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Eine Lampe fällt von der Decke
ОглавлениеFür Philip war sein Vater der Mann, der niemals Zeit hatte. Seine Mutter war die Frau, die immer putzte. Umgekehrt wäre es Philip lieber gewesen: Der Mann, der immer Zeit hatte; die Frau, die niemals putzte. Aber wie die Dinge lagen, musste er mit dem Leben, das er führte, zurecht kommen. Er fühlte sich eigentlich unzufrieden. Er wollte etwas, ohne genau zu wissen, was. Irgendetwas sollte sich ändern. Sein Vater konnte ihn zum Beispiel fragen, wie es in der Schule war oder so.
Dirks Mutter fiel ihm plötzlich ein. Es wäre besser, wenn sie seine Eltern nicht anrief, denn wenn sie behauptete, der Kopfhörer hätte vor dem Tausch nicht gerauscht, würde niemand ihm seine Unschuldsbeteuerungen glauben. Wer einmal lügt, ging es ihm durch den Sinn.
In seinen Gedanken beschäftigte Philip sich mit dem Chang. Er hatte noch immer keine Gewissheit, ob ein heimlicher Knopfdruck dem Leben wirklich eine Wendung gab. Zufälle ereigneten sich ständig. Es war richtig gewesen, Dirk nicht einzuweihen in sein Geheimnis.
Beim Abendbrot in der Küche aß sein Vater Gulaschsuppe aus einer großen Tasse. Seine Mutter begnügte sich mit einem Salat. Philip bestrich sein Brot mit Tomatencreme. Der Tee schmeckte wie ein kleiner Kupferpfennig roch. An der Wand über dem Herd tickte die Uhr. Die Gulaschsuppe dampfte. Der Salat knackte zwischen den Zähnen seiner Mutter. Eigentlich passierte fast nichts. Auf dem freien Stuhl am Tisch saß der Mann mit dem wurmzerfressenen Gesicht und kaute gelangweilt an seinen Fingernägeln. Es würde keine bösen Überraschungen geben. Philip fragte sich, ob vielleicht die Lampe von der Decke fiele, wenn er jetzt den Knopf drückte. In seinen Fingern kribbelte es. Er wollte sich beherrschen, aber seine rechte Hand hatte ihren eigenen Willen.
Chang, machte es leise.
Im Innern der Lampe begann es bedrohlich zu summen.
»Wie wars heute in der Schule, Philip?«, fragte sein Vater unverhofft. Das hatte er noch nie getan. Zumindest lag es sehr lange zurück, denn er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Sein Vater war der Meinung, mit ihm stimme etwas nicht, weil er ihm mehr und mehr entglitt. Suchte er deshalb das Gespräch?
»Wir haben einen neuen Lehrer«, sagte Philip. »Er vertritt Frau Lustig.«
»Hat sie schon ihr Baby?«, wollte seine Mutter nun wissen. Ihre Frage klang etwas gekünstelt. Aber eine gekünstelte Frage war besser als gar keine Frage.
Das kribbelnde Summen in der Lampe über dem Küchentisch erstarb.
»Nein. Lange kann es nicht mehr dauern, sagt Herr Rabauke.«
»Rabauke«, murmelte sein Vater trocken, wobei er eine verneinende Kopfbewegung machte. Er zupfte kleine Stückchen seiner Weißbrotschnitte in die heiße Gulaschsuppe.
»Herrn Rabaukes Vater war Pommesbudenbesitzer. Sein Großvater hütete Schafe auf den Weserwiesen. Wir haben in der Klasse über unsere Eltern gesprochen.«
»Ach«, sagte seine Mutter interessiert.
»Wir mussten erzählen, was für Berufe unsere Eltern haben. Heini und Norbert meinten, Irmas Vater hätte einen Scheiß-Job. Deshalb wollte sie zuerst nicht mit der Sprache rausrücken, aber dann tat sie es doch.«
Sein Vater räusperte sich. »Dürfen wir auch erfahren, welche Bewandtnis es damit auf sich hat?«
So leise wie es über Irmas Lippen kam, sagte Philip, was er wusste.
»Könntest du vielleicht etwas lauter sprechen?«, fragte seine Mutter. »Ich habe dich nicht verstanden. Was ist Irmas Vater nun von Beruf?«
»Liftboy.«
Sein Vater atmete hörbar gereizt durch die Nase. »Es ist unglaublich, mit was für einem Unsinn die Kinder heutzutage in der Schule konfrontiert werden. - Pommesbudenbesitzer. Schafhirte. Liftboy.«
»War dein Vater nicht Gabelstaplerfahrer?«, fragte Philip.
»Er hatte ein Hochschulstudium, abgebrochen zwar, aber immerhin. Das - das ist eine verzwickte Geschichte, die nicht hierher gehört.«
»Was ist denn Dirks Vater von Beruf?«, erkundigte seine Mutter sich.
»Baggerführer.«
»Was hast du geantwortet, als euer Lehrer nach meinem Beruf fragte?«
»Ich habe gesagt, du putzt halbtags das Haus und verkaufst nachmittags in der Stadt Antiquitäten.«
»Das mit dem Putzen hättest du dir ruhig verkneifen können.«
»Stimmt aber doch.«
»Wollte dein Lehrer auch den Beruf deines Vaters wissen?«
»Bankangestellter, habe ich gesagt.«
Sein Vater schob die halbleere Tasse von sich, stand wortlos auf und verließ mit düsterer Miene die Essküche.
»Philip Korsakoff«, nahm seine Mutter den Faden erneut auf. »Ich hoffe, dir ist nicht entgangen, wie sehr du soeben deinen Vater sehr enttäuscht hast.«
»Warum? Verstehe ich nicht.«
»Zwischen einem kleinen Bankangestellten und dem Leiter einer florierenden Hauptzweigstelle gibt es einen himmelweiten Unterschied. Ist dir das jetzt klar?«
»Klar«, sagte er.
»Was soll dein Lehrer denn jetzt nur von uns denken?«
Der Mann mit dem wurmzerfressenen Gesicht bohrte gelangweilt in der Nase. Er hielt sich aus allem heraus. Philip drückte den roten Knopf. Für heute hatte er genug Veränderungen erlebt.
Doch plötzlich läutete das Telefon.