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Wer die Wahl hat ...

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Darüber schreib' ich 'ne Szene, eine ganz bittere Szene, sage ich euch!"

Erschrocken schauten Kuhn und Hesse auf. Unbekümmert schimpfte Ede weiter, hinter seinen Brillengläsern sprühten die Augen eines furchtbar beleidigten Menschen. "Die Arschkriecher, diese Yes-Men mit ihrem Herrn Feldwebel, hätten wir in die Ecke gequetscht, Rache für ihre Schweinereien in McLoin genommen, und was ist nun?" Ede zerrte einen Stuhl aus einer Ecke und ließ sich darauffallen.

Choleriker sollte man sein, dachte Hesse. Er versuchte seiner Stimme einen ironischen Klang zu geben. "Wein dich ruhig aus."

Misstrauisch äugte Ede durch die Brillengläser. "Nun braucht bloß noch einer mit der Plattheit take it easy zu kommen."

"Wir nehmen es nicht leichter als du", knurrte Kuhn, "haben nur nicht dein Talent, daraus einen Auftritt zu machen."

"Einen Auftritt habe ich mit dem Suling gehabt", klagte Ede. "Als ich den frage, ob er weiß, wann die Semmel kommt, sagt er, der Captain habe andere Sorgen, als sich dauernd mit den Kinkerlitzchen der Theatergruppe zu befassen. Dafür ist jetzt Trailshag da, und wenn erst Klee gegen die zersplitterten Linken gewonnen habe, wäre sowieso Schluss mit dem Theaterrummel. Begreift ihr, was da in mir vorgegangen ist?"

"Hoffentlich hast du dich zu keiner Dummheit hinreißen lassen?" forschte Kuhn.

"Noch nie habe ich mich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten derartig begrenzt", gestand Ede, "trotzdem überlege ich, ob es nicht heilsamer gewesen wäre, den Ganoven über den Ladentisch zu ziehen."

Kuhn war ehrlich erleichtert und wurde fast beredsam. "Es wäre ein ungünstiger Wahlauftakt für uns geworden. Die Yes-Men hätten über kommunistischen Terror gezetert, und du wärst ins Guardhouse marschiert."

"Lauscht mal rum in den Baracken", schimpfte Ede, "die Indifferenten wählen Klee - weil die Linken sich nicht einig sein können."

"Sie haben ja recht", sagte Hesse.

"Von ihrem Standpunkt", gab Ede zu, "was kümmern die sich um Probleme und Prinzipien. Die wollen fertige Lösungen. Und wenn wir das nicht schaffen, dann ... "

"Das nützt jetzt alles nichts", entgegnete Kuhn, "wir müssen uns eben noch mehr anstrengen, dass Wuntram durchkommt."

"Willst du Propaganda machen gegen einen Kumpel wie Zecke?" erkundigte sich Ede giftig.

"Er ist doch selbst daran schuld!" Es war leise geschrien und zeigte Hesses Enttäuschung und Zorn.

"Unsinn." Kuhns Miene wurde streng, wie Hesse sie bisher nicht gesehen hatte. "Wir müssen Klee als das charakterisieren, was er ist, und dann sagen, deshalb wählen wir Wuntram. Zecke wird überhaupt nicht erwähnt."

Ede sprang auf und schlug Kuhn auf die Schulter. "Genau! Dieser Suling hat mich bloß so aus der Fassung gebracht. Einige Gedanken ... ", er kramte nervös in allen Taschen und brachte einen Zettel hervor, "ein paar Gedanken über Wahlplakate hatte ich mir schon gemacht." Mit dem Blick auf den Zettel las er vor: "Wer will unter die Soldaten? - Der wähle Klee!"

"Feine Idee", meinte Kuhn, "es wäre nur zu überlegen, ob es nicht besser formuliert wäre: Wer will wieder ... "

Nachdenklich wiegte Ede den Kopf. "Hm, damit zerstörst du aber, worauf der Witz der Sache beruht - der bekannte Liedanfang."

Ede hat recht, dachte Hesse, auch ohne das "wieder" weiß jeder, wie es gemeint ist. In Kuhn steckt ein Stück Schulmeister. Doch er sagte nichts und presste die Lippen aufeinander.

Ede las die nächsten Zeilen vor: "Kadavergehorsam oder Selbstdisziplin; strammstehen oder denken; Zwölfender Klee wählen oder den Kameraden Wuntram?" Arglos wandte sich Ede zu Hesse. "Was hältst du davon, Kronsohn?"

"Gar nichts", zischte Hesse, "nichts - nichts – nichts. Wenn schon die klugen Strategen solchen Mist machen, was wollt ihr dann von mir verlangen? Eure Phrasen sind für die Katz!" Hesse war aufgesprungen und ans Fenster gegangen. Sie sollten sein Gesicht nicht sehen. Er fühlte, dass es weiß war. Er vermochte nicht mehr, auch das noch zu schlucken. Was wussten die von seinen Erlebnissen, von seinen zertrümmerten Idealen?

Hinter ihm war betroffenes Schweigen. Dann räusperte sich Ede. "Lass dich bloß nicht vom Stacheldrahtkoller unterkriegen, Kleiner.

Edes Mitleid war unerträglich. Für alles glaubten sie ein Heftpflaster haben zu müssen. Es war nicht weniger banal als jene Beruhigungspillen der Mutter in der Kindheit: Eile, eile, eile, Gesundheit komm und heile. Aber ich bin kein Kind mehr, kochte es in Hesse, uns hat man aufgehuckt, was andere nicht mit Sechzig zu tragen brauchten. Enttäuschung und neuerliche Wut formten sich zu bösen Worten. "Euer ganzer Zinnober steht mir bis hierher!"

Ede sprang auf. "Was ist denn das für 'ne Einstellung?" brüllte er, "wofür Tausende von uns kaputtgegangen sind das ist für dich Zinnober?"

"Jawohl", erwiderte Hesse schreiend, "eure Blindheit, eure Klugscheißerei, diese Erbpacht auf Antifaschismus! Ich werde es euch so oft sagen, bis ihr heruntersteigt vom hohen Ross!"

Ede schwieg betroffen. Steckte in den Vorwürfen des blassen Jünglings ein wahrer Kern? Mühsam beherrscht, sagte er: "Wenn du nicht solch ein grüner Junge wärst und wenn dich der Koller nicht hätte ... "

"Ich hab' mich lange genug anbrüllen lassen und brülle zurück!" rief Hesse.

Ede trat einen Schritt zu ihm hin.

Kuhn hielt Ede zurück. "Lass ihn, mal ist jeder dran. Er muss von dir nur noch lernen, methodischer zu donnern."

Dieser Sarkasmus war wie ein feuchter Lappen um die Ohren. In Hesses Wut mischte sich Ernüchterung.

Ede war sich unschlüssig, wie er mit dem Nervenbündel verfahren sollte. Er holte geräuschvoll Luft wie ein Asthmatiker. "Der eine verkraftet's so, der andere anders und mancher noch schwerer. - Tschüss. Vergeßt nicht, für mich den Hemingway zu halten, ich bin der Nächste auf der Liste." Gegen seine sonstige Gewohnheit zog er die Tür leise hinter sich zu, wie nach einem Krankenbesuch. Draußen in der Winterluft stieß er den Atemstrom langsam durch die Zähne und ging geradewegs zu Bauer. Der hockte in der Kompanieschreibstube vor einem Stoß Listen und schrieb eifrig. Captain Bliss saß auf seinem extra breiten Stuhl und starrte aus dem Fenster.

Ede grüßte militärisch und wandte sich an den Captain. Natürlich handele es sich um eine Lagerarbeit, bei der nicht auf den Rat des in Arbeitsorganisation erfahrenen PW Bauer verzichtet werden könne. Captain Bliss' Augen, wie gut gesicherte Schießscharten in Palisadenwänden, waren schwer enträtselbar. Ede beschlich Unbehagen, der Alte durchschaue den Trick. Dennoch machte Bliss die Andeutung einer Bewegung mit Schulter und Kopf, und das war für den Eingeweihten die Zustimmung. Bauer warf sich die ausgediente GI-Jacke über, wollegefüttert und mit Reißverschluss, von allen PWs begehrt. Korrekt grüßend, verließen beide die Schreibstube und gingen ins Corporalzimmer der Baracke, in der Bauer mit Wuntram hauste. Sie setzten sich auf die beiden gegenüberstehenden Bettstellen. Ede fummelte in seinem Tabakbeutel und steckte sich dann ein Monstrum zwischen die Lippen. Bauer nahm ihm die Neuerwerbung aus den Zähnen, eine Tabakpfeife mit einem Kopf in Tropfenform und mit Kühlrippen. Kopfschüttelnd las er den eingebrannten Namen des letzten Verkaufsschlagers der Kantine: Streamliner. Ede sagte, einige kleine Verrücktheiten aus diesem verrückten Land müsse er schon nach Hause bringen. Möge es ein gütiges Schicksal geben, dass seine Lieben die Bombennächte, den Hunger und alle braune Gewalt lebend überständen.

Bauer spürte, dass Ede eine Einleitung suchte, und machte eine ungeduldige Geste.

Zögernd beichtete Ede, dass er mit seiner Polterei über Zecke einen Kollaps bei Hesse ausgelöst habe. "Ich hätte gar nicht gedacht, dass dieser Jüngling so wütig schreien kann. Wie kriegen wir die Mimose wieder zum Blühen? Du kennst ihn doch am besten."

Bauer zwiebelte Ede ein wenig. "Das sollte dir Großschnauze eine Lehre sein. Du denkst, mit Bravour lassen sich alle Probleme lösen."

Ede stand auf und lief unter Selbstvorwürfen auf und ab.

"Furchtbar, wenn einem die Galle so leicht überläuft. Was hab' ich vor dreiunddreißig deswegen Ärger in der Partei gehabt. Wie oft hat mich meine Frau zurecht gestukt, und ... "

"Wenn du nach Hause kommst, wird sie der Junge dabei unterstützen."

"Der?" Edes Augen begannen zu leuchten, als stände der Junge vor ihm. Als wollte er das Bild noch besser erkennen, nahm er die Brille ab und begann sie nervös zu putzen. "Der ist genau solch ein Polterkopp wie sein Alter."

"Komm wieder runter vom Baum der Selbsterkenntnis." Bauer drehte sich ein Stäbchen mit der Zigarettenmaschine "Top". "Hesse bedrückt etwas. Ich denke, es hängt mit dem Fragelager zusammen."

Ede stülpte sich die Brille auf die Nase und starrte Bauer an.

"Er war in der Quetschmühle?"

Bauer nickte. "Es ist schon viel, dass er mir das überhaupt erzählt hat." "Du glaubst also, die Ursache für Hesses Ausbruch sitzt tiefer?"

"So ungefähr."

"Diese Muttersöhnchen machen den meisten Kummer", polterte Ede, "meiner wird nicht so, und ... "

Bauer unterbrach die Familienerinnerungen Edes. "Am besten ist, den Vorfall sang- und klanglos zu begraben. Sage Kuhn Bescheid, er soll Hesse fester zur Arbeit heranziehen. Und nun verschwinde. Sonst fängt Bliss an zu murren."

"Ich kann den ollen Zausel auch leiden", sagte Ede, als er ging.

Hesse war nach Ede hinausgestürmt. Er lief, als könnte er vor seiner Beschämung ausrücken. Ich hasse Hysterie. Drei oder vier Ausbrüche Mamas sind mir in Erinnerung geblieben. Es ist jedes Mal peinlich gewesen. Warum kann ich nicht überlegen bleiben, schnoddrig, zynisch? Zermürbt mich die Sache mit Malleck so oder weil kein Brief von Eliza kommt? Wer wartet hier nicht auf Post von Frau oder Braut? Trotzdem tragen es die andern leichter. Eliza ist nicht meine Frau, nicht meine Braut. Die Weisen sagen, fast jeder denke von seinem ersten Mädchen, es sei die große Liebe. Aber ich bin kein Weiser ... Wenn mich Eliza vorhin in meiner Hysterie gesehen hätte ...

Allmählich wurden Hesses Schritte weniger gehetzt. Die klare Luft brannte erfrischend im Gesicht. Einsam lagen die Baracken. Die Stille war wohltuend gegen die laute Geschäftigkeit am Abend. Bewusst nahm er sich vor, als er zur Bibliothek zurückging: Ich muss mich zusammennehmen ... , ich muss!

Als Hesse am nächsten Morgen vom Waschen zurückkam, stutzte er. Vor der Schreibstube der Klee-Kompanie wimmelte es von PWs. Stimmengewirr klang von drüben. Hesse rannte zu seinem Bett, kleidete sich hastig an, eilte hinaus und warf sich beim Laufen die Jacke über.

Die Ansammlung ballte sich vor einem Plakat an der Rückwand jener Baracke. Mit Mühe zwängte sich Hesse nach vorn und las dann: "Vergeßt nie, dass ihr noch immer Soldaten seid! Wählt einen guten deutschen Soldaten! Wählt Klee!"

Rings um ihn wurde laut und hastig durcheinander gesprochen. Nirgends war jemand zu entdecken, der die ungefügen Zeilen auf dem weißen Karton verteidigte, vielmehr ging der Streit darum, wie der Provokation begegnet werden sollte. Dieses Plakat könnte auch Malleck hingehängt haben, erregte sich Hesse. Eine kalte Wut packte ihn. Das in einem Antinazilager. Diese Sätze schlugen ihm die Wahrheit ins Gesicht: Deine Erlebnisse sind kein Albtraum, sondern sie sind wirklich geschehen. Das Plakat könnte dort nicht ohne Genehmigung des Headquarters hängen.

"Abfetzen!" - "Das ist Nazismus!" - "'runter damit!"

Hesse sah die Gesichter von Bauer, Ede, Buschinski, Dieck und Kuhn auftauchen und wieder verschwinden. Ihre Münder bewegten sich, sie stemmten sich gegen Unüberlegtheiten. Hesse stand wie gelähmt, das von gestern war wieder da, und die verfluchte Politik hatte es verschuldet.

Zwei der Lautesten hockten plötzlich vor der Wand, das eine Knie vorgestützt. Ein Dritter stieg auf ihre Knie, reckte sich langsam zum Plakat hoch. Triumphierend stand er und schaute lachend über die brodelnde Menge hin, während er in seiner Hosentasche nach dem Messer suchte. Er klappte es auf und schob die Klinge unter den ersten Reißnagel.

"Idiot!" Hesse sprang ihn an und zerrte ihn nach unten, alle vier kugelten sich auf der gefrorenen Erde. Johlen, Klatschen und Pfeifen gellten in Hesses Ohren, als er sich aufrappelte. Auch der andere war wieder auf den Beinen. Feindselig starrte er Hesse an, klappte das Messer zu und ging in Boxerstellung. Unwillkürlich weitete sich um die beiden ein Kreis.

"Das hast du nicht umsonst gemacht, du Klee-Figur. - Was habt ihr hier zu suchen? Warum seid ihr nicht in euren Faschisten-Camps geblieben?" Ungestüm drang er auf Hesse ein. Der wich zurück, dann spürte er einen Schlag am Kinn, der ihn taumeln ließ.

Eben schwoll der Lärm wieder an, da erstarb er plötzlich, wie abgehackt durch den Ruf: "Wuntram ist da!"

Jemand hatte einen Schemel an den Rand der Ansammlung gestellt, Wuntram stieg hinauf, sein immer blasses Gesicht war völlig weiß mit einem gelblichen Schimmer. "Kameraden! Es wurde mir heute früh von dem Plakat berichtet. Aus naheliegenden Gründen habe ich mich zurückgehalten. Jetzt hörte ich, dass einige Kameraden drauf und dran waren, in begreiflicher Empörung eine Dummheit zu begehen. Aber es wäre eine Dummheit. Deutlicher können uns doch die Leute um Klee nicht zeigen, wer sie sind. Mag der einzelne weltanschaulich stehen, wo immer er will, die Mehrzahl ist in dieses Camp gekommen, weil sie genug hat von Wehrmachtdrill und Hitlerzwang. Viele Antinazis haben diese Sehnsucht mit Drangsalierungen und Wunden bezahlen müssen, andere mit dem Leben. Und jetzt wollen ein paar Unbelehrbare den Höllentanz hier mit uns von vorn beginnen. Dieses Plakat dort beweist es. So gründlich, wie die ewigen Marschierer mit jenen Sätzen für uns Propaganda gemacht haben, können wir es nie tun. Keine Unüberlegtheiten, keine Gewaltanwendung, keine Wahlbeeinflussung. Lasst das Plakat hängen!"

Beifall brach los. Hesse ertappte sich dabei, dass er ebenfalls klatschte, obwohl sein Kinn schmerzte. Der Kompanieführer der D-Kompanie tauchte auf. Wuntram stieg vom Schemel, ging zu dem Captain und meldete, er habe eben gesprochen, um Unbesonnenheiten zu verhindern.

Verschlossenen Gesichts hörte der Offizier mit den Apfelbäckchen zu. Dann ging er zur Rückwand der Baracke und las den Plakattext. Er sagte nichts, die um ihn Stehenden bemerkten sein fast unmerkliches Kopfschütteln. Wortlos verschwand er in der Schreibstube, und wenige Augenblicke später kam ein Corporal mit einem Schemel und einer Schere. Missmutig hob er die Reißnägel aus dem Holz, rollte das Plakat zusammen und verschwand.

Wuntram lächelte bitter. "Die lautesten Schreier waren Leute der A-Kompanie." Er wandte sich an Hesse. "Kennst du den, der dich verprügeln wollte?"

Hesse überlegte. Sicherlich hatte er den Mann schon gesehen, aber das Gesicht war völlig fremd gewesen, von Wut verzerrt. Hesse sagte es Wuntram und dachte, wie ungenau die Sinne in solcher Erregung das Ganze wahrnehmen, nur Einzelnes bleibt überdeutlich haften. Er erinnerte sich, dass sein Angreifer nach der Rede Wuntrams verschwunden war. Zu gern hätte ihn Hesse zur Rede gestellt. Der Kampfhahn hatte ihn als Klee-Anhänger bezeichnet, hatte ihn mit dem Typ Malleck auf eine Stufe gestellt. Das war schlimmer als der Faustschlag.

Gegen sein sonstiges diplomatisches Feingefühl sprach Wuntram weiter von den Radaubrüdern der A-Kompanie. Die andern schwiegen zu dem unbehaglichen Thema, bis Kuhn sagte: "Es ist noch einmal gut gegangen, und es steht uns frei, eigene Plakate zu malen."

Wuntram fing sich. "Hast recht. Am Samstag ist die Wahl, wir haben keine Woche Zeit mehr."

"Ist unser Wahlaufruf nun zensiert und zurück?" wollte Wulk, der Sprecher der Kompanie F, von Wuntram wissen.

Buschinski holte hörbar Luft. "Den nehmen sie doch im Headquarter auseinander, um dementsprechend einen Gegenaufruf für Klee zu fabrizieren. Wetten, dass der früher genehmigt wird als der unsere? Oder siehst du es anders, Robert?"

"Kaum." Wuntram hauchte sich in die klammen Hände und schaute auf die Armbanduhr. "Aber es hat den Vorteil, dass wir damit das letzte Wort haben."

Alle lachten und taten ebenfalls zuversichtlich, als sie sich trennten.

Kuhn und Hesse gingen zur Bibliothek.

"Großartig, wie du den Messermann auf den Boden der Tatsachen gezerrt hast."

Hesses Gesicht rötete sich vor Verlegenheit. "Du und viele andere hätten es auch getan, wären sie so dicht dran gewesen wie ich."

"Von uns wäre es selbstverständlich gewesen."

Hesse sprühte aus einer größeren Konservenkanne Wasser auf die Dielen, dann stand er, beide Hände auf den Besenstiel gestützt. "Von mir war es also nicht zu erwarten?"

Kuhn hob den Kopf nicht von der Arbeit. Nach einer Weile nahm er zwei Keksrollen aus seinem Tischkasten. "Komm, iss mal etwas."

"Na schön, das Holz muss sowieso erst das Wasser aufsaugen, sonst schmiert's beim Fegen."

"Die in der Küche haben immer eine Kanne Kaffee stehen", sagte Kuhn, "natürlich würden sie uns welchen geben, aber ich mag das nicht, es sieht so nach ... , nach ... "

"Es würde nach Klee-Wirtschaft aussehen. - Sammelst du auch Kaffeegrund?"

Kuhn sah Hesse verständnislos an. "Es gibt welche, die holen sich den Kaffeegrund aus der Küche und trocknen ihn auf dem Blechkanal der Warmluftheizung. Wenn sie nach Hause kommen, sagen sie, wird er in Deutschland Gold wert sein."

"Die haben Sorgen." Kulm ärgerte sich. "Und wir haben Scherereien, wenn die Amis mit ihrem Hygienefimmel dahinterkommen. Bin gespannt, wann die erste Schutzimpfung hier fällig sein wird."

"Kaum später als der erste Film", mutmaßte Hesse.

"Was ich vorhin mit dem selbstverständlich gemeint habe", sagte Kuhn übergangslos, "war natürlich Unsinn, denn ... "

Hesse widersprach. "Auf meinen hysterischen Anfall gestern bleibt nur diese Auslegung. Aber es ist anders. Mit dem Hitlerbarras und seinen Kommissköppen gibt es für mich keinen Kompromiss. Das hat nichts damit zu tun, dass ich mich aus jeder Politik heraushalten werde."

Kuhn legte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete Hesse. "Hast du schon mal die Handfläche eines Schmieds gesehen? - Die kommt so oft mit Feuer in Berührung, dass sie völlig mit Hornhaut bedeckt ist. Man muss sich solche Hornhaut anschaffen."

"Jeder eignet sich eben nicht zum Schmied."

Nachsichtig beugte sich Kuhn vor. "Du bist Jahrgang zwanzig. Lege elf Jahre bei dir zu - was meinst du, wie du dann über manche Meinung von heute lächelst."

"Dass ihr euch auf euer Alter so viel einbildet."

Kuhn blieb friedlich. "Eine Weltanschauung muss langsam wachsen. Aber Hass auf Hitler und seinen Barras ist doch politisch. Oder? - Na also, es gibt keine unpolitischen Antinazis."

Hesse konnte die Zurückhaltung in seinem Gesicht nicht verbergen. Das hatte er schon in vielen Varianten gehört.

"Ich glaube, du machst den Fehler, politisch denken mit Kommunistsein gleichzusetzen", fuhr Kuhn fort. "Dafür bin ich kompetenter als Bauer und seine Freunde. Ich war nie in einer Partei. Die harte Disziplin, das ständige Bereitsein müssen, nee also ... Aber das ändert nichts daran, dass ich mittue nach meinen Kräften."

Kurz vor dem Mittag tauchte Ede auf. Er sah aus wie ein Kohlentrimmer, auf den Brillengläsern im verschwitzten Gesicht lag Staub. "Ist das ein Rekord, Kinder? In drei Stunden die Außentour geschafft. Unser Boss hat sich vor Vergnügen auf die Schenkel gehauen, wie wir im Dauerlauf die Ash-and-Trash-Cans rangeschleppt haben."

"Also ein erfolgreicher Tag im Müllgewerbe", spottete Kuhn.

Ede wurde feierlich. "Ein großer Tag für den Theaterfundus. Zum ersten Mal in den WAC-Baracken. Seht mal." Mit spitzen Fingern zog er eine Puderdose aus der Hosentasche. Ein leiser Fingerdruck und ihr Deckel sprang auf. Ede hielt die schwärzliche, etwas zu kurz geratene Nase über Quaste und Puderrest. "Direkt aufreizend."

"Nimmst du deiner Frau mit?" erkundigte sich Kuhn.

Empört blickte Ede ihn an. "Theatereigenrum. - Außerdem würde meine Inge sonst was dabei denken."

"Entweder dass du sie geklaut oder geschenkt gekriegt hast."

"Weder - noch." Ausnahmsweise ging Ede nicht in die Luft, verzückt ließ er den Dosendeckel auf- und zuschnappen. "Im Papierkorb gefunden. In die Baracken dürfen wir doch gar nicht hinein. Damit unsre Keuschheit nicht Schaden leidet, türmen sie ihren Abfallkrempel vor der Baracke auf. Jungs, haben wir abgestaubt. Sogar Pullen mit Whisky-Resten, zusammengegossen, 'ne halbe Flasche."

"Auch Theatereigentum?" wollte Kuhn wissen.

"Jawohl." Ede deutete auf seine Brust. "In Form von geistiger Anfeuerung seiner drei Heroen Necke, Hellmann und Ede."

"Jetzt weiß ich auch, warum ihr euch so um den Job gerissen habt", forderte ihn Kuhn heraus.

"Befürchte, diese Ausbeute an Whisky wird nur montags zu erwarten sein", gestand Ede. Er kramte abermals in der Hosentasche und breitete ein gelbes Seidentuch auf den Schreibtisch.

"Dass die so etwas wegschmeißen!" Hesse wunderte sich.

Ede wandte sich an Hesse, sagte hastig und verlegen: "Für dich. Ist doch jetzt die Masche der Jungen, ein grelles Halstuch unterm Hemdkragen."

Hesse war noch verlegener als Ede, und der fragte rasch: "Übrigens ... , kommst du heute nach dem Abendessen in die Theaterwerkstatt - Wahlslogans fabrizieren?"

"Bestechung", rief Kuhn, "merkst du, Heinz, er schmeißt mit der Wurst nach der Speckseite."

"Ich nehme die Wurst", sagte Hesse.

Weniger gemächlich als sonst aß er seine Abendmahlzeit. Als einer der Ersten war er fertig und eilte zur Theaterbaracke.

Ede saß schon mit einem Bleistiftstummel über einem Blatt Papier. Dann sprang er auf und ging Hesse mit Rednergeste entgegen. "Uns auf die Neese den Herrn Klee? - Da sagt das ganze Lager: Nee!"

"Ein bisschen anspruchslos, wie?" fragte Hesse.

"Die geistvollen Sachen machst du. Aber vergiss nicht: Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. Kannst doch nicht nur die Intellektuellen ansprechen."

Hesse legte einen Zettel auf den Tisch. Gespannt beugte sich Ede darüber und las laut: "Wenn Herr Feldwebel Klee mag, soll er marschieren - aus dem Lager!"

Ede rieb sich die Hände. "Ich denke so: Damit unsere Propaganda erst mal anläuft, fangen wir an zu pinseln. Die weniger Begabten immer bloß den einen Namen: Wuntram. Karton um Karton, je mehr, desto besser."

"Also Suggestivwirkung durch Wiederholung."

Ede staunte. "Du sprichst, als wärst du ein Agitpropmann gewesen."

"Hab' leider nur mal ein paar Ferienaushilfen bei meinem Onkel gemacht, der hatte ein Reklamebüro."

"Was für brachliegende Kräfte so im Volke schlummern." Ede schlug sich an die Stirn. "Wo waren wir ... Ach so: Die nächste Abteilung wären dann die eingängigen Sächelchen wie die Reime, jeweils etwa ein halbes bis ein Dutzend. Gerhard wird sie pinseln. Der Bengel hat immer Zicken im Kopf - und gute Einfälle."

"Macht Bodo Girstenburg nicht mit?" fragte Hesse verwundert. Ede hob Augenbrauen und Stirnfalten in die Höhe. "Der malt den Clou, eine große Karikatur vom deutschen Soldaten. Stellen wir am Sonnabend neben dem Wahllokal auf."

Die Tür klappte, Gerhard schlenderte herein, eine halb geschälte Apfelsine wie einen Apfel essend. Er hörte sich lieber Jonny rufen und trug eine kunstvoll gelegte Tolle, wie er sie aus amerikanischen Magazinen abgeguckt hatte.

Der kleine Oskar Wentergurst stellte sich todernst vor Jonny hin und machte ein fachlich-abschätzendes Gesicht, als käme der jüngere direkt vom Maskenbildner. "Wunderschön, der Entensterzschopf - beinahe ein Yank."

Jonny war zu beweglich, um den Spott nicht zu merken. "Na und?"

Wentergurst, ehemals Kameraassistent, schob das Mundstück seiner kalten Pfeife zwischen den Zähnen hin und her. Dann umriss er mit ihr in der Luft die Figur Jonnys. "Leider Imitation - zu deutlich Imitation."

"Besser 'ne Imitation als ein Gartenzwerg", fauchte Jonny und spielte auf den Wuchs Wentergursts an.

Weitere Helfer erschienen in der Baracke. Unermüdlich gab Ede Anweisungen, steckte hier einem den Pinsel in die Hand, unterrichtete dort, wie Wasserfarben anzuwenden seien, oder schuf Platz zum Arbeiten. Auch Albert Bader war gekommen, der Direktor der Lagerschule. Er war Ingenieur-Architekt, und manche riefen ihn Ali Baba. Stirnrunzelnd beschaute er sich das chaotische Durcheinander. Die Unexaktheit der Wuntram-Schilder missfiel ihm, und er erbot sich, eine Schablone dafür zu schneiden.

Eben wollte Ede temperamentvoll erwidern, als ihm Buschinski zuvorkam. "Gerade das finde ich großartig, Ali." Buschinski sprach den harten Akzent der in Oberschlesien Aufgewachsenen. Es hörte sich weniger langsam als bedächtig an, wirkte eindringlich auf den anderen, forderte heraus mitzudenken. "Schablone würde den Eindruck einer Einmannarbeit erzeugen. Aber die immer wieder unterschiedliche Zeichnung des gleichen Namens weist auf Massenbeteiligung hin. Eine Wirkung, die kaum bewusst wird und deshalb um so stärker mitspielt."

"Wunderbar!" Dankend hob Ede die Hände zu einer unsichtbaren Gottheit, "Ich hätte Ali angebrüllt, und er hätte es nicht geglaubt. Du hast ihn überzeugt, Schorsch."

Lächelnd tunkte Bader den Pinsel in die Farbe und malte ohne Schablone. Buschinski sprang immer da geräuschlos ein, wo Ede laut nach Hilfe verlangte.

Necke, fast doppelt so alt wie Jonny, genierte sich nicht, sich von dem jungen Stubenmaler beraten zu lassen. Dieck schaffte das Doppelte an Wuntram-Schildern wie Hellmann und rügte den, er solle mehr pinseln und weniger spinnen. Hesse lernte die beiden "statischen Stützen" der Theatergruppe näher kennen, die friesischen Zimmerleute Coord Suthoff und Dirk Larsen. Ede hatte ihnen die schmalsten Pinsel in die Hand gedrückt, die von ihnen gemalten Namenszüge sahen trotzdem aus, wie mit dem Besenstiel geschrieben. Sie brannten darauf, endlich die Plakate anzubringen. Alle sahen den beiden an, dass sie hofften, irgendein Anhänger Klees werde sie dabei belästigen.

Um halb zehn räumten sie die Werkstatt auf. Ede legte die Aufgaben für immer je zwei Mann fest. Geräuschlos verschwanden sie mit Plakaten, Reißnägeln und Heftmaschinen. Ede und Hesse verließen als letzte die Baracke. Vergnügt raunte Ede. "Wir werden's ihnen schon zeigen!"

Der ist glücklich, dachte Hesse.

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