann betrachtete die Baracken, sein Optimismus schien berechtigt. "Wenigstens keine Zelte."
"Und den Stacheldraht siehst du nicht, wenn du nicht hinschaust", höhnte Dieck.
Die ersten dreihundert PWs durften im Gänsemarsch in die Sporthalle. Auf dem hohen Podest an der Rückfront trauerte ein schwarzes Klavier. Die PWs standen in Gruppen herum oder hockten auf ihren Seesäcken. Der aufsichtführende Captain gab sich leutselig. Bald wussten alle, er heiße Shelter, sei der Recreations-Officer und werde also für die Lagerkultur und die Kantine verantwortlich sein. Er war groß und rotblond. Unter den farblosen Augenbrauen blitzten pfiffige Augen in einem breitflächigen Gesicht. Betriebsam kamen und gingen GIs, Corporals und Sergeants, übergaben Shelter Zettel und Listen. Alle trugen den Schlips unter dem zweiten Knopf in die sauber gebügelten Kakihemden gesteckt. Verdrossen warteten die PWs. Unvermittelt rief jemand: "Los, Manne - hau mal in die Tasten!"
Manfred Schlitt, ehemals Schauspieler am Stadttheater Magdeburg, schaute fragend zu dem Captain hin. Der nickte gnädig. Schlitt stellte seinen Seesack ans Klavier. Ehe er sich setzte, reckte er sich in selbstironischer Künstlerpose und warf die blonden Haare zurück. Dann entlockte er dem schwarzen Kasten die Rhythmen des Chattanooga-chu-chu. Dankbar für die Abwechslung, applaudierten und pfiffen die PWs. Auch der Captain klatschte. Unermüdlich hämmerte Schlitt amerikanische Schlager. In der Halle schien es wärmer und heller geworden zu sein.
"Jazzt wie ein junger Gott und kann keine Note", sagte Hellmann zu Bauer und Hesse. Hellmann drängte sich zum Podest. Hesse blickte ihm nach. "Typisch Schauspieler - Neid verpacken sie in Lob."
Bauer sah Hesse nicht an. "Ein bisschen sehr verallgemeinert, hm?"
Hesse wurde kratzbürstig. "Hellmann geht mir auf die Nerven. Auf der Bühne spielt er besser als im Leben."
Bauers Lächeln ließ die vom zu wenigen Schlaf geröteten Lidern über den hellen Augen, die strengen Linien seines Gesichts vergessen. "Du selbst hast mir erzählt, was er im Camp Grobber unter den Nazis ausgestanden hat."
"Mehr aus Dummheit und Schwatzsucht."
"Andere sprechen zu wenig."
"Fängst du schon wieder an?" Trotz spiegelte sich im Gesicht Hesses. Er beugte sich nieder und zurrte eigensinnig die Schnur seines Seesacks fester.
Bauer blieb beharrlich. "Ich wette um eine Stange Camel, dass dir irgendetwas passiert ist, womit du nicht fertig wirst."
"Achtung!" rief Wuntram, und die PWs in der Halle nahmen Haltung an. Durch die Seitentür in der Nähe des Podiums war ein Oberst eingetreten. Die PWs erkannten in ihm jenen Offizier mit dem Filmapparat. Captain Shelter machte Meldung, dann wandte er sich an die PWs, Camp-Commander Colonel Stircke wolle sie begrüßen.
Der Oberst las bedächtig vom Blatt. Wuntram übersetzte. Stircke drückte die Überzeugung aus, dass sie sich um eine gute Zusammenarbeit bemühen würden, denn "good will" erzeuge "good feeling". Wohlmeinend erläuterte er, dass er alle PWs als deutsche Soldaten betrachte und demgemäß Disziplin und soldatischen Gehorsam erwarte. Bei der Abreise von McLoin, Mississippi, sei ja wohl darauf hingewiesen worden, dass hier im Nordosten der Vereinigten Staaten ein neues Lager aufgebaut werde, und deshalb sei alles noch ein wenig provisorisch. Sicherlich hätten sich schon die meisten für bestimmte Kompaniesprecher entschieden, deren endgültige Wahl in demokratischer Abstimmung erfolgen werde.
Nun beginnt der Wirbel des Lageraufbaus, dachte Bauer, und da werden Wochen vergehen, bis ich mit Hesse wieder einmal in Ruhe reden kann. Wenn mich nicht alles täuscht, hängt seine flaue Stimmung mit der Quetschmühle zusammen. Von dort ist er nach McLoin gekommen. Schorsch Buschinski hat mir von diesem Fragelager bei Washington erzählt. Aber Hesse spricht nicht darüber. Schade, es würde ihm helfen - bestimmt könnten wir ihm helfen.
Hesse mochte Bauer, doch dessen väterliche Art reizte ihn immer wieder. Die Bemerkung des Älteren führte Hesses Gedanken weit fort von der Ansprache des Colonels. Wenn ich reden würde, dann nur mit Bauer. Aber ich kann es nicht. Ich wäre für ihn erledigt. Er hält etwas von mir. Das ist so seit damals auf dem Truppenübungsplatz Heuberg. Bauer hat einen guten Riecher, und er hat schnell gespürt, dass mich nichts so ankotzt wie Arschkriecherei, wozu einzige Söhne gut situierter Eltern oft neigen. Bauers Offenheit hat mich überrannt. Was ich mir unter einem Kommunisten vorgestellt habe, trifft auf ihn nicht zu. - An die schrecklichen Untermenschen, wie die Nazis sie malten, wollte ich nie so recht glauben, eher Papas Darstellung. Kommunisten sind Radaubrüder ohne Bildung und voller Neid auf alle Bessergestellten, sagte er. Der alte Herr war objektiv. Den Dimitroff nannte er einen tollen Kerl, dem kein Nazi das Wasser reichen könnte. Das war Ende dreiunddreißig beim Reichstagsbrandprozess, und Papa glaubte, ich hörte es nicht. Gerade deshalb sperrte ich die Ohren auf, obwohl ich kaum vierzehn Jahre alt war und kurz vor der Konfirmation stand. Leider wäre Dimitroff eine Ausnahme, stellte der alte Herr fest. Auf dem Heuberg lernte ich in Bauer, die zweite Ausnahme kennen, durch ihn dann noch mehr. Es war bestürzend. Ich glaubte, die Ausnahmen wären längst tot, die Radaubrüder alle umgefallen. Aber neun Jahre nach der Machtübernahme erlebte ich sie konzentriert in unserem Haufen, wobei es ein offenes Geheimnis war, dass es sich hier um eine Strafdivision handelte. Zwar gab es unter ihnen viele, die mich abstießen. Aber ihre gemeinsame Uneigennützigkeit inmitten von Korruption, Heuchelei und Selbstsucht beeindruckte mich. Abschreckend ist nur immer wieder ihre Sturheit. Darin gleicht Bauer allen seinen Genossen. Deshalb werde ich ihm nichts von Eliza erzählen, auch nichts von Mallecks blutbesudelten Pfoten und von meiner Feigheit.
Ein Kommando Wuntrams unterbrach Hesses Grübeln. Der Colonel hatte seine Ansprache beendet. Die ersten dreihundert zogen aus der Halle und an Kressert vorbei, der jedem einen Zettel mit der Barackennummer in die Hand drückte. Draußen standen schon GIs zum Filzen bereit. Jeder PW musste seine Habseligkeiten auf der Erde ausbreiten. Die GIs achteten besonders darauf, dass alle Kleidungsstücke mit einem großen PW in Ölfarbe versehen waren. Dann schnüffelten sie noch nach "Armee-Eigentum" und verbotenem Schriftwerk.
Schadenfroh beobachtete Hesse, wie Hellmann vor einem GI von einem Bein aufs andere trat. Der Soldier mit dem brandroten Haar betrachtete ein Päckchen Postkarten und grinste genüsslich. Endlich schob er die Karten in die Tasche und erklärte ernsthaft: "Pornografie - verboten!"
Hellmann murmelte etwas von persönlichem Eigentum. "
Kannst es ja im Headquarter zurückfordern", frotzelte ihn der GI. Dann trat er zu Hesse. Er schien etwas vom Gesetz der Serie zu halten und forschte augenscheinlich nach Ähnlichem. Als er sich getäuscht sah, wandte er sich fluchend dem Nächsten zu.
Bedauernd rügte Necke den Gefledderten: "Weshalb versteckst du die nackten Weiber nicht besser, wenn du sie schon mit dir herumschleppst."
"Ich hab' sie bei der Kapitulation aus dem Chausseegraben aufgelesen", klagte Hellmann, "und überall durchgebracht, selbst in McLoin, wo wir uns zum Filzen nackend ausziehen mussten."
"Dachtest in Fort Heaven ist so etwas erlaubt?" rief Hesse spöttisch.
Hellmann nahm die Frage ernst. "Sie waren hochkünstlerisch und kein bisschen obszön."
Dieck, bei dem nie jemals Armee-Eigentum oder Pornografie zu finden sein würden, räsonierte: "Immer wieder schmieren sie uns den Hitlersoldaten aufs Butterbrot. Glauben sie, Antifaschisten können keine Ordnung und Disziplin halten?"
Die ständige Krittelei Diecks reizte Hesse, und in bewusst belehrendem Ton erinnerte er an allzu Bekanntes. "Antifaschistenlager gibt es in Amerika nicht, weil zu befürchten ist, es würde Vergeltungsmaßnahmen gegen gefangene US·Soldaten in Hitlerdeutschland auslösen."
"Die Nazis vergelten mit und ohne Angst der Army-Bürokratie, knurrte Dieck.
"Es ist aber besser so für unsere Angehörigen", fand Hellmann. "Die hätten nichts zu lachen, wenn die Braunen wüssten, wir sind in einem Antinazilager."
Erwartungsvoll zogen sie in die angewiesenen Baracken. Unzufrieden waren die PWs, die ein Oberbett bekamen, weil in deren Nähe die Warmluft der Heizung ausströmte und sie ständig in einer Heißluftdusche badeten.
Die haben Sorgen, ärgerte sich Hesse. Es wurde ihm bewusst, und er entschuldigte sich vor sich selbst: Dafür habe ich auch nur knapp einen Meter Lebensraum über mir. Der Himmel meiner Schlafstelle besteht aus den Bodenbrettern des oberen Bettes. Das scheint mir symbolisch. In den anderthalb Jahren ist alles zusammengerutscht. Der erste Tag in amerikanischer Gefangenschaft ist Bestätigung der Wirklichkeit gewesen, wie ich sie erhofft habe - eigentlich noch schöner. Bauer weiß von alldem nichts, aber er ahnt etwas. Er sähe es mit seinen Augen, deshalb versteht er mich nicht. Würde es überhaupt einer von seinen Genossen begreifen? Hesse lauschte auf die plötzliche Stille in dem Holzbau. Lärmend und emsig wie die Ameisen, hatten sie von der Baracke, von ihren Schlafstellen Besitz ergriffen. Jetzt waren sie unterwegs, um die Lage zu peilen. Wo findet sich Holz, dass man sich ein Schränkchen, einen Hocker zimmern kann? Wie sind die Freunde untergebracht? Wo sind die Waschräume? Hesse war es recht, dass ihn das kalt ließ. In sich versunken, hockte er und hing seinen Erinnerungen nach. Erinnerungen können zäh sein wie Kletten. Erinnerungen können quälen, bis sie eingeordnet sind in die berühmte Kausalkette. Dieses Monstrum Amerika wird für mich immer unbegreiflicher. Ist es meine Schuld? Der unwahrscheinliche Anfang der Gefangenschaft ist doch Wahrheit, und ich kann ihn mir nicht oft genug ins Gedächtnis rufen, will ich nicht wie ein Lügner vor mir selbst dastehen. Ich sehe mich noch in der afrikanischen Sonne unter den freundlichen Amerikanern. Der verwundete Sergeant Hampstead befindet sich bereits auf dem Transport ins Feldhospital. Das Notwendige ist getan, jede Abwechslung ist willkommen. Die GIs haben etwas Unerhörtes erlebt. Ein Kraut hat ihren Sergeant niedergeschossen, doch ein zweiter Kraut ist in amerikanische Gefangenschaft gegangen, um das Leben des Sergeanten zu retten. Deshalb überschütten sie Hesse mit ihrem Dank. Die wenigsten führen diesen Krieg aus Begeisterung. Es ist kein smartes Geschäft, auf Menschen zu schießen. Da ist es wohltuend, einem, der es verdient, menschlich gegenübertreten zu können.
Hesse badet sich in der Welle der Sympathie. Er ist einer düsteren Welt entstiegen und in den hellen Tag getreten. Freie Menschen umgeben ihn, Bürger in Uniform, die keine Hemmungen haben, einen Feind zu feiern, weil er als Mensch gehandelt hat. Hesse muss an einen Freund Bauers denken, der erzählt hat, wie ihm zumute gewesen, als er zum ersten Mal den Boden der Sowjetunion betreten hat. Hesse ist überzeugt, das eigene Erlebnis ist größer. Er verachtet Diktaturen. Amerika ist das Land seines Ideals. Und nun empfangen ihn dessen Menschen jubelnd, obwohl er in der verhassten Uniform vor ihnen steht. Das ist amerikanische Größe.
Sie bringen Hesse zu einer geschützten Mulde, wo die kleine Einheit in Zelten haust. Im Zelt Captain Lawsons muss er den Hergang noch einmal erzählen. Die Blicke der GIs hängen an seinem Munde. Sie bewirten ihn mit sagenhaften Dingen wie Bananen, Grapefruits, Schokolade. Manche fragen in einem singenden Amerikanisch, das Hesse kaum versteht. Lawson übersetzt es in sauberes Oxford-Englisch. Schließlich schickt er die GIs hinaus. Er gießt Hesses Trinkbecher voll Kaffee, lehnt sich in seinen Feldsessel zurück und schaut den jungen Deutschen wohlwollend an. "Hatten Sie keine Angst, bei der Rettung Sergeant Hampsteads das Leben zu verlieren?"
Hesse muss überlegen: Hatte ich Angst? Gewiss, um das Leben des Sergeanten. Aber der Captain meint die andere Angst. Hesse hat so viel Heldenkult hinter sich, dass ihn Heroismus anwidert. "Ich hatte Angst - aber bei derartigen Verwundungen darf nicht lange gezögert werden."
Das Gesicht des Captains wird nachdenklich. Der große, stattliche Mann mag eine kleine Fabrik haben. Hesse stellt sich vor, wie Lawson seinen Arbeitern bestimmt und freundlich Anweisungen gibt. Doch dies ist nur ein Gedankenschatten. Viel stärker beschäftigt Hesse die Schandtat Mallecks. Bisher ist keine Zeit gewesen, darüber nachzudenken. Jetzt brodelt das Erlebte in Hesse auf. Er hofft inbrünstig, der Sergeant möge durchkommen. Aber wie auch immer, Malleck ist ein Mörder. Was er dem Sergeanten angetan, hat er Deutschland angetan. Er ist schuldig vor amerikanischen und deutschen Richtern. Sonst wären alle Konventionen fauler Zauber. Zum Glück ist Amerika ein demokratischer Rechtsstaat. Ich werde dem Captain vorschlagen, ein Protokoll über den Hergang ...
In seine Überlegungen fällt die sachliche Stimme Lawsons. "Hätten alle Kameraden Ihrer Einheit so gehandelt?"
Als habe er meine Gedanken erraten, huscht es Hesse durch den Kopf. Auch die deutschen Soldaten stehen bereits in einem Ruf, dass er meine selbstverständliche Handlungsweise als wunder was betrachtet. Hesse bemüht sich ebenso sachlich dagegen zu fragen:
"Sie wissen, dass die Afrika-Schützendivision neunhundertneunundneunzig eine Strafeinheit ist?"
"I know."
"Von den politischen Neunhundertneunundneunzigern hätten wohl die meisten so gehandelt, von den Stammleuten die wenigsten."
"Sie sagen das, obwohl Sie selbst zur Stammmannschaft gehörten?"
"Ich versuche zu sagen, wie es ist." Hesse glaubt einen Augenblick eine Unmutsfalte auf der Stirn Lawsons wahrzunehmen, doch kann es auch ein Irrtum sein, weil der Captain freundlich fragt:
"Wie würden Sie einem Amerikaner erklären, dass Sie - hm - gewissermaßen eine Ausnahme unter den Stammleuten sind, eigentlich kein richtiger Hitlersoldat?"
Die Menschen denken in Kategorien, überlegt Hesse, und da muss denen hier mein Verhalten schwer begreiflich sein. "Ich glaube, es liegt an meiner Erziehung."
"Sind nicht alle Menschen in Ihrem Alter von der Hitlerjugend erzogen?"
"Einige blieben dagegen gefeit, es kam auf die Eltern an. Mein Vater hat nie seine humanistischen Ideale über Bord geworfen. Gekämpft gegen Hitler hat er nicht. Wir haben uns geduckt und nur mitgemacht, wenn es nicht anders ging, im Übrigen unser Familienleben gelebt. Wenn Sie wollen, eine Art innere Emigration."
"So etwas gibt es in Hitlerdeutschland?"
"Ich möchte glauben, darüber ist auch in Ihren Publikationen zu lesen."
Zum ersten Mal lächelt der Captain ein wenig ironisch. "Aber es dämpft die Kampfbegeisterung unserer Soldaten."
Er hat recht, denkt Hesse, von seinem Standpunkt aus hat er recht. Dennoch ist es schade, dass er es sagt und wie er es sagt. Aber er ist als Offizier verantwortlich für das Leben seiner Soldaten. Übergangslos sagt Hesse: "Wenigstens versucht die Army, mit ihren Flugblättern das Gewissen jener Deutschen zu erreichen, die vom Nazismus noch nicht völlig umnebelt sind."
Wieder ist da Lawsons kleines ironisches Lächeln, als er erwidert: "Allerdings mit geringem Erfolg."
"Unserem Kompanieführer waren es noch viel zu viele, die sich aus dem Staube machten."
Der Captain schaut Hesse nicht an, als er mit bitterem Unterton murmelt: "Außer Ihnen ist zu uns noch keiner gekommen."
Die Verwundung des Sergeanten geht ihm sehr zu Herzen, denkt Hesse. Endlich scheint der rechte Augenblick da zu sein, und er fragt: "Sollte man nicht ein Protokoll machen, Sir? Gefangenenerschießung verstößt nicht nur gegen die Genfer Konvention, sondern gegen alle menschlichen Regeln überhaupt."
Der Captain nickt, ein wenig zu schnell. "Selbstverständlich - beim Regiment. Morgen fahre ich nach hinten und nehme Sie mit."
Hesse schwebt die Entgegnung auf der Zunge, ob nicht wenigstens ein Kurzprotokoll ... ," da gießt Lawson den Rest des Kaffees in Hesses Trinkbecher und ermuntert: "Trinken Sie - inzwischen werde ich für Sie ein Zelt anweisen."
Im Zelt liegen saubere Wolldecken auf dem Feldbett und drei "Rations", jene Schachteln in Paraffinverpackung, die selbst lange im Wasser liegen können, ohne zu verderben. Ihr verschiedener Inhalt ist als Morgen-, Mittag- und Abendmahlzeit eingerichtet. Ein Soldat mag monatelang von nichts anderem leben, er wird dennoch keine Mangelkrankheiten bekommen. Welch ein Unterschied zum Kommissfraß der Wehrmacht. Wie viel Gauner haben sich erst ihren Teil genommen, ehe Margarine, Käse oder Wurst in die Hände des Landsers gelangt sind. Betrug mit den "Rations" ist unmöglich, jeder GI würde eine angebrochene Schachtel entrüstet zurückweisen.
Schlafen kann Hesse noch nicht. Ständig stehlen sich GIs in sein Zelt, um ihm etwas zuzustecken und sich mit ihm zu unterhalten. Sie sprechen wie mit ihresgleichen, sind erstaunlich sorglos und alle fest davon überzeugt, dass sie kurz vor dem Sieg in Afrika stehen. Am stärksten beeindruckt Hesse der legere Ton der GIs gegenüber den Offizieren. Seine Sympathie für Amerika wird zur Bewunderung.
Am nächsten Nachmittag bremst ein Jeep vor dem Zelt Captain Lawsons. Hesse steigt ein. Die Soldiers stehen herum. Späße und Segenswünsche fallen wie Sonnenregen auf ihn nieder. Lawson kommt, der Jeep jagt davon. Die Zurückbleibenden winken, bis Hesse ihren Blicken entschwunden ist.
Der Jeep hopst über das Gelände. Der Fahrer lacht, seine Zähne blitzen in der Sonne. Ein Gespräch ist schwierig. Hesse fragt den Captain, ob es möglich sei, Sergeant Hampstead im Lazarett zu besuchen. Lawson nickt. Endlich kommen sie auf einen Weg, von dort auf eine richtige Chaussee, und nun jagt der Fahrer den Jeep bis an die Grenze seiner Tourenzahl. Hesse hält sich fest, dass ihm die Hände schmerzen.
Am späten Nachmittag stoppen sie vor dem Hospital, eine kleine Zeltstadt für sich. Der Captain erfragt Zelt- und Bettnummer Hampsteads. Eine Frau in Schwesterntracht tritt ihnen entgegen, in den Händen einen Umschlag mit Papieren. Sie spricht leise. Der Sergeant sei kurz nach der Ankunft operiert worden, die Krise nach der Bluttransfusion habe er nicht überstanden. Sie habe ihm die Augen zugedrückt.
Wie abwesend steckt Lawson die Papiere Hampsteads ein. Captain und PW stehen mit eng gewordenen Kehlen vor dem Toten unter dem weißen Laken. Lawson nimmt das Schiffchen vom Kopf, seine Lippen bewegen sich, er scheint zu beten. Unwillkürlich blickt auch Hesse zu Boden und faltet die Hände. Er sieht nicht den ersten Toten in diesem Krieg. Der Tod dieses Mannes unter der Leinendecke ist der Gipfel des Sinnlosen. Wenn im Bataillonsstab der absurde Befehl nicht gegeben worden wäre … Wenn Hampstead am Scherenfernrohr nicht allein gewesen wäre … Wenn den Stoßtrupp nicht der beförderungssüchtige Unteroffizier Malleck angeführt hätte ...
Alle Wenn und Aber machen den unter dem Laken nicht lebendig.
Lawson bekreuzigt sich, wendet sich vom Bett und erklärt der Schwester flüsternd, er werde veranlassen, dass der Sergeant mit allen militärischen Ehren beigesetzt werde. Schweigend klettern sie wieder in den Jeep. Hesse beneidet Lawson nicht. Der muss nun einen Brief schreiben. Wie wird er ihn abfassen? Sachlich-amtlich oder menschlich? Schrecken und Schmerz der Familie kann er nicht aufheben, und schriebe er mit biblischer Sprachgewalt. Gehen dem Captain ähnliche Gedanken durch den Kopf? Er zieht die Papiere Hampsteads heraus und blättert darin. Hesse schaut ihm über die Schulter und sieht, der Sergeant ist verheiratet gewesen. Wie wird es die Frau tragen? Hesse versucht sie sich vorzustellen, während er die Heimatanschrift Hampsteads liest. Sinnend schlägt Lawson die Seiten um, Hesse kann nicht mehr sehen, ob Hampstead Kinder hat.
Bald darauf steigen sie vor dem Regimentsstab aus. Er ist in einer weißen Villa untergebracht, die mitten in einem gepflegten Park liegt. Wahrscheinlich der Herrensitz eines reichen Pflanzers. Hesse muss beim Wachhabenden in einer Art Pförtnerzimmer des Souterrains warten.
Hesse muss lange warten. Wer und was ist dieser Sergeant gewesen? Trifft sein Tod eine arme oder eine reiche Familie? Würde er Boston kennen, die Gegend, in der die Hampsteads wohnen, ließe sich ungefähr ihre soziale Stellung herleiten. Einen Augenblick ist Verwunderung in Hesse, dass ihn das Schicksal des toten Sergeanten stärker berührt als das einiger gefallener Kameraden. Ist es, weil ich hier nichts anderes tun kann als grübeln? Sie sind den sogenannten Soldatentod gestorben. Hampstead ist als Gefangener niedergeschossen worden. Ich habe es nicht verhindern können, ich habe ihn zu retten versucht. Weshalb quält es mich trotzdem? Könnte ich nach Boston, ich würde es seiner Frau sagen. Würde es ihr helfen?
Am späten Abend kommt ein GI mit der Armbinde der Military-Police und winkt, Hesse solle ihm folgen. Wieder fahren sie über glatten Asphalt nach Westen. Zur Vernehmung, glaubt Hesse und findet, Lawson hätte wenigstens noch einmal hereinschauen können. Fröstelnd drückt sich Hesse in die Ecke des Jeeps. Die Hitze ist umgeschlagen in Kühle. Die Luft scheint dünn und klarsichtig. Gelb hängt der Mond über dem Horizont, groß wie in der Heimat. Die Silhouette einer größeren Stadt wird immer deutlicher. Ist es Constantine? Dann wären sie schon in Algerien. Die Stadt liegt auf einem Hügel und wächst höher und höher aus der Ebene. Filigran der Türme und Minarette. Unverhofft dort oben der Aquädukt wie ein zu kühn erdachter Scherenschnitt. Es ist so märchenhaft, denkt Hesse, dass ich begeistert wäre, wüsste ich, wohin es geht. Er fragt den Posten. Der sitzt, das Gewehr zwischen den Knien, und zeigt deutlich, dass er nicht wünscht, angesprochen zu werden. "I don't know", ich weiß nicht, brummt er.
Es ist schon Nacht, da wird Hesse in einer Baracke abgeliefert.
Der wachhabende Master-Sergeant ist um keinen Deut zugänglicher als der Posten im Jeep. Telefonisch beordert er einen GI herbei. Der setzt sich mürrisch an die Schreibmaschine und spannt den vorgedruckten Personalbogen für alle PWs ein. Hesse spricht englisch. Die beiden scheinen ein wenig freundlicher, da alles so schnell und glatt geht. Dann muss Hesse seine Fingerabdrücke in die vorgeschriebenen Felder setzen, und für Hesses Bravheit erklärt der Master-Sergeant, in den Staaten werde alles noch einmal geprüft und eventuell vervollständigt.
Er habe eine wichtige Aussage zu machen, erwidert Hesse. Der Master-Sergeant telefoniert schon nach einem Posten und nickt. "Okay, Boy - hinterm Atlantik wird man darüber erfreut sein."
Der Posten führt Hesse durch ein riesiges Zeltlager und übergibt ihn einem deutschen Oberleutnant. Verschlafen stellt auch der die üblichen Fragen. Als er Division 999 hört, rümpft er die Nase. Hesse verzichtet darauf, zu betonen, dass er zur Stammmannschaft gehört hat. Ein Gefreiter im Braungelb der Uniform des Afrikakorps bringt ihn zu einem Viermannzelt. Die drei schlafenden Insassen grunzen ärgerlich, als sie zusammenrücken müssen.
In den nächsten Tagen hat Hesse Zeit, viel Zeit zum Nachdenken. Nach dem nächtlichen Erlebnis mit dem Master-Sergeant scheint es unsinnig, noch einmal auf eine Vernehmung zu dringen. Bisher hat er geglaubt, die Amerikaner würden darauf brennen, so viel wie möglich von den Gefangenen zu erfahren. Warum nun das Entgegengesetzte? Es muss einer ein besonderes Interesse daran haben. Langsam setzt sich in Hesse die Gewissheit fest, dass es Lawson ist. Hesses Aussagen würden dem Captain als verantwortlichem Offizier der Einheit auf der Bergkuppe Unannehmlichkeiten schaffen. Es käme dabei heraus, dass es dort oben mehr schlampig als vorschriftsmäßig zugegangen ist. Deshalb hat sich Captain Lawson nicht mehr blicken lassen. Er hat einen unbequemen Mann abgeschoben.
Innerhalb des Zeltlagers führen die deutschen Offiziere das Kommando. Zwei Tage nach Hesses Ankunft werden sie in ein Offizierslager gebracht und übergeben ihre Macht den unteren Chargen, vom Stabsfeldwebel abwärts bis zum Unteroffizier. Innerlich friert Hesse und möchte es nicht wahrhaben: Die deutsche Barrashierarchie bleibt unversehrt - auch in der Gefangenschaft.
Es kommen die Tage der Kapitulation des Afrikakorps. Einige Zeit lang behaupten die Nazis im Lager: Ammenmärchen der Amerikaner als Rache für eine mächtige Schlappe, die sie bei Tunis durch eine eingeflogene deutsche Heeresgruppe erlitten haben. Als dann die Wahrheit hartnäckig ins Lager sickert, ziehen sich die Lügenmeister auf die Weisheit zurück: Noch ist nicht aller Tage Abend. Wir holen uns alles wieder - auch Afrika.
Kurze Zeit nach der Kapitulation bringen lange Konvois schneller Dreiachser die Gefangenen in die Nähe der Küste, um für die Massen neuer Gefangener Platz zu machen, und Hesse landet im Lager IX bei Oran ...
Die mit Gaze bespannten Zwischentüren der Baracke klappten, Kameraden kamen von ihren Erkundungsgängen zurück, tauschten ihre Meinungen aus.
Lager neun bei Oran ... Hesse versuchte, den Albdruck: fortzuschieben. Aufmerksam schaute er Knospe zu, dem Kameraden mit der Schlafstelle rechts neben Hesse. Knospe hatte mehrere Bretter mitgebracht, maß und rechnete mithilfe eines 30-Zentimeter-Lineals. Sie kannten sich seit McLoin. Knospe war wortkarg. Ohne sein Hantieren zu unterbrechen, bemerkte er: "Wenn erst Küchen und Kantine mehr Holz bringen, baue ich dir auch ein Schränkchen."
"Fein", sagte Hesse und hütete sich, von Gegenleistungen zu sprechen. Derartiges bezeichnete Knospe als "unnötiges Gelabere".
Am nächsten Tag wurden die Kompanien A bis H gebildet und in den Compounds I, II und III untergebracht. Jedes Compound war ein Cage, ein Käfig für sich, die Verbindungstüren zwischen den Compounds blieben geöffnet.