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2.2 Wörter und Wortformen
ОглавлениеIm Zusammenhang mit dem Begriff des grammatischen Worts haben wir bereits gesehen, dass in der Regel ein Unterschied gemacht wird zwischen einem (abstrakten) Grundwort, das in unserem mentalen Lexikon gespeichert ist, und den konkreten Realisierungsformen dieses Grundworts in bestimmten syntaktischen Umgebungen. Grundlage dieser Unterscheidung ist die Beobachtung, dass sich Wörter nicht nur hinsichtlich Lautgestalt und Bedeutung unterscheiden (wie z.B. Gurke und Wolke); wir können auch feststellen, dass ein und dasselbe Wort abhängig vom syntaktischen Kontext, in dem es auftritt, unterschiedliche Formen annimmt:
(7) | a. | Lydias Bruder spielt gerne Fußball. |
b. | Mit den Brüdern von Lydias Freundinnen verhält es sich ähnlich. | |
c. | Lydia teilt die Fußballeuphorie ihres Bruders. |
In (7) tritt das Wort Bruder in drei verschiedenen Formen auf, die unterschiedliche Werte für Kasus und Numerus signalisieren: Nominativ + Singular in (7a), Dativ + Plural in (7b) und Genitiv + Singular in (7c). Traditionell wird das Phänomen, dass ein Substantiv abhängig vom syntaktischen Kontext in verschiedenen Formen auftritt, als Deklination bezeichnet. So kann die Form Brüdern nur in Satz (7b), nicht aber anstelle von Bruder oder Bruders in (7a) oder (7c) stehen (umgekehrt gilt das natürlich genauso). Etwas allgemeiner spricht man bei der Anpassung eines Worts an den syntaktischen Kontext von Flexion („Beugung“). Die Gesamtmenge aller flektierten Formen eines Worts bzw. einer Klasse von lexikalischen Elementen bilden ein Paradigma. Paradigmen stellen bestimmte Flexionsmuster dar und werden in der Regel in Form einer Tabelle repräsentiert:
Singular | Plural | |
Nominativ | Bruder | Brüder |
Akkusativ | Bruder | Brüder |
Dativ | Bruder | Brüder-n |
Genitiv | Bruder-s | Brüder |
Tabelle 1: Paradigma von Bruder
Die in einem Paradigma zusammengefassten flektierten Wortformen haben eine Reihe von Gemeinsamkeiten (wie hier z.B. Genus: Maskulin); sie unterscheiden sich aber auch hinsichtlich bestimmter Merkmalswerte (hier z.B. Kasus und Numerus). Die Idee, dass es sich bei Bruder, Bruders, Brüder und Brüdern um verschiedene (konkrete) Realisierungsformen eines zugrundeliegenden lexikalischen Worts handelt, lässt sich verdeutlichen, wenn man die Beziehung zwischen Wortform und lexikalischer Grundform etwas näher betrachtet. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Einsicht, dass nicht alle flektierten Varianten eines Worts notwendig im mentalen Lexikon abgelegt sind. So geht man davon aus, dass eine Wortform wie Bruders aus der Grundform Bruder durch eine morphologische Regel (vgl. Kapitel 4) erzeugt wird, welche die 3. Person Singular Genitiv für bestimmte Klassen von Substantiven bildet (die sog. starken Maskulina und Neutra). Dies hat den Vorzug, dass die einschlägigen Wortformen nicht für jedes einzelne Substantiv separat gelernt und abgespeichert werden müssen. Im mentalen Lexikon steht lediglich die lexikalische Grundform des Worts, die man auch als Lexem bezeichnet. Darüber hinaus enthält das Lexikon Informationen über unregelmäßige Formen, wie z.B. die Tatsache, dass bei der Pluralform von Bruder ein Vokalwechsel erfolgt (Umlaut: Brüder). Bei einem Lexem handelt es sich also um eine abstrakte sprachliche Einheit, welche die Eigenschaften eines Worts verzeichnet, die nicht durch Regeln vorhersagbar sind (in einem Wörterbuch steht hier die sog. Nennform eines Worts; bei Substantiven entspricht diese im Deutschen dem Nominativ Singular).
Lexem (lexikalisches Wort): Ein Lexem ist eine abstrakte lexikalische Basiseinheit, die Informationen über grundlegende Eigenschaften wie Lautgestalt, Kernbedeutung, Wortart und invariante morphosyntaktische Merkmale enthält (plus gegebenenfalls Angaben über flektierte Formen, deren Gestalt nicht über Regeln ableitbar ist).
Wortform: Die lautliche Realisierung eines Lexems wird Wortform genannt. Wortformen sind in einem Paradigma organisiert, das alle Realisierungen eines Lexems enthält.
Ein Blick auf Tabelle 1 zeigt uns, dass im Deutschen (wie in vielen anderen Sprachen) keine Eins-zu-eins-Beziehung von Wortform und grammatischer Funktion vorliegt. Das Paradigma weist insgesamt acht Zellen auf, die aber von lediglich vier verschiedenen Wortformen (Bruder, Bruder-s, Brüder, Brüder-n) besetzt werden. Einen solchen Zusammenfall verschiedener Wortformen bzw. Zellen eines Paradigmas bezeichnet man auch als Synkretismus. Synkretismen treten oft in bestimmten Mustern auf, die für das Flexionssystem einer Sprache charakteristisch sind (so fallen bei Substantiven im Deutschen systematisch im Plural Nominativ, Akkusativ und Genitiv zusammen, vgl. Kapitel 4 für weitere Details). Um dennoch zwischen Wörtern mit gleicher Form, aber unterschiedlichem Merkmalsgehalt unterscheiden zu können, wird der Begriff des syntaktischen Worts benötigt (vgl. auch Abschnitt 2.1):
Syntaktisches Wort: Syntaktische Wörter sind konkret auftretende Wörter, wie sie in tatsächlichen Sätzen bzw. syntaktischen Strukturen vorkommen. Ein syntaktisches Wort besteht aus einer Wortform und Angaben zu den morphosyntaktischen Merkmalen/Kategorien, für die die Wortform steht.
Der Satz in (8) besteht somit aus sieben verschiedenen syntaktischen Wörtern – obwohl glaube und Glaube formgleich sind, werden sie als unterschiedliche syntaktische Wörter behandelt. Dies kann man durch Angabe der entsprechenden Merkmale/Kategorien wie in (9) explizit machen.
(8) | Ich glaube, der Glaube kann Berge versetzen. |
(http://www.medi-learn.de/foren/archive/index.php/ t-7693.html, 22.8.2017) |
(9) | a. | glaube (Verb), 1. Person Singular Präsens Indikativ |
b. | Glaube (Nomen), Maskulin Singular Nominativ |
Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass man offenbar zwischen verschiedenen abstrakten und konkreten Wortbegriffen unterscheiden muss, erscheinen die Probleme, die uns bei der Definition eines allgemeinen Wortbegriffs begegnet sind, in einem anderen Licht: Möglicherweise fällt es uns deshalb schwer, eine geeignete Festlegung zu entwickeln, weil ein Wort stets in mehreren Erscheinungsformen auftritt, die sich im Rahmen einer allgemeinen Definition nur schwer unter einen Hut bringen lassen.