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Ein Amt von Semmels Gnaden
ОглавлениеIrgendeiner hatte sie aus irgendeinem Papierkorb gefischt, und die Zeitung konnte erst wenige Tage alt sein. Hesse wusste auch nicht, weshalb der Kopf abgetrennt worden war. Seine Hände verkrampften sich, als er den Artikel las, über dem in Kursivschrift die Frage stand: "Funktioniert der Gestapo-Terror in USA ungestört weiter?" Darunter dann in Balkenschrift "Fememorde in Gefangenenlagern?" Zwar durften PWs Zeitungen abonnieren, doch derartige Artikel wurden von der Lagerzensur im Headquarter herausgeschnitten. Deshalb waren sie begehrt und gelangten immer schnell an einen Englisch sprechenden Kameraden, der sie übersetzte. Hesse ließ die Zeitung sinken. Was da stand, war zwar wegen der Zensur in der Überschrift mit einem Fragezeichen versehen, doch darunter kamen niederschmetternde Tatsachen. Die Affäre Malleck war kein Einzelfall, sie enthüllte ein System, das sich unter den Fittichen braver Lagerkommandanten neu etabliert hatte und unter anderen Umständen mit gleichen Methoden arbeitete: Drohung, Erpressung und, wenn das nichts fruchtete, Kameradenmord.
Hesse saß wie von zu großer innerer Spannung leicht gekrümmt. Bauer kam und setzte sich neben ihn. "Gratuliere. Bist von den Kompaniesprechern zum Kantinengehilfen gewählt worden."
Gewaltsam riss sich Hesse aus seiner Verbitterung. Ihn bewegten Fragen über Tod und Leben, und da kamen sie mit banalen Lagerangelegenheiten. Es ärgerte ihn auch, weil er wieder einmal die väterliche Hand Bauers zu spüren glaubte. "Der Vorschlag kam natürlich von dir."
Der Ältere wiegte den Kopf. "Wuntram hat mich darum gebeten."
Hesse warf den Oberkörper nach hinten und starrte gegen die Bodenbretter des Bettes über sich. "Ich bin kein Zahlenakrobat."
"Bilde dir bloß nicht ein, es ist deinetwegen. Wir brauchen dort einen musisch Veranlagten, der allerdings auch ein bisschen addieren kann, damit der Kantinenüberschuss wirklich dem Lager zufließt."
"Also auf Kampfposten gegen Captain Shelter."
"Endlich kapiert."
Obwohl der Makel eines Druckpostens von dieser Vertrauensstellung genommen war, spreizte sich Hesse noch. "Ich bin alles andere als ein starker Mann."
"Manchmal bist du ein Idiot. Aber manchmal hast du Lichtblicke. Einer war der, in Camp Grobber einen Kursus für amerikanische Buchführung zu belegen."
"Eine Laune. Mein Vater ist früher Buchhalter gewesen."
"Du hast viel gelesen und kannst sogar Gedichte machen. So einer wird doch gut aufpassen, dass der Kultur zukommt, was ihr materiell rechtens gehört."
Hesse richtete sich auf. "Meinetwegen."
Impulsiv schlug ihm Bauer auf die Schulter. "Geh bitte zu Wuntram. Er will dich zu Shelter bringen."
Wuntram saß in der kleinen Bürobaracke in der Nähe der Ballspielhalle und diktierte seinem Adlatus Kressert in die Maschine. Kurz begrüßte er Hesse und sah auf seine Armbanduhr. "Setz dich einen Augenblick, um halb sollen wir in der Kantine sein."
Ganz Wuntram, dachte Hesse, kein Wort der Anerkennung für meinen heroischen Entschluss. Wäre ich Karikaturist, würde ich ihn mit angewinkeltem Unterarm zeichnen, den Blick auf die Uhr am Handgelenk gerichtet. Damit kann man zur Geduld mahnen oder antreiben, man kann damit auch abwimmeln.
"Punkt, Gedankenstrich", beendete Wuntram sein Diktat. Dann folgte der charakteristische Blick auf das Zifferblatt. Er warf sich die graue Windbluse über den olivfarbenen Sweater und sagte zu Hesse: "Komm."
In der geräumigen Kantine türmten sich auf dem Ladentisch Pakete. Leere Kartons und Packpapier lagen herum. Shelter fetzte Umhüllungen ab, riss Kartons auf und machte Stichproben. Er tat, als hätte er die Eintretenden nicht bemerkt. Wuntram ging auf ihn zu und nahm militärische Haltung an. "Ich bringe den Canteen-Clark, Prisoner of War Heinz Hesse, PW-Nummer acht WG sechzehntausenddreiundsechzig. Er ist von den Kompaniesprechern einstimmig vorgeschlagen, Sir."
Shelter schaute spöttisch auf. "Auch von Klee?"
"Kamerad Klee hat keinen Gegenvorschlag gebracht."
"All right - thank you." Wuntram war entlassen. Shelter sah durch das Kantinenfenster, wie der Lagersprecher mit seinen kurzen, geschäftigen Schritten davoneilte. Der Captain strich das fahlblonde Clark-Gable-Bärtchen mit dem Zeigefinger und sagte amüsiert: "Der Fuchs wetzt zu seiner Höhle." Unvermittelt wandte er sich Hesse zu und fragte laut: "Oder nicht?"
Hesse wich aus. "Sie lieben spaßige Bilder, Captain."
Mit einem Tritt schoss Shelter einen leeren Karton durch den Raum.
Hesse begann aufgerissene Verpackungen zu entfernen und machte das naivste Gesicht, dessen er fähig war. Innerlich ärgerte er sich. Kaum bin ich da, schon prüft er, ob ihm ein Yes-Man gebracht worden ist.
Von draußen waren Schritte zu hören, dann stand Ede-Berlin in der Kantine und erklärte ohne Umstände und in nicht ganz fehlerfreiem Englisch: "Please, Captain, hier ist die vorläufige Aufstellung der unbedingt nötigen Requisiten für die Theatergruppe. An Vorschlägen für die Vergrößerung der Bühne in der Ballspielhalle arbeiten wir schon, aber als erstes machen wir Kabarett, und dafür genügt sie."
Als sähe er einen Irren, starrte Shelter Ede an und brüllte: "Go to hell!"
Ede-Berlin schrumpfte förmlich zusammen, todtraurig klagte er: "Es ist doch nicht für mich, Sir, und Sie haben selbst gesagt ... "
"Go to hell, son of a bitch" , brüllte Shelter noch lauter und warf einen leeren Karton nach Ede. Der kniff feixend ein Auge zu, als er Hesse schnell die Aufstellung hinschob, ehe er verschwand.
Der Leiter der Theatergruppe schien der ersehnte Blitzableiter für Shelters Ärger zu sein. Er belegte Ede mit den hässlichsten Ausdrücken. Einige sehr drastische aus dem Bereich der Erotik waren Hesse neu. Noch sei die Kantine nicht eröffnet, fluchte der Captain, noch habe kein Aas einen Cent für ehrliche Arbeit verdient, um ehrlich einkaufen zu können, da laufe ihm dieser Halbverrückte mit seiner albernen Theatergruppe die Bude ein.
Als er sich ausgeflucht hatte, war er etwas gnädiger gesonnen und erklärte Hesse, in welchem Regal er die Kandisstangen gelagert wünsche, die Drops, die gesalzenen Potato-Chips, die Maiskolbenpfeifen, den Tabak und das Zigarettenpapier, die Streichhölzer und die Zigaretten. Zum Sommer versprach er sogar eine Kühltruhe für Bier und Coca-Cola.
Erwartungsvoll wurde Hesse mittags von Ede in der Messhall empfangen. "Hast du ihm die Aufstellung unter die Weste gejubelt?"
"Nischt hab' ich. Auf mich ist die Semmel ebenso schlecht zu sprechen wie auf dich."
Eduard Nemlichs graue Augen hinter der Brille lachten. "Kunst, Kultur, alles was nicht zum Business gehört, ist ihm unheimlich. Jetzt rücken wir ihm damit auf den Pelz. Da brüllt er vor Unbehagen."
"Wann soll der erste Abend stattfinden?"
"Spätestens in vier Wochen. Heute Abend steigt die erste Probe.
Oskar Helowa und seine Jungens bringen Blackouts und ähnlich satirische Zeitbezogenheiten wie Mühsams Lied vom Lampenputzer. Bodo Girstenburg als Schnellzeichner. Eine Szene von mir aus einer Bombennacht in Berlin. Schlitt am Klavier mit dem Kanonensong und Mackie Messer. Eingestreut mehrmals Artistik. Als Schlussnummer: Hellmann in Hitlermaske. Hier ist das Manuskript der Rede. Bringe da noch mehr Pointen hinein. Siehst schon, alle großmäuligen Aussprüche des Gröfaz. Außerdem weißt du doch den halben Kästner auswendig. Wie wäre es, wenn du die Rezitation brächtest: "Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn?"
"Lass mich erst mal Luft holen."
"Verschnaufen mussten wir lange genug in McLoin. Jetzt 'ran an die Bouletten. Was du mit keiner politischen Rhetorik schaffst: Die Kultur wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift."
Helowa war mit dem Essen fertig, stand auf und winkte.
"Ich komme!" rief Ede und verabschiedete sich eilig von Hesse. "Gib der Semmel die Aufstellung. Deine Rezitation steht auf dem Programm. Außerdem rechnen wir mit dir als Texter und beim Rollenausschreiben. Tschüss."
Kopfschüttelnd sah Hesse dem Eiligen nach. Sie kannten sich von Camp Grobber, Oklahoma, Hesses erstem Lager in den USA. Im Compound II des Camps hatte Ede Nemlich das Theater mit aufgebaut. Seine Gedichte zu Zeit- und Lagerereignissen unter der Kennmarke "Berlinisches und Okla-homerisches" brachten ihm den Spitznamen Ede-Berlin ein. Die lebensgefährlichen Erlebnisse dort haben ihm nichts von seiner Theaterbesessenheit nehmen können, sann Hesse. Während sich unsereiner als wohlbehüteter Bürgersohn durch die Hitlerjugend schmuggelte, prügelten sich Ede und seinesgleichen in ihrer Jugend mit SA und Polizei herum, wurden später in Zuchthäusern und KZs hartgeklopft. Mit keinem hätte ich tauschen mögen. Der einzige Trost: Was sie sich mühsam an Wissen und Bildung zusammenklauben mussten, bekam ich auf dem Gymnasium mit. Ist das nicht naiv, was Menschen wie Bauer, Ede und Buschinski von den sogenannten Gebildeten erwarten? Warum lasse ich mich davon anstacheln? Wenn sie von meiner Feigheit wüssten, hätte ich nach ihrer Meinung versagt. Warum ist es so zwingend, wenn solch ein Berserker daherkommt und sagt: Du kannst den halben Kästner auswendig - rezitiere! Warum widerspreche ich nicht? Bauer ist ernst und väterlich, trotz der jungen Augen. An Ede ist der ganze Kerl jung, trotz der Brille. Ich kann ihn mir auch im hohen Alter nicht bedächtig und weise vorstellen. Im Gegensatz zu Wuntram mit seinem verborgenen politischen Ehrgeiz trägt Ede seinen kulturellen Ehrgeiz offen zur Schau.
Der Lärm des Mittagessens in der Messhall war verebbt. Hesse saß als letzter hier. Die Küchenbesatzung war bereits beim Tischabräumen. Ehe er hinauseilte, nahm er eine liegen gelassene Pampelmuse an sich. Derartige Köstlichkeiten betrachtete er als Entschädigung, weil er nicht rauchte. Etwas gerührt dachte er daran, dass ihn Ede als Einziger darin bestärkte. Bedrückt hatte Ede einmal gesagt, das Laster hänge ihm seit der Haftzeit an, als er ausprobiert habe, ob Nikotin vor Hunger rebellierende Magennerven zu betäuben vermöge.
Shelter war nicht mehr in der Kantine. Hesse krempelte sich die Ärmel auf. Zum Feierabend wollte er sämtliche Lieferungen in die Regale geräumt, den Kantinenraum ordentlich und gefegt haben. Möglich, dass es die Semmel besänftigte. Arbeit ist die beste Medizin gegen Kummer lautete einer der weisen Sprüche Papas.
Ein wenig erstaunt über sich selbst, stellte Hesse fest, dass er zu schwitzen begann und leise vor sich hinpfiff. Das ist schon lange nicht mehr vorgekommen. Jetzt fehlt nur noch ein Brief von zu Hause. Ein Brief von Eliza wäre schon beinahe märchenhaft. Alle warten sie hier auf Briefe. Kriegsgefangene gewöhnen sich daran. Auf ein Lebenszeichen Elizas warten zu müssen ist zermürbend. Ob sie meinen Brief aus McLoin nicht bekommen hat?
Kurz vor zweiundzwanzig Uhr - offizielle Schlafenszeit, zu der alles Licht in den Baracken erlosch - trat Hesse beim Lagersprecher ein und hängte den Kantinenschlüssel an den Nagel. Wuntram und Kressert arbeiteten noch. Sie hatten Erlaubnis, später schlafen zu gehen.
Von der ungewohnten Arbeit rechtschaffen müde, trabte Hesse zu seiner Baracke. Die geflüsterten Anpflaumereien der Kameraden, ob er so lange gebraucht hätte, alle Leckereien der Kantine durchzuprobieren, beantwortete er nicht.
Erst am nächsten Vormittag um elf tauchte Shelter wieder auf. Hesse verbarg rasch das Manuskript Edes, an dem er gearbeitet hatte, und meldete, dass inzwischen neue Lieferungen eingetroffen seien. Der Captain schenkte der Ordnung in der Kantine keine Beachtung und wollte die meisten Waren in den Regalen nun anders untergebracht haben. Die Aufzeichnungen Hesses betrachtete er mit unverhohlenem Missfallen. Ob Hesse gelernter Buchhalter sei? Als der wahrheitsgemäß verneinte, fand die Semmel allerhand zu nörgeln. Auskünfte über Lieferpreise gab er nur widerwillig, erklärte, sie seien ohne Gewähr, die Lieferzettel wolle er bei Gelegenheit heraussuchen. Ohne sich zu verabschieden, war er wieder verschwunden. Und dort lag immer noch die Aufstellung Edes. Hesse schlüpfte erst in die Messhall, als Ede sie bereits verlassen hatte. Unter dem Murren des Küchenkommandos verschlang der Nachzügler Gulasch mit Brei aus Yam. Diese süßfade Kartoffel, Urmutter aller Kartoffelsorten, behagte keinem deutschen Gaumen und war als Rachegericht der Küchenbesatzungen verschrien.
Beunruhigt wartete Hesse am nächsten Vormittag wieder auf Shelter. Von Wuntram wusste er, dass nächstens Lagergeld auf Vorschuss ausgegeben werden sollte. Begann erst der Verkauf, so würde es immer schwieriger werden, die Buchhaltung nachträglich in Ordnung zu bringen. Shelter kam noch später als tags zuvor. Hesse hatte einen Briefumschlag mit der Anschrift des Captains versehen, Edes Aufstellung hineingetan und den Umschlag zugeklebt. Todernst übergab er ihn Shelter. Der riss den Umschlag auf. Dann zerknüllte er die Aufstellung und nahm sie auf die Stiefelspitzen. Er schien gern Fußball zu spielen.
Unbewegten Gesichts fragte Hesse nach den Lieferscheinen. Shelter fing wieder an zu brüllen. Ob Hesse glaube, ein Clark werde in die Kantine gesetzt, um einen Captain zu kommandieren? Auf jede dieser hohntriefenden Fragen erwiderte Hesse: "No, Sir." Als sich die Semmel beruhigt hatte, beging Hesse den unverzeihlichen Fehler, zu erklären, er habe gelernt, eine Buchhaltung habe nur Sinn, wenn sie laufend und korrekt geführt werde. Mit der letzten Lieferung sei das Sortiment um das Doppelte gewachsen, und das Nachtragen werde immer schwieriger.
Shelter stemmte die Arme in die Hüften. Da habe ihn der Mister Hesse also belogen. Oder wer habe erklärt, nicht Buchhalter gelernt zu haben? Bedenklich, bedenklich, ein Clark, der es mit der Wahrheit nicht genau nehme. Hesse wagte richtigzustellen, er habe lediglich an einem Kursus für amerikanische Buchführung teilgenommen.
Schmetternd warf der Captain die Tür hinter sich zu.
Mit einer Art trotziger Schadenfreude setzte sich Hesse beim Mittagessen neben Ede und legte ihm wortlos das Bällchen Knüllpapier hin. Der steckte es gelassen in die Tasche. "Bereits überholt. Die neue Aufstellung ist doppelt so lang."
"Ob lang oder kurz, wenn der Herr über Geld und Kasse sie ignoriert, sind sie Knüllpapier. Aber um gerecht zu sein, noch ist kein Verkauf, die Kantine hat also keinen Überschuss."
Ede blinzelte Hesse über die Brille an. "Bezahlt wird später. Aber wenigstens bestellen muss er das Zeug."
Betroffen fuhr sich Hesse durch das dunkelblonde, leicht wellige Haar. "Hast ja recht - wie immer. Wir müssen die Semmel also überlisten. Aber wie?"
"Aber wie?" wiederholte Ede abwesend und aß so gedankenverloren, dass er auch Yambrei gelöffelt hätte, ohne es zu bemerken. Inmitten des Tellerklapperns und Schurrens, des Summens der Gespräche begann er plötzlich, eilig einen Bleistiftstummel über einen Zettel zu führen. Der Raum leerte sich. Hesse harrte aus, gespannt, was kommen würde. Ede warf den Bleistift hin, begann monoton herunterzurasseln: "Ringe, Bänder, Schnüre, Ketten, / Tücher, Schachteln und Rosetten, / kurze, lange Unterhosen, / Schreibpapier und seltene Dosen, / Hemden, Jacken, Mützen, Hüte, / Mückenschleier jeder Güte, / krumme Stiebel, alte Brillen, / Binden, die den Leib umhüllen, / alles das, was euch nicht sitzt, / wird von uns noch ausgenützt. - Was hälst'n davon?"
"Großartige Gebrauchslyrik."
"Quatschkopp. Das ist der Schluss vom Aufruf der Theatergruppe, die jene Dinge am Sonntagvormittag sammeln wird."
"Und du glaubst, das hat Erfolg?"
"Wir werden einen Fundus kriegen, um den uns jedes Provinztheater beneidet. Aber der Hauptwert des Rundschreibens liegt ganz woanders. Wollen wir wetten, dass mich Shelter in einigen Tagen bittet, ihm endlich die längst fälligen Vorschläge zu unterbreiten?"
Hesse tat, als nähme er die Wette ernst. "Topp - ich wette um einen Schminkkasten für unser Theater, dass der Kabarettabend steigt und ihr noch nicht einen Cent von der Semmel erhalten habt."
Wenige Tage später hatte Hesse die Wette verloren. Wie alle anderen fand er abends auf seinem Bett jenen Aufruf. Obwohl er wusste, wie viel Sympathie Theater und Theaterleute in jedem Lager genossen, hatte er nicht mit einem derartigen Widerhall gerechnet. Kaum einer, der nicht schon jetzt mit einer Revision seiner Habseligkeiten begann.
Der Aufruf landete auch im Headquarter, und der Camp-Commander ließ den Lagersprecher zu sich kommen. Wuntram wisse doch, dass jedes Druck-Erzeugnis genehmigt sein müsse, warum er diesen illegalen Aufruf zugelassen habe? Wuntram betonte, er habe davon nichts gewusst, verbürge sich aber, dass derartiges nicht mehr vorkomme. Das besänftigte des Colonels dienstliches Gewissen, und schon etwas weniger dienstlich erklärte er, diese Lumpensammelaktion sei nicht gerade ehrenhaft für das Lager, warum nicht der zuständige Recreations-Officer um Unterstützung gebeten worden sei?
Captain Shelter habe mehrmals erklärt, das hätte noch Zeit, erwiderte Wuntram. Er durfte gehen und sah, wie der Colonel zum Telefonhörer griff.
Am nächsten Morgen kam Shelter in die Kantine gezetert, wo nur dieser unmögliche Nemlich stecke.
Hesse war versucht, Ede herbeizuschaffen. Im letzten Augenblick bremste er sich. Jetzt suchte die Semmel den Theaterleiter. Das musste man auskosten.
Hesse zog ein Bündelchen Canteen-Bons aus der Tasche, den Vorschuss, den alle bekommen hatten, und zeigte es Shelter. "Würden Sie gestatten, Sir, dass ich mir jetzt eine Tüte Potato-Chips kaufe?"
Der Captain sah Hesse mitleidig an. Ob er ihm mit diesem Trick weismachen wolle, er habe bisher zwischen all dem Kram hantiert, ohne zu probieren? Erschrocken erklärte Hesse, ohne eine scharfe Grenze zwischen eigenem Geld und Kantinenkasse dürfte eine klare Buchführung nicht möglich sein.
Leise zischte Shelter, einer, der an der Quelle sitze und nicht trinke, sei ein Idiot und sei gänzlich untauglich für jedwedes Business.
Hesse tat, als nähme er die Äußerung des Captains für Scherz. In Wahrheit wusste er, dass sich eben etwas entschieden hatte, lieber gleich als später, dachte er. Ich habe schon zu viel erlebt. Dieser geschäftstüchtige Captain ist dagegen ein kleiner Fisch. Allerdings können auch viele kleine Fische ein Fass füllen, bis es überläuft. Doch jetzt muss ich Obacht geben, dass ich die Maßstäbe nicht verliere. Gäbe es nur die Shelters, Amerika wäre für mich nicht das Problem. Deshalb sollten mich die Praktiken der Semmel nicht allzu arg erregen.
Hesse zeigte dem Captain die Warenliste und sagte, den Verkaufspreis der meisten Artikel habe er eingetragen, er stehe bei vielen auf den Verpackungen, es handle sich jetzt hauptsächlich um die Einkaufspreise, die fehlten.
Diesmal lächelte der Captain verdächtig, warf sogar einen Blick auf die sauber getippte Aufstellung. "Kommt noch, mein Söhnchen. Ihr seid alle zu ungeduldig, die Gefangenschaft ist morgen noch nicht zu Ende."
Plötzlich stand Ede in der Kantine. Er habe gehört, der Captain suche ihn. Deshalb sei er vom Lagersprecher, wo sie die Frage seines künftigen Jobs geklärt hätten, sofort hierher geeilt.
Shelter riss die flinken Schweinsäuglein auf. Seines Wissens habe Nemlich doch den Job des Theaterleiters. Außerdem solle er die Verantwortung für die Spielhalle übertragen bekommen, das heißt, für ihre Sauberkeit sorgen und für die Instandhaltung und Umwandlung zu einem Theater und Kino verantwortlich sein. Die Bestuhlung sei bestellt worden, sobald sie installiert sei, würden die ersten Filme anrollen. Das bedeute all diese tausend Dinge organisieren, die Film- und Bühnenkunst benötigten. Und als Director of arts scheine ihm da Nemlich nicht der Falsche.
"Möchte man annehmen, Sir", seufzte Ede beglückt, "können Sie mir darüber ein Papier ausschreiben, falls sich mal ein Gang durchs Lagertor zum Headquarter notwendig macht?"
Das könne der Lagersprecher tun, bemerkte Shelter, er werde dann unterschreiben. Aber wie sei das nun mit dem zusätzlichen Job? Den müsse Nemlich dann wohl wieder abgeben?
Ede zerdrückte eine unsichtbare Träne. Selten ernähre die Kunst ihren Mann. Sie seien drei, alle vom Theater. Wenn sie sich ranhielten, würden sie die bezahlte Arbeit - Ash-and-Trash-Kommando für die GI-Baracken - bis jeweils zum Mittag schaffen.
Eigentlich eine Schande, dass die PWs jede Arbeit bezahlt bekämen. In Erwartung der Wirkung dieses Seitenhiebs strich sich Shelter das fahle Bärtchen. Wie er in der Zeitung gelesen hätte, müssten die Kriegsgefangenen der Russen so etwas unentgeltlich machen, da würden nur qualifizierte Facharbeiter bezahlt.
Ede tat, als dächte er laut. "Demnach wären wir also im Himmelreich gelandet."
"Was sagt er?" erkundigte sich Shelter misstrauisch bei Hesse.
"Er meint, Sir, leider wüssten viele ihr Glück nicht zu schätzen."
Der Captain sah nicht so aus, als traue er der Übersetzung, und spottete: Fürwahr, ein einmaliges Glück, diese Kombination. Fort Heavens Direktor der Künste klaube am Vormittag Asche und Dreck zusammen.
Ede grinste naiv. Arbeit schände doch wohl nicht, und da sie ihn finanziell unabhängig mache, könne er um so unabhängiger das kulturelle Leben im Lager ankurbeln helfen.
Shelter brach das Thema mit der Frage nach der Aufstellung ab. Eifrig strich Ede die Liste auf dem Ladentisch glatt und begann einzelne Positionen zu begründen.
"Shut up", sagte Shelter gemütlich und schob das wichtige Papier achtlos in die Tasche neben dem Revers seines Offiziersjacketts. Die einzelnen Punkte möge Corporal Trailshag prüfen, der morgen hier seinen Dienst als Assistant of the Recreations-Officer antrete.
Ede sah Hesse an, und das hieß: Jetzt hat er sich jemand verschafft, auf dem er alles abladen kann.
Ungeduldig wartete Ede mittags auf Hesse. Der hatte sich noch nicht hingesetzt, als der neugebackene Director of arts zu erläutern begann: "Das Beste vom Ash-and-Trash hab' ich der Semmel natürlich nicht auf die Nase gebunden. Zu den GI-Baracken gehören doch auch welche von den WACs, dem weiblichen Hilfskorps der Armee."
"Und da hofft ihr auf eine kleine Anlache oder so?"
Nachsichtig schüttelte Ede das Haupt. "Was meinst du, welche grandiose Ausbeute für den Theaterfundus die WAC-Baracken bieten? Ich kenne Amerika und seine Verschwendung: Seidenstrümpfe, Lippenstifte ... "
"Wie willst du das ins Lager kriegen?"
Ede kniff ein Auge zu. "Where there is a will, there is a way. Prima Englisch, wie?" Plötzlich starrte er Hesse an. "Ich habe das dunkle Gefühl, es freut dich nicht."
Hesse ließ die Mundwinkel hängen. "Ich habe das dunkle Gefühl, der Job bei der Semmel hat die längste Zeit gedauert."
"Aha." Ede pfiff durch die Zähne. "Er hat begriffen, weswegen wir dich da hingesetzt haben. Neben dem Corporal Trailshag wird er sich noch einen genehmen Canteen-Clark aufpicken, und dann ist er gegen unsere Zudringlichkeiten genügend abgeschirmt."
"Aus dir wird noch mal ein berühmter Kriminalautor", spottete Hesse.
Ede überhörte es. "Dann wirst du eben eine Lagerfunktion übernehmen, in der du dem Theater mindestens ebenso nützt."
"Hauptsache, dein Theater floriert", murrte Hesse, "meine individuelle Tragik ist nebensächlich."
Kressert trat an ihren Tisch und bat Hesse, nach dem Essen zu Wuntram zu kommen.
"Wetten", triumphierte Hesse, "dass sich jetzt mein Kassandraruf bestätigt?"
"Wetten um einen Schminkkasten fürs Theater, nicht wahr?" höhnte Ede, "damit du ihn wieder zurückgewinnst. Nicht in die Tüte. Ich befürchte, deine Unkerei behält diesmal recht. Trag es mit Würde, Freund!" Mit Schulterschlag verabschiedete sich Ede.