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Herr Feldwebel wird nervös
ОглавлениеHesse hatte pünktlich Feierabend gemacht. Er trat in die stille Baracke und blieb überrascht stehen. Auf jedem Bett lag ein Blatt. Es war der Wahlaufruf Feldwebel Klees. Er war geschickter gehalten als das vom Company-Leader der D-Kompanie eingezogene Plakat. In seinem Aufruf sprach Klee den Leuten um Wuntram einen gewissen Idealismus nicht ab, doch wäre das Fantasterei.
Entsprechend der Genfer Konvention bleibe ein Soldat auch in der Gefangenschaft Soldat. Das wäre Realität, auch im Antinazilager Fort Heaven, und der einzige Kandidat, der auf dem Boden dieser Realität stände, wäre der Kamerad Klee. Die von Wuntram propagierte "Demokratie" führte zu Disziplinlosigkeit und Anarchie, das hätte McLoin zur Genüge bewiesen. Hinter Stacheldraht Politik machen, wäre Utopie oder Schlimmeres, der Vorwand für kommunistische Politik. Doch Kommunisten und ihre Anhänger hätten im Gewahrsamsstaat keine Chancen. Wer in Ordnung und Frieden, ohne gehässigen Politikerstreit die Zeit seiner Gefangenschaft zu verbringen wünschte, der wählte den über Hader und Hass, über allen Parteien stehenden Kameraden Klee zum Lagersprecher.
Hesse knüllte das Blatt zusammen. Wer hatte das ausgeheckt, wer hatte die Blätter verteilt? Appell an die Stumpfen, Unpolitischen. - Bemühe ich mich nicht selbst, unpolitisch zu sein? Aber nicht aus Stumpfheit, sondern aus Enttäuschung. Wer sieht den Unterschied? Hesse fürchtete sich vor dem Augenblick, in dem Bauer, Buschinski oder Ede ihm diesen Wisch unter die Nase reiben würden. Mit einem alten Trick brachten ihn seine Feinde auf ihre Linie. In Hesse steigerte sich Wut, die zur Entladung drängte. Mit fliegenden Händen sammelte er alle Blätter ein und riss sie mittendurch. Als er die Kameraden kommen hörte, die von den Außenprojekten zurückkehrten, schob er den Packen rasch unter die Matratze. Unvermittelt schlug seine Stimmung um. Was hast du damit schon ausgerichtet, schalt er sich. War es nicht eine ähnliche Dummheit, wie du sie kürzlich verhindert hast? Allerdings ist jenes Plakat plump abgefasst gewesen, dieser Wahlaufruf dagegen ist raffiniert. Wird ihn nicht doch jeder Barackeninsasse zu lesen bekommen?
Mit einigen Brettchen unter dem Arm trat Knospe in die Baracke und wies augenzwinkernd auf den Schatz. Das sollte heißen: der Anfang von deinem Schränkchen. Dann sagte er: "In der A-Kompanie hängen die ersten Wahlplakate für Zecke." Er nahm sein Handtuch und verschwand zum Waschen.
Hesse sprang auf und ging zum Compound I. In Trupps begegneten ihm die Außenarbeiter. Sie kamen vom Motor-Pool und vom Dumping-Place, aus Lagerhallen und vom Rattenfangprojekt, aus Wäschereien, Sortierbaracken und Werkstätten, grau und verstaubt die meisten, einige mit rußigen Gesichtern, unbeschwerter die Jüngeren, ein wenig müde die Älteren. Schon von Weitem sah Hesse mehrere helle Rechtecke an den Barackenwänden der A-Kompanie. Das größte Plakat war schon von der Lagerstraße aus zu lesen. "Wer gegen Hitler ist, muss gegen Klee sein. - Wählt Zecke!"
Manche der PWs lasen es laut, andere schweigend.
"Wuntrams Leute machen es witziger", sagte einer. In Hesse war leiser Stolz. Dieses Lob galt auch ihm. Dann dachte er an die zerrissenen Wahlblätter unter der Matratze, und seine frohe Stimmung erlosch. Schweigsam ging er inmitten der Plaudernden zurück. Erstaunlich, überlegte er, dass sich Klees Traktat auf Zecke überhaupt nicht bezieht. Also sieht das Headquarter die Wahl seines Günstlings lediglich von Wuntram gefährdet. Es sollte den Zeckeleuten zu denken geben. Ärger über sich machte ihn noch finsterer. Was zerbreche ich mir um andere den Kopf, ich muss sehen, wie ich die Blättchen unter der Matratze beiseiteschaffe. Es wäre nicht gut, wenn sie dort entdeckt würden. Dann fand er auch die Angelegenheit nicht so wichtig, gemessen an seinen Sorgen. Ein Brief von Eliza, bohrte es in ihm, würde mich sofort zu einem anderen Menschen machen.
Beim Abendessen brodelte Aufregung in der Messhall. Es war bekannt geworden, dass Wuntram erst am Nachmittag den Entwurf seines Wahlaufrufs mit der Maßgabe zurückerhalten hatte, einiges zu streichen oder zu ändern, falls er Wert auf das Erscheinen lege.
Hesse aß neben Ede. Helowa saß ihnen gegenüber. Sachlich fragte Helowa. "Schweinerei, was?"
Ede strich sich mit dem Daumen über seinen kurzen Nasenrücken. "Es wäre nützlich, zu wissen, wer der wirkliche Gönner Klees ist. Natürlich steht auch Stircke auf die Soldatenmasche, welcher Camp-Commander nicht? Aber für all die Stücklein scheint er mir zu bequem."
"Und zu liberal", ergänzte Helowa.
"Also gibt es eine graue Eminenz hinter den Kulissen", schlussfolgerte Hesse.
Helowa stocherte missmutig auf seinem Teller herum. "Wir werden noch lange genug hier sein, um es rauszukriegen."
Nach dem Abendessen gingen Ede und Hesse wieder in die Theaterwerkstatt. "Drück den Daumen, Heinz", sagte Ede, "dass es klappt: Wuntram als einziger Kandidat gegen Klee."
Den Lärm des Werkelns und Hämmerns übertönte eine Stimme: "Achtung!" Überrascht schauten die PWs auf und nahmen Haltung an. Oberst Stircke war mit zwei Offizieren eingetreten. Aufmerksam sahen sich die Drei im Raum um. Ede trat auf den Camp-Commander zu. "Elf Prisoners of War bei der Anfertigung von Propagandamaterial für die Wahl ihres Lagersprecherkandidaten Wuntram."
"Angestrengte Freizeitbeschäftigung, wie?" erkundigte sich Stircke.
"Angestrengt, aber fröhlich, Sir", erwiderte Ede.
Der Colonel gebot weiterzumachen und begann einen Rundgang durch die Werkstatt. Die beiden anderen Offiziere blieben bei Ede stehen. Der jüngere der beiden, ein Captain, war groß, füllig und schwarzhaarig. Der Ältere, ein Major, war kleiner als Stircke und mochte etwa fünf Jahre jünger sein als der Colonel. Die leicht seitwärts geneigte Kopfhaltung war das Charakteristischste an ihm. Es sah aus, als betrachtete er ständig alles aus bewusster Distanz und lauschte aufmerksam in die Welt. Freundlich fragte er Ede: "Sie haben die Erlaubnis vom Camp-Commander, hier ihr Wahlmaterial zu fabrizieren?"
"Auch die Anhänger der andern beiden Kandidaten müssen ihre Wahlplakate in irgendeiner Baracke anfertigen, und mir ist nicht bekannt, dass sie dafür extra um Erlaubnis nachgekommen sind, Sir."
"Die andern tun das in ihren Kompaniebaracken, die Theaterbaracke ist meines Wissens ein Raum für das ganze Camp."
"Selbstverständlich können die beiden anderen Gruppen ebenfalls für ihren Kandidaten hier arbeiten. Bis jetzt haben sie diesen Wunsch nicht geäußert."
Der Major blieb weiterhin freundlich. "Der Zeichenkarton, die Farben und Pinsel, all das gehört dem Theater?"
"No, Sir. Das haben die Kameraden vom eigenen Geld in der Kantine gekauft. Material für die Theatergruppe soll erst in den nächsten Tagen geliefert werden."
"Sehr schön - da wird die Theaterbaracke endlich ihrem eigentlichen Zweck dienen."
"Sie tut es bereits, Sir. Wir probieren hier schon jeden Tag." Ede wies auf das mit Decken geschützte Klavier, das aus der Basketballhalle herübergeschafft worden war. "Darf ich Ihnen die Dekorationen für den Kabarettabend zeigen?" Ede machte eine einladende Geste zur Wand hin, an der Versatzstücke und Kulissenteile lehnten.
"Danke, ich sehe." Der Major winkte ab. "Auch das ist aus eigenen Mitteln hergestellt worden?"
"Sehr wohl, Sir."
Der Camp-Commander hatte seinen Rundgang beendet und trat zur Gruppe. Auf einen fragenden Blick des Majors antwortete er mit einem kaum merklichen Kopfschütteln. Dann wandte er sich an Ede. "Sehr aktiv sind Sie hier, außerordentlich aktiv."
Es klang eher nach Vorwurf, doch Ede nahm es als Lob und strahlte Stircke an. "Thanks, Sir."
Betroffen über so viel Naivität, wandten sich die drei Offiziere zum Gehen. Ede brüllte: "Achtung!" und die Tür klappte.
Ein Schwall von Fragen und Vermutungen wollte aufbranden. Ede legte den Finger auf die Lippen. Die Vorsicht war berechtigt. Kurz darauf schaute der Oberst noch einmal herein und rief Ede zu, alles Wahlmaterial habe er künftig im Headquarter vorzulegen.
Kaum war Stircke verschwunden, als Necke knurrte: "Das hat der Schiefkopp ausgeheckt."
Alle waren der gleichen Meinung. Wie ein beschwichtigender Lehrer klatschte Ede in die Hände. "Keine Panik, Jungs, macht weiter."
Helowa, Ede und Hesse waren die Letzten, als der Theaterleiter kurz vor zehn die Baracke abschloss. "Vorhin haben wir erst darüber gesprochen", sagte Ede, "jetzt wissen wir, wer die graue Eminenz ist."
Helowa blickte fragend. "Der stille Captain?"
"Das war der Lagerkaplan. - Nee, Freunde, der Hauptmanager ist der Schiefkopp. Er hat mich regelrecht verhört, hat beweisen wollen, dass unsere Wahlarbeit hier unrechtmäßig ist."
"Wahrscheinlich der verantwortliche Intelligence-Officer", mutmaßte Helowa.
"Vielleicht ist es auch der Stellvertreter Stirckes", warf Hesse ein, "ein ähnliches Prachtexemplar von Major war Vajola, der Commander-Stellvertreter in McLoin."
"Wie auch immer", sagte Ede, als sie sich trennten, "der Schiefkopp hat Haare auf den Zähnen."
Hesse lief am nächsten Abend Bauer, Leitz und Buschinski in den Weg. Deren Mienen strahlten. Bauer forderte Hesse auf, zu Wuntram mitzukommen.
Ein wenig unwirsch, jetzt noch gestört zu werden, erwiderte der Lagersprecher den Gruß der Eintretenden.
"Zecke verzichtet zugunsten Wuntrams!" Fast gleichzeitig platzten die Drei mit der Nachricht heraus.
Kressert fuhr auf seinem Tippschemel herum. "Das ist die Wahlbombe!"
Wuntram tat erfreut, obwohl er erschrocken war. Er hatte fest damit gerechnet, dass die Anhänger Zeckes auf ihrer Extratour beharren würden. Die Spaltung hatte ihn eindeutig vor dem Headquarter von den Radikalen distanziert, auch ohne sie hätte er die Wahl knapp gewonnen, glaubte er. Mit dieser Entscheidung hingen sie ihm wieder an, ihre künftigen Forderungen würden nun mit dem Gewicht vorgetragen werden: Wir haben dich gewählt. Während Wuntram diese Überlegungen durch den Kopf gingen, tat er, als hätte ihm die Überraschung etwas den Atem genommen. Er beeilte sich zu sagen: "Das wird eine sensationelle Mitteilung morgen früh beim Appell."
Sie ergingen sich freudig in Prophezeiungen, dann merkten die vier, dass Wuntram darauf wartete, weiterarbeiten zu können. Sie verließen den Raum, draußen entschuldigte sich Bauer bei Hesse, dass er noch viel für morgen vorbereiten müsse, Leitz und Buschinski verabschiedeten sich ebenfalls hastig, und Hesse stand allein im Dunkeln. Er empfand es kaum, die Genugtuung über die schallende Ohrfeige für Klee hatte ihn elektrisiert. Politik hin - Politik her, dieser Mann durfte nicht gewinnen, der Beschluss der Leute um Zecke bedeutete Klees Niederlage. Noch nachträglich verübelte Hesse dem Zwölfender, dass dessen Wahlaufruf ihn zu einer Unüberlegtheit verführt hatte. Glücklicherweise hatte sie kein Nachspiel, die PWs in der Baracke nahmen an, ihre Unterkunft wäre übersehen worden. Die einsame Wanderung durch das Camp machte Hesse nicht ruhiger. Woher nahm der Klee die Stirn, das alte Spiel hier im Antinazilager weiterzuspielen? In Klee hasste Hesse den Barras. Klee war gleichbedeutend mit Seelenvergewaltigung, mit Mord, Brand, Unrecht auf Befehl. Und Klee war Synonym für Malleck. Ohne die Klees kein Barras, ohne Barras keine Mallecks. Die Mallecks waren Mörder, die Klees ihre Anstifter. Sie alle bedrohten ständig die Menschheit. Eine Pest - schlimmer als die Pest. Woran lag es, dass es so schwierig war, dieses Übels Herr zu werden? Die Menschen wehrten sich doch sonst gegen ihre Feinde. Im Rattenfangprojekt erlegten sie methodisch die schädlichen Nager. Das Spritzprojekt besprühte Tümpel und Teiche, vernichtete Myriaden hässlichen Geziefers und schaltete es als Krankheitsträger aus. Die gefährlichsten Tiere aber bewegten sich mitten unter ihnen. Wurde ihre Gefährlichkeit nicht erkannt, nur weil sie wie Menschen aussahen? Das allein konnte es nicht sein. Bauer und seine Freunde wussten Antworten. Aber die waren zu glatt, verallgemeinert mochten sie stimmen, im Einzelnen betrachtet, zeigte sich alles komplizierter. Klee war kein Kapitalist, Malleck war keiner. Weder der eine noch der andere verdienten am Krieg. Orden und Beförderungen waren Pfifferlinge im Verhältnis zu den Riesengewinnen der Manager von IG- Farben, Krupp, Thyssen. Dagegen konnten Klee und Malleck im Krieg das Leben verlieren wie jeder Soldat. Trotzdem waren sie Soldaten mit allen Fasern. Wenn sie schon Mord als Alternative des Soldatseins einkalkulierten, weshalb übersahen sie die Möglichkeit des eigenen Todes? Wenn ihnen schon das Leben der anderen nichts wert war, weshalb verhielten sie sich gegen das eigene fahrlässig? War es, weil ihnen jeder Nerv dafür totpropagiert worden war? Vielleicht - aber Hesse hätte es gern genau gewusst. Dieses Wissenwollen bohrte in ihm, wuchs wie eine fixe Idee. Ob es Bauer und seinen Freunden ebenso erging? Nichts deutete darauf hin. Sie kannten die Tsetsefliege als gefährliches Insekt, weil sie deren Schädlichkeit am angerichteten Schaden ablesen konnten. Aber machte nicht erst das genaue Wissen über den einzelnen Schädling den Kampf gegen ihre Masse erfolgreich? Was wusste Bauer von Klee? Dass Klee sein Feind war und dass man ihn bekämpfen musste. Hatte Bauer jemals Anstalten gemacht, sich mit Klee persönlich auseinanderzusetzen?
Unvermittelt überkam Hesse der Gedanke: Hast du es schon versucht? Die Frage stand plötzlich so groß und drängend vor ihm, dass er stehen blieb. Nein - also habe ich kein Recht, Bauer eines Fehlers zu zeihen. Doch das lässt sich ändern. Energisch wandte sich Hesse um und marschierte zur Kompanie D. Wahrscheinlich wirft er mich hinaus, dachte er, aber ich will es wenigstens erlebt haben.
Die Schreibstube war verschlossen, hinter den Fenstern alles dunkel. "Der Kompaniesprecher ist in seinem Zimmer", sagte ein vorübergehender PW.
Hesse ging entschlossen die wenigen Schritte, klopfte an und trat ein.
Klee hatte mit einem PW geplaudert. Als der Feldwebel den Eintretenden erkannte, war einen Augenblick Erstaunen in seinen braunen Samtaugen.
"Ich hätte Sie gern gesprochen, Herr Feldwebel."
Klee ließ die Zigarre im Mundwinkel. "Ich wüsste nicht ..."
"Es handelt sich um die Wahl", unterbrach ihn Hesse schnell.
Bedächtig saugte Klee an der Zigarre. Als er den Rauch ausstieß, wurde sein Gesicht freundlich. Er gab dem Gesprächspartner einen Wink, und der verschwand aus der Stube. "Schießen Sie mal los, Obergefreiter Hesse."
Es war neutral gesagt, das Obergefreiter, dennoch eine Herausforderung. Klee war der einzige im Camp, der Wert darauf legte, mit seinem Dienstgrad angeredet zu werden. Hesse dachte an die Freudennachricht, und es gab ihm Überlegenheit. Er räusperte sich. "Ich habe Ihr Flugblatt gelesen. Angenommen, es leuchtet mir alles ein, so bleibt doch die Frage, was wird mit den unpolitischen Soldaten, wenn Sie unterliegen?"
Der Feldwebel betrachtete eingehend die weiße Asche der Zigarre. "Hat Sie Wuntram geschickt oder Bauer?"
Hesse lächelte, ohne dass es ihm Mühe machte. "Weder - noch. Die würden mir ein Gespräch mit Ihnen wahrscheinlich verübeln. Aber ich liebe es nun einmal, möglichst beide Seiten zu hören."
Klee wurde um nichts unfreundlicher, seine Miene ließ nicht erkennen, ob er Hesse Glauben schenkte. Trotzdem suchte Hesse darin zu lesen, sein forschender Blick schien den Feldwebel nicht nervös zu machen. Hesse fand: Der Mann besitzt einen Vorrat an Seelenfrieden für mindestens hundert Jahre. Sein Gesicht ist ein wenig dicklich wie der Körper, ausgefressen wie der vieler PWs. Es ist noch immer gebräunt von der Sonne Tunesiens und Oklahomas, es ist fast ebenmäßig, die fleischige Nase mag ein Gehässiger als Knollennase bezeichnen, sie strahlt Gemütlichkeit aus. Mit den friedlichen Augen rundet sich das Bild eines Biedermanns.
Bedachtsam stippte Klee die Asche ab. "Mein Wahlaufruf hat Ihnen doch die andere Seite vorgestellt."
"Sie werden zugeben, dass auf einer DIN-A4 Seite nicht alles gesagt werden kann. Außerdem hebt Ihr Flugblatt meine Frage nicht auf." Klee lachte ungezwungen. Und Hesse musste innerlich zugeben, dass er sympathischere Kerle kannte, die unsympathischer lachten. Ernst erwiderte er: "Ich würde auf Diensteid nehmen, dass ich aus eigenem Antrieb hergekommen bin. Ich schwöre, dass ich lediglich den Mann persönlich kennenlernen möchte, der sich mir als künftiger Leiter der deutschen Lagerselbstverwaltung anbietet."
"Wenn Sie nicht auf jeden Diensteid pfiffen, würden Sie gar nicht herkommen, um mich auszufragen."
"Sie betrachten also Ihr Flugblatt gewissermaßen als Befehl, an dem es nichts zu drehen und zu deuteln gibt?"
Klees Nase krauste sich; er war offensichtlich amüsiert. "Gar nicht so schlecht ausgedrückt." Rasch verbesserte er sich. "Natürlich ist das nur so, sozusagen im übertragenen Sinne zu verstehen, mehr aus der eigenen Einstellung des Einzelnen kommend. Schließlich ist das eine freie, geheime Wahl."
Dass er sich so hastig verbesserte, zeugte von Unsicherheit hinter dem gelassenen Äußeren des Feldwebels. Hesse spürte die Bresche und stieß nach. "Ich gebe zu, dass Sie sich in einer unangenehmen Situation befinden. Einerseits muss ein Wahlkandidat freundlich zu einem möglichen Wähler sein, andererseits wissen Sie, dass jedes Wort solcher Unterhaltung in der Wahl gegen Sie verwendet werden kann. Ich betone, mich hat nichts anderes hergetrieben, als die Wahrheit zu finden. Daraus ergibt sich, dass Sie mich selbst mit brutaler Offenheit eher überzeugen können als mit unverbindlichen Floskeln, wie die eben hinzugefügten zum Beispiel. Ich empfinde sie als Rückversicherung vor dem Headquarter."
Hesse bemerkte, wie genau ihn der Feldwebel beobachtete, und sah jetzt das Lauern in den braunsamtenen Augen. Klee nahm den Blick nicht von Hesses Gesicht, als er fragte: "Würde sich Wuntram oder Zecke nicht auch abzudecken versuchen?"
"Ich betrachte mich als unabhängiger Wähler, und dem ist bekanntlich nichts so zuwider, als für dumm verkauft zu werden. Sie treten auf als deutscher Soldat. Der deutsche Soldat, heißt es, ist nicht feige. Warum sagen Sie nicht frei heraus, dass Sie überzeugt sind, diese Welt ist nicht anders zu regieren als mit Befehlen."
Klee lachte nicht mehr ganz so ungezwungen wie vorhin. "Gerade Sie sollten wissen, dass die Maßgeblichen im Headquarter ebenso denken."
"Wenigstens bestätigen Sie diese auffallende Übereinstimmung. Ich nehme an, das war der Grund, dass Sie dem Headquarter Ihre Zusage gaben, als Vertreter der deutschen Soldaten zu kandidieren."
"Meine Kameraden haben mich vorgeschlagen, das Headquarter hat nichts dagegen einzuwenden gehabt. Das ist alles."
"Angenommen, das Kriegsglück wendet sich wieder, wir kehren heim in ein Sieger-Deutschland. Wird man Sie da nicht zur Verantwortung ziehen wegen Zusammenarbeit mit Vertretern des plutokratischen Amerikas?"
Klee betonte langsam Wort für Wort. "Auf dieses Glatteis folge ich Ihnen nicht. Was ich auch antworten würde, sie könnten es auslegen wie - Feldwebel Klee zweifelt an der deutschen Kriegführung."
"Nach Glaube an den Endsieg klingt Ihre Antwort nicht. Das empfinde ich als Ihr Eingeständnis, auf das falsche Pferd gesetzt zu haben."
Die Freude, eine überraschende Wahrheit kundzutun, spiegelte sich im Gesicht Klees, als er sagte: "Ich war nie PG."
"Das nehme ich Ihnen ohne Weiteres ab", sagte Hesse ungerührt, "mit dem falschen Pferd meine ich den Krieg. Wer nicht auf diesen sogenannten Vater aller Dinge setzt, verpflichtet sich nicht auf zwölf Jahre."
"Ich will Ihnen mal was sagen." Die äußere Hülle des Feldwebels schien noch glatt, doch Hesse spürte den inneren ansteigenden Ärger Klees. "Jeder sieht zu, wo er bleibt. Also bin ich Soldat geworden. Soldaten werden immer gebraucht."
Hesse verbarg seine Ironie nicht. "Kriege wird es immer geben, nicht wahr?"
Klees Stimme wurde um ein weniges lauter. "Ob Krieg oder Frieden, interessiert mich in zweiter Linie, mir ging es um einen sicheren Beruf."
"Der Kriegsberuf kann einen das Leben kosten."
Aus Klee sprach die Überlegenheit des Älteren über die Naivität eines Jungen. "Man muss sehen, dass man mindestens Feldwebel ist, wenn der Krieg anfängt. Ein guter Spieß ist mehr wert als ein guter Offizier. Das ist dann nicht so lebensgefährlich."
"Devise: Hannemann, geh du voran ... Totschießen lassen sollen sich die guten Kameraden."
Klee merkte, dass er zu viel gesagt hatte, und konnte den gehässigen Ton nicht unterdrücken, als er knurrte: "Sie schauen mir auch nicht danach aus, als hätten Sie sich zum Heldentod gedrängelt."
"Gott sei Dank nicht." Es kam Hesse aus tiefstem Herzen. "Ich habe mich auch nie als Hitlers Soldat gefühlt. Sie sind freiwillig gegangen, ich gezwungen." "Mit Leuten, denen Soldatenehre fremd ist, lässt sich schwer reden."
Freude, den Breitarsch aus der Reserve gelockt zu haben, überkam Hesse. "Das Gespräch ist sehr wertvoll für mich, Herr Feldwebel. Jetzt weiß ich schon genauer, was Soldatenehre ist. Auf den Frieden pfeifen eines sicheren Jobs wegen, der erlaubt, die anderen ins Feuer zu schicken."
Klee beherrschte sich mühsam, seiner Stimme fehlte jegliches Öl. "Sie sind halb so alt wie ich, von unserm Rangunterschied zu schweigen. Finden Sie nicht, dass Sie unverschämt werden?"
Er wird langsam heiß, frohlockte es in Hesse. "Ich habe Sie gebeten, brutal offen zu sein, und hoffte, Sie gestatten mir das Gleiche."
"Sie haben sich hier eingeschlichen unter dem Vorwand, einige Fragen über die Wahl auf dem Herzen zu haben", fauchte Klee.
Er bereut, darauf eingegangen zu sein, dachte Hesse und stellte sachlich fest: "Das hat alles mit der Wahl zu tun. Sie haben sich als Kandidat vorgestellt, ich bemühe mich, auch diesen Kandidaten kennenzulernen."
"Und nun können Sie händereibend feststellen", höhnte Klee, "mein Auserkorener ist doch der Bessere."
Hesse lächelte boshaft. "Eher dachte ich an meine Kindheit. Wir hatten Maikäfer gern. Es waren hübsche Tierchen, sauber anzuschauen. Bis zu einem Groschen zahlten wir, um ihr harmloses Krabbeln in der eigenen Hand zu spüren. Für die Nacht sperrten wir sie in eine Zigarrenkiste mit Blättern. Morgens konnten wir dann sehen, was für ekelhafte Schädlinge es waren. Die Blätter waren zerfressen, dafür lag die Kiste voll dunklen Kots."
Klee stemmte die Fäuste in die Hosentaschen und starrte Hesse feindselig an. "Was wollen Sie damit sagen?"
"Ich weiß es, Herr Feldwebel, und nehme an, Sie auch."
Klee stieß seinen Kopf vor, und Hesse erschrak vor der Kälte in den Samtaugen. "Sie Pazifistenschwein."
"Wobei die Maikäfer noch gut abschneiden. Die fressen nur Bäume kahl. Aber es gibt Menschen, die gründen ihre Existenz auf Krieg. Dabei schlafen sie gut auf dem sanften Ruhekissen: Jeder sieht zu, wo er bleibt. Aber so einer darf nicht zum Lagersprecher gewählt werden. Und man wird Sie nicht wählen."
Klee sprang auf. "Ich verzichte auf Feiglinge und Vaterlandsverräter! Das Gesindel macht sich schon ganz allein kaputt!"
Hesse ging zur Tür. "Es wird Sie interessieren, Herr Feldwebel: Zecke hat zugunsten Wuntrams auf seine Kandidatur verzichtet."
"Raus! Oder ich vergesse mich!" Klees Stimme überschlug sich.
"Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Herr Feldwebel!" Hesse zog die Tür hinter sich zu. Während er durch die Dunkelheit ging, spürte er, dass er innerlich bebte. Es war eine angenehme Erregung. Gerade weil er so ausdauernder Behäbigkeit gegenübergetreten war, hatte er nicht geglaubt, den Feldwebel aus der gepolsterten Hülle reißen zu können. Dass es ihm doch gelungen war, machte ihn selbstbewusst und heiter. Der Triumph war wohltuend und ließ den persönlichen Kummer vergessen. Nie hätte Hesse gehofft, einmal einem Hitler-Spieß die Wahrheit ins Gesicht sagen, ihn in Rage bringen zu können. Der Bursche war schlau. Es war diese entsetzliche Schlauheit, die über Leichen geht.
Freitag war der letzte Tag vor der Wahl. Wuntram sparte sich die Neuigkeit bis zum Schluss des Morgenappells auf. Hesse fand, dass er sie beinahe zu sachlich mitteilte. Erhoffte er sich davon eine stärkere Wirkung, oder war ihm selbst nicht wohl dabei? Spontan brachten mehrere PWs ein Hoch auf die antifaschistische Lagereinheit und ihren Kandidaten Wuntram aus, das Echo kam aus über hundert Kehlen. Von den Kompanien in der Nähe waren ähnliche Kundgebungen zu hören. Trotz der Morgenkühle war Hesse warm ums Herz. Er meinte doppelten Grund zu haben, sich an der Ovation zu beteiligen.
Bauer fragte Hesse, ob sie ihn für die Kompanie als Helfer beim Stimmenauszählen melden könnten. Obwohl Hesse die erzieherische Absicht Bauers ahnte, sagte er in seiner Hochstimmung zu.
Die große Überraschung war Tagesgespräch. Corporals und Sergeants erklärten, dieser Hit habe ihnen das Wettgeschäft verdorben. Keiner war mehr bereit, auf Klee zu setzen.
Der Samstagnachmittag der Wahl war da, im Headquarter hatten neue Wahlzettel abgezogen werden müssen. In alphabetischer Reihenfolge, nach festgelegter Uhrzeit, sollten die einzelnen Kompanien abstimmen. Abstimmungsraum war jene Hälfte der Kantinenbaracke, in der sonst Leergut lagerte. Mit anderen Wahlhelfern inspizierte Hesse, ob alles ordentlich vorbereitet sei. Seinem kritischen Blick entging nicht, wie Suling das viele Gerümpel hastig und widerwillig in einer Ecke hatte auftürmen lassen. Da es die anderen hinnahmen, hütete sich Hesse, es zu beanstanden.
Mit Gesang und Transparenten rückte als erste die A-Kompanie an. Das helle Lied, die Geschlossenheit beeindruckten selbst Hesse. Zwar hatte er die Auseinandersetzungen in dieser und um diese Kompanie nur aus der Ferne wahrgenommen, es gehörte aber nicht viel Fantasie dazu, sich den zähen, verbissenen Meinungsstreit vorzustellen. Inzwischen hatte er den Namen seines Widersachers erfahren, dessen Boxhieb ihn vor Tagen beinahe zu Boden gestreckt hatte. Der untersetzte Hermann Vogel war einer der Radikalsten in der A-Kompanie, meist unterstützt und selten gebremst von dem kaum minder radikalen Leo Treborn mit der schwarzen, breitrandigen Brille.
Erwartungsvoll standen Corporals, Sergeants und Officers vor der Wahlbaracke. Hesse sah ihre Verblüffung über den Aufmarsch der A-Kompanie. Captain Shelter ließ beim Camp-Commander anrufen, falls er sich eine Sensation nicht entgehen lassen wolle, möge er sofort kommen. In Einerreihe gingen die Leute der A-Kompanie zur Wahlurne, einem versiegelten Pappkarton, der von einer paritätischen Wahlkommission argwöhnisch bewacht wurde.
Die Neugier trieb Hesse zum Terrain der Kompanie D. Klee hatte einen straffen Nachrichtendienst, Melder sausten heraus und hinein in seine Stube. Die Berichte vom geschlossenen Anmarsch der A-Kompanie lösten offensichtliche Bestürzung aus, Hesse musste an einen Ameisenhügel denken, in dem er als Knabe gestochert hatte. Das Gehaste der Sedisfüßler war aufregend gewesen, hinterher hatte es ihm leidgetan. Das hektische Durcheinander um den Herrn Feldwebel bereitete Freude. Die deutschen Soldaten hatten mit einem gemütlichen Spaziergang zur Wahlurne gerechnet, der Wahlmarsch der A-Kompanie forderte zu einer Gegendemonstration heraus. Die Zeitnot machte sie kopflos. Sie hatten weder Transparente noch ein gemeinsames Kampflied. Sie stritten sich, dass es bis auf die Lagerstraße zu hören war. Hesse hatte keine Scheu, näher zu gehen. "Wir müssen sie mit ihren Waffen schlagen", hörte er, "singen wir, Brüder zur Sonne ...''
"Sind wir Sozis?" fauchte Klee. "Dann rennt doch gleich, und wählt den Wuntram."
"Wollen Sie das Horst-Wessel-Lied singen lassen?" brummelte der Andere.
"Maul halten!" brüllte Klee, trat vor die Schreibstube und gab laute Befehle.
Kommandieren kann er, dachte Hesse, das macht einem deutschen Spieß so leicht keiner nach.
Der Kern der Kleeanhänger kam schnell und forsch, die Mehrzahl trollte sich nicht arg begeistert aus den Baracken.
"Nennt ihr das antreten?" schnauzte Klee auf die Nachzügler ein.
Sie maulten aufsässig und liefen keineswegs schneller. Unter den Angetretenen setzte sich halblaut, aber heftig die Diskussion um ein passendes Lied fort. Suling reckte sich und keifte: "Hier wird nicht gequatscht, hier wird befohlen und gehorcht!"
"Aber nicht dem Kantinenbullen!" polterte einer dagegen. Es roch nach Palastrevolution.
"Schnauze!" donnerte Klee und war so klug, schnell hintereinander die gewohnten Befehle zu geben. Nicht eben zackig, dennoch formierte sich die Kompanie zu Viererreihen.
Klee kommandierte den Abmarsch und nannte den Liedanfang. Stramm warf er die Beine, klar ertönte seine strenge Stimme: "Ein Lied - drei, vier!" Wenig begeistert, aber befehlsgewohnt wie alte Militärpferde, sangen seine Kameraden: "Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein ..."
Vor der Wahlbaracke wimmelte es von Schlachtenbummlern und von den PWs der A-Kompanie, die bereits gewählt hatten.
Als der Landserhaufen kam, empfingen ihn Lächeln und Gelächter. Die Kommandos von Klee gingen darin unter, seine Mannen führten sie uneinheitlich aus, und das war abermals Anlass zur Heiterkeit.
Colonel Stircke kam eben zu dem verunglückten Auftritt zurecht. Von der Disziplin der folgenden anmarschierenden Kompanien war er nicht weniger beeindruckt als seine Offiziere. Hesse hielt sich in der Nähe des Commanders, der die eindeutige Stimmung mit demokratischer Würde quittierte. Wissbegierig bat er Wuntram um die Übersetzung der Transparentlosungen und lobte die Ordnung und Disziplin.
Die letzten Wähler der letzten Kompanie schoben sich in den Raum. Hesse schlüpfte hinein zu seiner freiwillig übernommenen Arbeit.
Als sie etwa die Hälfte der Stimmen ausgezählt hatten, war allen klar: Wuntram hatte gesiegt. Hesse schaute sich in dem niedrigen Raum um, in dem es vor Spannung zu knistern schien, Er sah viele bekannte Gesichter. Klee sah er nicht.
Dr. Müller-Gera, ein Parteigänger Klees und stets geistreichelnder Intellektueller, war als Wahlvorsteher von der Wahlkommission gewählt worden. Er mochte der einzige sein, der es fertig brachte, mit lachendem Gesicht vor die wartende Menge der PWs hinzutreten und die Zahlen bekannt zu geben: Fast siebzig Prozent der Wählenden hatten sich für den Kameraden Wuntram entschieden.
Der Jubelruf ließ die Posten auf den Wachtürmen die Hälse recken. Begeisterte hoben Wuntram auf ihre Schultern, über den Köpfen hunderter PWs, die begeistert sangen, trugen sie ihn durch das Lager. Hesse befand sich mitten unter den Lärmenden dieses unangemeldeten Festumzugs, dessen Spontaneität nicht einmal Major Coare zu bremsen wagte. Als sie an der Schreibstube der D-Kompanie vorüberzogen, gingen vereinzelte Schmährufe unter in Sprechchören voll gutmütigen Spotts. Klee hatte aus dem Fenster seiner Stube gesehen und war blitzschnell wieder verschwunden.
Hesse rannte hinein und riss die Tür auf. "Wollen Sie ihrem Gegner nicht zum Sieg gratulieren, Herr Feldwebel? Das ist so üblich in Amerika!"
Klee starrte ihn an wie eine Erscheinung. Dann sprang er auf und brüllte: "Lecken Sie mich am Arsch!"
Lachend warf Hesse die Tür zu und schloss sich wieder dem Umzug an.
Im Headquarter war es an diesem Abend still.