Читать книгу Das Wort - Eric Fuß - Страница 7
Оглавление2.3 Wortbausteine und andere Bildungsmittel
2.3.1 Morph und Morphem
Wir haben bereits gesehen, dass Wörter aus mehreren Bausteinen zusammengesetzt sein können. Diese Wortbausteine, die unterhalb der Wortebene auftreten können, nennt man Morpheme. Das Morphem ist die zentrale Analyseeinheit innerhalb der Morphologie. In Anlehnung an den Begriff des Phonems, das üblicherweise als kleinste bedeutungsdifferenzierende (lautliche) Einheit (im Deutschen z.B. /b/ vs. /p/ wie in Bein vs. Pein) definiert wird, wird das Morphem traditionell als die kleinste bedeutungstragende sprachliche Einheit charakterisiert, d.h. als ein sprachliches Element, das nicht mehr weiter in kleinere Einheiten mit bestimmter Lautung und bestimmter Bedeutung zerlegt werden kann. Ein wesentlicher Aspekt dieser Definition besteht darin, dass die Bedeutung eines Morphems nicht aus den Bedeutungen der sprachlichen Einheiten abgeleitet werden kann, in die sich das Morphem zerlegen lässt. So besteht das deutsche Wort Wolke aus den beiden Silben wol- und -ke, aber es ist nicht möglich, die Bedeutung von Wolke auf etwaige Bedeutungen der Segmentfolgen wol- und -ke zurückzuführen. Wolke stellt also ein einfaches Morphem dar – gleichzeitig ist es aber auch ein Wort. Eine bedeutungsbezogene Definition des Morphembegriffs kann zwar einen großen Bereich der in unserem mentalen Lexikon verzeichneten Wortbausteine korrekt erfassen. Probleme bereiten ihr aber Wörter und Wortbausteine, die man gerne als Morpheme bezeichnen würde, obwohl es schwerfällt, ihren Bedeutungsgehalt eindeutig zu charakterisieren. Auf den ersten Blick scheint dies für viele Wortbausteine wie ent-, ver-, -er, -lich, -ung etc. zu gelten. Bei näherer Betrachtung kann man aber erkennen, dass viele dieser Elemente einen eindeutigen (wenn auch bisweilen etwas abstrakteren) semantischen Gehalt besitzen. So werden die meisten Sprecher dem Morphem -er in Kinder korrekterweise die Bedeutung ‚Plural‘ zuordnen. Und nach einigem Nachdenken wird man vielleicht darauf kommen, dass die Bedeutung eines adjektivbildenden Suffixes wie -lich sich in etwa durch ‚wie ein X‘ wiedergeben lässt (z.B. kind-lich). Anders gelagert ist der Fall aber bei einem Element wie -en, das in erster Linie eine grammatische Funktion erfüllt und u.a. dazu dient, den Infinitiv von Verben zu bilden. Hier scheint das Element, das wir gerne als Morphem einordnen würden, tatsächlich keinen eindeutigen semantischen Gehalt aufzuweisen. Schwierigkeiten dieser Art lassen sich durch eine weiter gefasste Definition des Morphembegriffs vermeiden, die nicht ausschließlich auf die Bedeutung eines Elements Bezug nimmt (vgl. Wurzel 1984):
Morphembegriff: Morpheme sind minimale sprachliche Einheiten, die nicht mehr weiter in kleinere Einheiten mit bestimmter Lautung und mindestens einer außerphonologischen Eigenschaft zerlegt werden können.
Die außerphonologische Eigenschaft, auf die diese Definition Bezug nimmt, kann sich auf die Bedeutung beziehen, die mit einer bestimmten Segmentfolge verknüpft ist (z.B. bei Elementen wie Wolke, Gurke, grün, -lich etc.). Es kann sich jedoch auch um eine grammatische Eigenschaft handeln, die im Fall von -en eben darin besteht, die Infinitivform von Verben zu bilden. Ähnliches gilt für viele Flexionsendungen (z.B. Kasusmorpheme), aber auch für bestimmte Wörter/freie Morpheme wie den Infinitivmarkierer zu oder das semantisch neutrale sog. Vorfeld-es, dessen (syntaktische) Funktion lediglich darin besteht, in Sätzen wie Es wird gearbeitet die satzinitiale Position zu füllen. Die obige Definition erlaubt es auch, Interjektionen wie wow, pff, äh als Morpheme zu bestimmen, nur dass hier die relevante außerphonologische Eigenschaft einer bestimmten semantisch-pragmatischen Funktion entspricht (z.B. Ausdruck von Emotionen und Sprechereinstellungen wie Überraschung, Ablehnung etc.). Ein liberalerer Morphembegriff scheint also nötig zu sein, um auch sprachliche Einheiten als Morpheme identifizieren zu können, die durch das Raster einer rein bedeutungsbezogenen Definition fallen würden.
Analog zur Unterscheidung zwischen Phon (lautliches Segment) und Phonem (bedeutungsveränderndes lautliches Segment) unterscheidet man in der Morphologie ferner zwischen Morphen und Morphemen. Ein Morph ist eine Segmentfolge, die eine bestimmte Markierungsfunktion ausübt, ohne dass diese näher spezifiziert wird. So kann man Bretter und später morphologisch jeweils als eine Kombination aus zwei Morphen (Brett/spät + -er) analysieren. In einem zweiten Analyseschritt werden die Morphe dann klassifiziert, d.h. sie werden als bestimmte Morpheme identifiziert, die im vorliegenden Beispiel zufällig gleichlautend sind (Pluralsuffix -er vs. Komparativsuffix -er).
Es bleibt noch zu klären, wie sich der Begriff des Morphems relativ zu anderen grundlegenden grammatischen Analyseeinheiten wie Wort und Silbe verhält. Wir haben bereits am Beispiel von Wolke gesehen, dass Wörter und Morpheme zusammenfallen können. Wörter, die nicht mehr in kleinere morphologische Einheiten zerlegbar sind, bezeichnet man auch als einfache Wörter oder Simplizia (Vogel, Nest, Gold, Kind, grün, blau, aus, ein, Bau, etc.). Besteht ein Wort aus mehreren Morphemen, spricht man auch von einem komplexen Wort (Vogel+nest, Gold+kind, grün+blau, Aus+bau, Ein+bau, ein+bau+en, Kind+er, kind+lich, Kind+lich+keit etc.)
Ähnlich wie bei der Relation zwischen Wort und Morphem können auch Morphem- und Silbengrenzen zusammenfallen (wie etwa in Ein-bau oder Gold-kind). Das Verhältnis von Morphem und Silbe wird aber dadurch verkompliziert, dass die Grenzen der beiden Analyseeinheiten oft nicht nur nicht-identisch sind, sondern sich auch überschneiden können. So besteht etwa steh-st (2. Person Singular von stehen) aus einer Silbe, aber zwei Morphemen, während die morphologische Struktur von Kinder (Kind+er) andere Grenzen aufweist als die Silbenstruktur (Kin-der).
2.3.2 Typen von Morphemen
Um die Bestandteile und den inneren Aufbau von Wörtern präzise beschreiben zu können, sind weitere begriffliche Unterscheidungen zwischen verschiedenen Typen von Morphemen notwendig. Wir haben bereits gesehen, dass bestimmte Morpheme auch gleichzeitig eigenständige Wörter sein können. In diesem Fall spricht man von freien Morphemen. Wortbausteine wie -en, -er, -lich, -keit, die nicht selbständig auftreten können, bezeichnet man hingegen als gebundene Morpheme. Gebundene Morpheme, die an ein lexikalisches Trägerelement bzw. eine lexikalische Basis herantreten, werden in der Sprachwissenschaft unter dem Oberbegriff Affix zusammengefasst. Abhängig von ihrer Position relativ zur Basis unterscheidet man zwischen Präfixen (z.B. ver-, ent-, be-) und Suffixen (-ung, -s, -er). Das Deutsche verfügt überdies über einige wenige Zirkumfixe, bei denen ein bestimmtes Merkmal durch eine Kombination aus Prä- und Suffix signalisiert wird wie im Falle des Partizip Perfekt/Partizip II:
(10) | ge+V+t (schwache Verben) |
ge-kauf-t, ge-sag-t, ge-lieb-t, ge-mach-t, ge-lach-t, ge-räucher-t etc. |
(11) | ge+V+en (starke Verben) |
ge-sung-en, ge-seh-en, ge-ruf-en, ge-ronn-en, ge-rat-en, ge-fror-en etc. |
Einige der Partizipien in (10) und (11) enthalten eine lexikalische Basis wie sung oder ronn, die nicht ohne Weiteres als freies Morphem auftreten kann. Offenbar können also auch lexikalische Elemente in gebundener Form, d.h. unterhalb der Wortebene auftreten. Abhängig davon, ob die lexikalische Basis eines Wortes einfach oder (potentiell) komplex ist, unterscheidet man zwischen Wurzeln und Stämmen (Fuß 2012: 52):
Wurzel: Wurzeln sind die einfachste, atomare Form lexikalischer Morpheme. Sie enthalten keinerlei Affixe und bilden den lexikalischen Kern von Wörtern.
Stamm: Ein Stamm ist ein (potentiell komplexer) Teil eines Worts, der noch nicht Gegenstand von Flexionsprozessen gewesen ist.
Die Unterscheidung zwischen Stamm und Wurzel ist unter anderem dadurch motiviert, dass in vielen Sprachen Stämme mithilfe morphologischer Prozesse aus lexikalischen Wurzeln abgeleitet werden.1 Stämme können also morphologisch komplex sein und eine Kombination aus einer Wurzel und weiteren Wortbausteinen darstellen. Die begriffliche Trennung von Stamm und Wurzel ist im Deutschen allerdings weniger leicht nachvollziehbar, da Wurzeln und Stämme oft zusammenfallen und auch frei auftreten können. Substantive wie Reim, Kauf, Rausch, Adjektive wie blau, gut, schön oder Adverbien wie oft, selten, gern sind gleichzeitig Wurzeln, Stämme und Wörter. Während Substantive und Adjektive Flexionsmorpheme tragen können (Reim-e, der blau-e Fisch) und somit Eigenschaften von Stämmen zeigen, treten Adverbien generell unflektiert auf.
Die Unterscheidung zwischen Stamm und Wurzel lässt sich aber auch für das Deutsche motivieren, und zwar an Vokalwechseln, die die Klasse der sog. starken Verben betreffen. Hier können wir beobachten, dass unterschiedliche Tempus- und Modusformen des Verbs nicht nur durch Affixe, sondern durch Veränderungen des Stammvokals markiert werden, die bestimmten Mustern folgen. Dieses Phänomen nennt man Ablaut; die bei den Vokalwechseln auftretenden Muster werden als Ablautreihen oder Ablautgruppen bezeichnet (vgl. die erste Spalte in Tabelle 2):2
Vokalalternation | Präsens | Präteritum | Partizip Perfekt |
i-a-u | find- | fand- | (ge)-fund-(en) |
e/i-a-e | geb-, gib- | gab- | (ge)-geb-(en) |
i-a-o | rinn- | rann- | (ge)-ronn-(en) |
ie-o-o | frier- | fror- | (ge)-fror-(en) |
ei-ie-ie | schein- | schien- | (ge)-schien-(en) |
Tabelle 2: Beispiele für Ablautreihen im Deutschen
Die in einer Zeile stehenden Verbformen sind jeweils verschiedene Stämme einer zugrundeliegenden Wurzel, die noch flektiert werden können. Ein Verbstamm lässt sich also durch die Faustregel „flektierte Verbform minus Flexionsendung = Stamm“ ermitteln. Die Wurzel, aus der die verschiedenen Stämme per Ablaut abgeleitet werden können (die sog. Nenn- oder Zitierform), entspricht im Deutschen dem Stamm, der im Infinitiv bzw. der 2. Person Plural Präsens Indikativ erscheint (ihr findet – finden). Da die Unterscheidung zwischen Stamm und Wurzel aber in vielen Fällen keine Rolle spielt, werden im Folgenden meist die Begriffe „Stamm“ oder „Basis“ verwendet.
2.3.3 Das Phänomen der Allomorphie
Eine andere Art von Morphemalternation zeigt sich bei der Pluralbildung (vgl. 4.1 für die Unterscheidung zwischen Ablaut und Umlaut):
Pluralendung | Beispiele |
-e | Tag, Tag-e |
-e (mit Umlaut) | Gast, Gäst-e (fem.: Laus, Läus-e) |
-(e)n | Bett, Bett-en; Hantel, Hantel-n |
-er | Brett, Brett-er |
-er (mit Umlaut) | Haus, Häus-er |
-Ø (endungslos) | Engel, Engel-Ø |
-Ø (endungslos mit Umlaut) | Tochter, Töchter-Ø |
-s | Auto, Auto-s |
Tabelle 3: Pluralendungen im Deutschen
Nach gängiger Auffassung kann der Plural von Substantiven im Deutschen auf insgesamt acht verschiedene Weisen gebildet werden. Entscheidend ist dabei, dass die Varianten dazu dienen, ein- und dieselbe grammatische Eigenschaft zu kodieren (den Wert „Plural“ des Merkmals Numerus), während durch Ablautreihen Varianten lexikalischer Stämme erzeugt werden, die eine jeweils unterschiedliche morphosyntaktische Funktion besitzen (z.B. Imperativ: Gib mir das Buch vs. Präteritum: Sie gab mir das Buch). In Anlehnung an die phonologische Unterscheidung zwischen Allophonen und Phonemen1 spricht man in diesem Zusammenhang auch von Allomorphen eines Morphems.2
Allomorphie: Allomorphe sind Varianten eines Morphems, die in einem bestimmten lautlichen, morphologischen oder lexikalischen Kontext auftreten.
Dass die Wahl von Allomorphen von der Umgebung bestimmt ist, in der ein Morphem auftritt, lässt sich ebenfalls anhand der Pluralbildung im Deutschen anschaulich machen (vgl. Duden 2016: 181ff.). Ein wesentlicher morphologischer Faktor für die Verteilung der Pluralallomorphe ist das Genus des Substantivs. So lautet eine Grundregel, dass der Plural von Feminina mit -en oder -n gebildet wird. Die Wahl zwischen -en und -n ist aber phonologisch gesteuert: Enthält die vorangehende Silbe den sog. Schwa-Laut [ə], so muss -n gewählt werden (Regel → Regel-n, *Regel-en). In allen anderen Fällen wird der Plural mit -en gebildet (Form → Form-en, *Form-n).3
Schließlich kann die Wahl der Pluralendung auch von rein lexikalischen Faktoren abhängig sein. So gibt es zu der erwähnten Grundregel für die Pluralbildung von Feminina lexikalisch bedingte Ausnahmen. Etwa ein Viertel der zum Grundwortschatz gehörenden Feminina bilden den Plural durch eine Kombination aus -e und Umlaut (z.B. Maus → Mäuse, Hand → Hände, Nuss → Nüsse). Darüber hinaus findet sich die (e)n-Endung auch noch bei einigen Maskulina (Staat → Staaten) und Neutra (Bett → Betten). Diese spezifische Eigenart der betroffenen Substantive muss ebenfalls während des Spracherwerbs auswendig gelernt werden (vgl. Abschnitt 4.3.1 für weitere Diskussion).