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Das wurmzerfressene Haus

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Als er das Haus seiner Eltern betrat, vernahm er so­gleich die Stimme seiner Mutter, die ihm aus der Küche entgegenkam.

»Philip Korsakoff, würde es dir etwas ausmachen, die Tür künftig ein wenig leiser ins Schloss fallen zu lassen?«

Nein, es machte ihm nichts aus.

»Hast du wieder gekungelt?«

»Nein, verflucht, habe ich nicht«, antwortete er und hielt ihr seine leeren Hände entgegen.

»Darf ich deine Taschen sehen?«

Ja, sie durfte. Philip zog zuerst das linke, dann das rechte Futter seiner Taschen hervor und lieferte ihr den Beweis dafür, zu Unrecht verdächtigt zu werden. Eigentlich bedeutete ihm das Kungeln nichts mehr. Doch die Anrufe empörter Eltern, mit deren Söhnen er gele­gentlich kungelte, hatten ihm einen zweifelhaften Ruf, den Beinamen Kungelboy und in der kommenden Woche einen Gesprächstermin beim Psychologen eingebracht.

»Na gut«, sagte seine Mutter nach einem kritischen Blick und ließ ihn in sein Zimmer gehen.

Als er die Tür leise geschlossen hatte, zog er die Gardine beiseite, öffnete den Fensterflügel, nahm das Chang von der Außenfen­sterbank und steckte es in seine rechte Hosentasche. Mit Streichen wie diesem waren Gameboyspiele, CDs, Walkmans, Bücher, Comics, Filme und andere Kostbarkeiten unbemerkt in sein Zimmer geschmuggelt worden, seit seine Eltern ihn miss­trauisch kontrollierten. Philip war dabei, sich das aus Langeweile und Trotz entstandene Kungeln abzugewöh­nen, doch sein zweifelhafter Ruf schien an ihm zu kleben.

Er schaltete den PC auf seinem Schreibtisch ein. Während der Rechner zu summen begann und der Bildschirm sein Auge öffnete, blickte er durch das Fenster zum nahegelegenen Bach, an dessen mit Brennnesseln be­standenem Ufer das wurmzerfressene Haus darauf war­tete, irgendwann vor dem Winter niedergerissen zu wer­den. Schon als kleiner Junge hatte er am gluckernden Wasser gespielt und mit den anderen Kindern Steine in die Scheiben des al­ten Hauses geworfen. Nun waren die Fenster mit Brettern vernagelt. Er hoffte, das Haus würde noch bis Halloween überleben, denn an diesem Tag sollte Dirk, mit dem er sich seit Beginn des Schuljahrs öfter traf, seine nächtliche Mutprobe be­stehen. Es war ein gruseliger Spaß, für den sie einer­seits schon zu alt, andererseits noch nicht alt genug waren.

Als Philip die Verbindung zum Chatroom hergestellt hatte, schickte er Dirk seine Nachricht:

SUCHST DU DAS ABENTEUER, DAS GLÜCK, DAS BESONDERE? DANN MUSST DU DEN WEIßEN KNOPF DRÜCKEN.

Keine Antwort. Wahrscheinlich lag Dirk auf seinem Bett und sah fern, während der eingeschaltete Computer in der hinteren Ecke seines Zimmers unbemerkt vor sich hin flimmerte. Dirk war mit seiner Familie erst vor wenigen Monaten in diese Stadt gezogen. Für Leute, die nicht immer hier gewohnt hatten, verwendete Philips Mutter manchmal das Wort Zugezogene. Seinen Vater, der als Einheimischer galt, bezeichnete sie hingegen manchmal als zugeknöpft. Er tippte den nächsten Satz:

BIST DU BEREIT, DEINEN MUT AUF HALLOWEEN ZU BEWEISEN?

Zuerst sah es aus, als würde die Antwort ausblei­ben, doch dann erschien langsam auf dem Bildschirm, Buchstabe für Buchstabe, Dirks Erwiderung:

ICH DACHTE, DAS WÄRE NUR EIN SCHERZ. WAS SOLLTE ICH DENN TUN?

Philip antwortete:

DU WEIßT ES.

NICHT MEHR GENAU. - ES GEHT UM DAS WURMZERFRESSENE HAUS.

DU HAST ES ALSO NICHT VERGESSEN. - WEIßT DU AUCH, WER NOCH IMMER IM KELLER DES WURMZERFRESSENEN HAUSES LEBT?

DER MANN MIT DEM WURMZERFRESSENEN GESICHT. HAHAHA.

EINE NACHT MUSST DU ALLEIN IN DEM HAUS BLEIBEN. DANN HAST DU DIE MUTPROBE BESTANDEN. BIST DU BEREIT?

Wieder zögerte Dirk. Dann mailte er:

LASS DOCH DEN QUATSCH. ES GIBT KEIN ABENTEUER UND ES GIBT AUCH KEINE MUTPROBE. AUßERDEM DARF ICH NICHT MEHR MIT DIR SPIELEN.

WER SAGT DAS?

MEINE MUTTER. SIE WEIß VON DEM KOPFHÖRER, DEN DU MIR ABGEKUNGELT HAST. SIE WILL BEI DEINEN ELTERN ANRUFEN.

Manche Dinge ließen sich nicht am Bildschirm lösen. Eilig tippend stellte Philip seine Frage:

WANN KÖNNEN WIR UNS SEHEN?

MORGEN. IN DER SCHULE.

HEUTE NICHT MEHR?

ICH DARF NICHT AUS DEM HAUS GEHEN. AUßER -

AUßER?

NA, UM 6. ICH MUSS DIE MILCH VOM BAUERN HOLEN: HEUTE ABEND GIBTS BEI UNS MILCHREIS MIT HEIßEN KIRSCHEN.


Philip wartete hinter der Litfasssäule, bis er Dirk in der Abenddämmerung mit der Milchkanne aus dem Torbogen des Erlenhofes kom­men sah. Langsam schlenderte er ihm entgegen.

»Da bist du ja.«

»Meine Mutter ist stinksauer auf dich«, sagte Dirk.

»Wegen dem blöden Kopfhörer?«

»Der hat über 50 Mäuse gekostet.«

»Rauscht und knistert aber trotzdem. Kannst ihn gleich zurück haben«, sagte Philip und gab ihm die Plastiktüte.

»Die zwei CDs bringe ich morgen zur Schule mit«, sagte Dirk. Er machte nicht den Eindruck, als wolle er weiter über die Sache reden.

Philip spürte die warmen Strahlen der Abendsonne durch seinen wollenen Pullover hindurch. Er frag­te: »Kannst du deine Mutter dazu bringen, nicht bei uns zu Hause anzurufen?« Er fügte bedrückt hinzu: »Es wäre sonst eine Katastrophe.«

»Versuchen kann ichs«, antwortete Dirk. »Aber rechne mit dem Schlimmsten. Sie hat was gegen dich.«

Zwei Mädchen mit Gitarrentaschen gingen vor­über. Auf der anderen Straßenseite leerte der Postbote einen Briefkasten bei der Telefonzelle. Da fiel Philips Blick auf die Milchkanne.

»Ich wollte dir noch den Trick zeigen.«

»Was fürnTrick?«

»Du hast doch nicht geglaubt, ich könnte eine Milchkanne durch die Luft schleudern, ohne dabei Milch zu verlieren.«

Ungläubig entgegnete Dirk: »Ich weiß. Leute mit Mut müssen mit allen Wassern gewaschen sein. Vor allem mit Milch. Wie soll man eine Kanne durch die Luft schleu­dern, ohne -«

»Ich zeigs dir. Gib mal her, die Kanne.«

»Lieber nicht.«

Chang machte es gedämpft in Philips Hosentasche, als er den Knopf des Glücksbringers gedrückt hatte.

»Angst?«

»Na gut«, sagte Dirk ohne Überzeugung. »Hier. Aber pass auf. Ich hatte heute schon genug Scherereien.«

Philip ließ die halb gefüllte Milchkanne am Henkel wie ein schweres Uhrpendel über dem Bürgersteig hin und her schwingen, dann vergrößerte er den Schwung, fasste Mut - - - und ließ sie zweimal!, dreimal! durch die Luft sausen, oh­ne einen Tropfen Milch herausfließen zu lassen.

»Gut«, sagte Dirk überrascht. »Echt gut.«

»Jetzt bist du dran.«

»Meinst du, ich schaffe es?«

»Du schaffst es. Weiß ich ganz genau.«

Während die Kanne in Dirks Hand über dem Bürgersteig zu pendeln begann, sagte er: »In der nächsten Zeit solltest du meiner Mutter besser aus dem Wege ge­hen.« Dann schleuderte er die Kanne einmal durch die Luft. »He, ich habs geschafft. Prüfung be­standen.«

»Sag ich doch. Ist kinderleicht.«

Dirk öffnete den Deckel, tauchte den linken Zeigefinger erst in die Milch und dann in den Mund.

»Ich dachte schon, die Milch wäre in der Kanne festgefroren.«

»Festgefroren«, sagte Philip kopfschüttelnd, während sie die Straße überquerten. »Im Oktober.« Sie gingen über den Schotterplatz zum Haus von Dirks Eltern.

»Hätte ja auch irgendein anderer fauler Trick sein können.«

»Das ist kein fauler Trick.«

»Ausnahmsweise hast du mal Recht«, gab Dirk zu. »Der Trick ist gut.« Einen Moment blieb er stehen »Stimmt es, was über dich erzählt wird?«

»Was wird denn erzählt?«

»Du sollst zum Seelenklempner?«

Woher wusste Dirk davon? Wahrscheinlich waren alle darüber informiert. Er antwortete: »Und wenn schon - eine an­steckende Krankheit habe ich jedenfalls nicht. - Hat deine Mutter sonst noch was gegen mich?«

»Was weiß ich. Sie sagt jedenfalls, du hättest einen schlechten Einfluss.«

»Auf wen?«

»Auf mich.«

»Blödsinn. - Wieso denn?«

»Sie meint, durch dich komme ich nur in Schwierigkeiten.«

Philip schwieg. Dirks Mutter wetterte und hetzte im Hintergrund seit Wochen gegen ihn. Das wusste er bereits. - Er sah nun, wie Dirk die Milchkanne pendeln ließ, erst langsam, dann schneller - - - einmal, zweimal kreiste sie durch die Luft. Plötzlich wurde die Drehbewegung lang­samer. Dirk blickte an sei­nem aufgerichteten Uhrzeigerarm in die Höhe, so als wolle er prüfen, ob nicht doch ein fauler Zauber hinter dem Trick stecke.

»Was für Schwierigkeiten?«, fragte Philip sei­nen Freund.

Im gleichen Moment löste sich der Plastikdeckel der Kanne und die Milch ergoss sich wie ein Sturzbach über Dirks Kopf.

»Solche Schwierigkeiten«, prustete er und schüttelte sich. »Mann, was sage ich denn jetzt meiner Mutter?«

»Versuchs einfach mal mit der Wahrheit«, sagte Philip, steckte beide Hände in die Taschen, wandte sich von Dirk ab und schlenderte langsam die Straße hinunter in die Richtung des wurmzer­fressenen Hauses.

KUNGELBOY

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