Читать книгу Der dunkle Grenzbezirk - Eric Ambler - Страница 5
Erklärung von Henry Barstow, Esq.
ОглавлениеMitglied der Royal Society, Dr. phil. II, Physiker, Park Lane, Wimbledon, Surrey
Es wird behauptet, dass die in diesem Buch beschriebenen Ereignisse mein Leben vom 17. April bis zum 26. Mai des letzten Jahres wiedergeben.
Das kann ich weder bestätigen noch leugnen. Man hat mir eine Aufnahme eines Pressefotografen gezeigt, die vom britischen Konsul in Ixanien1 weitergeleitet worden ist. Darauf ist eine Person zu sehen, die mir ähnlich sieht und vor der Abgeordnetenkammer in Zovgorod aus einem großen Wagen steigt. Leider ist ein Teil des Gesichts vom Körper eines Soldaten verdeckt, der im Augenblick der Aufnahme vor die Kamera getreten war. Auf jeden Fall aber sind meine Gesichtszüge zu verschwommen, als dass ich das Bild als Beweis meiner Gegenwart in dieser malerischen Stadt gelten lassen könnte, zumal im Hintergrund des Bildes Stacheldraht und Maschinengewehre zu sehen sind. Ich habe Angst vor Schusswaffen und dem Lärm, den sie machen.
Der Bericht von William L. Casey von der New York Tribune, der sich zur besagten Zeit in Zovgorod aufhielt, spricht schon eher dafür. Mr Caseys Darstellung der Geschehnisse hat nach meinem Gefühl einen Kern von Wahrheit. Aber ich bitte den Leser, wie ich nicht allzu gutgläubig zu sein, denn amerikanische Journalisten haben nun mal eine überschäumende Phantasie, auf die sie sogar selbst oft hereinfallen. Ich bin überzeugt, dass Mr Casey mir diese leise Kritik vergeben wird. Wenn das, was er erzählt, wahr ist, hat er von mir viel mehr einstecken müssen. Außerdem kann er sich ja revanchieren und mich fragen: »Was haben Sie denn in diesen fünf Wochen tatsächlich getan?«, worauf ich ihm keine Antwort geben kann. Er wird auf den Kellner Georges Rispoli, das Hotel Royal in Paris und all die übrigen Tatsachen hinweisen, die mein anderer Biograph so sorgfältig zu einem überzeugenden Muster verwoben hat, sodass ich nicht umhinkann zuzugeben, woran ich im Grund meines Herzens nie gezweifelt habe, nämlich, dass diese Geschichte wahr ist.
Hier nun die wenigen unbestreitbaren Tatsachen.
Ich bin vierzig, unverheiratet, von Beruf Physiker, und in den vier Monaten vor dem 17. April habe ich meine Talente in den Dienst einer Gerätebaufirma gestellt, für die ich ein neuartiges und hochkompliziertes Astronomiegerät konstruierte. Die Entwicklung dieses Apparates war anspruchsvoll, um nicht zu sagen aufreibend, und verlangte viele komplizierte mathematische Berechnungen. Wochenlang habe ich praktisch Tag und Nacht gearbeitet, und die Überanstrengung untergrub meine Gesundheit. Am 10. April konsultierte ich meinen Arzt, Dr. Rowe.
Sein Bericht war nicht sehr ermutigend und lief praktisch auf ein Ultimatum hinaus. Entweder ich nahm sofort einen langen Urlaub, oder ich bekam garantiert einen Nervenzusammenbruch.
Ich machte einen Kompromiss, beendete meine Arbeit und fuhr wenige Tage später allein in meinem Wagen nach Truro in Cornwall, wo ich ein bis zwei Wochen zu bleiben gedachte. Anschließend wollte ich vielleicht über den Kanal in die Bretagne. Ich verließ Wimbledon am 17. April frühmorgens um 6.30 Uhr. Ich brauchte mich von niemandem zu verabschieden. Ein Brief an meine Mutter, die in Kensington lebt, eine Postkarte an meine Schwester in Norwich und ein Zettel für meine Haushälterin, um das Nachsenden meiner Post anzuordnen – damit waren meine häuslichen Angelegenheiten geregelt. Ich hatte 50 Pfund in bar und einen kleinen Handkoffer dabei. Mein Reisekoffer war hinten auf dem Wagen festgeschnallt. Um 13.30 Uhr war ich in Launceston und hielt vor dem Hotel Royal Crown, um zu Mittag zu essen.
Hier nun beginnt mich mein Gedächtnis im Stich zu lassen. Ich weiß, dass ich das Hotel betreten habe, aber ich erinnere mich nicht, es verlassen zu haben. Ich weiß, dass ich ein Glas Sherry an die Lippen setzte, weiß aber überhaupt nicht mehr, was es nachher zum Essen gab. Von dem zwielichtigen Mr Groom weiß ich überhaupt nichts. Ich erinnere mich vage, dass mir übel war und ich mich in den Aufenthaltsraum des Hotels begab, um mich etwas auszuruhen. Dort fiel mein Blick auf ein Buch, auf dessen Umschlag ein Mann mit einer Pistole in der Hand abgebildet war. Ich glaube, ich wollte warten, bis der Regen nachließ. Ich muss wohl ungeduldig geworden sein, denn das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich den Scheibenwischer abstellte, als ich die Straße durchs Moor hinauffuhr. Ich weiß ganz genau, dass ich ungefähr fünf Meilen auf dieser Straße gefahren bin. Dann muss ich wohl am Steuer eingenickt sein. Und erst am 26. Mai, also mehr als fünf Wochen später, bin ich wieder zu mir gekommen, und zwar im Express Basel–Paris, zwischen Mülheim und Belfort. Ich erinnere mich, dass mir der Zugführer Cognac einflößte. Von dem, was in der Zwischenzeit geschehen ist, weiß ich nichts aus eigener Erinnerung. Meine Besitztümer am 26. Mai waren die Kleider, die ich am Leib trug, meine Brieftasche und mein Pass. Ich habe das Gefühl – könnte es aber nicht beeiden –, als wäre das Bild einer Frau, die ich nicht kenne, damals in meiner Brieftasche gewesen, als ich sie durchsuchte. Ich habe später weder die Fotografie noch meinen Pass wiedergefunden.2
Viel ist seit jenem 26. Mai geschehen. Lange Monate war ich sehr krank. Gegen Ende der Rekonvaleszenz in Brighton las ich zum ersten Mal diese Geschichte. Sie hat mich tief beeindruckt. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, wenn man seine eigene Biographie liest. Bei mir führte diese Lektüre nicht dazu, dass ich Genaueres über meinen Lebenslauf herausfinden wollte, sondern dieser seltsam heitere Henry Barstow mit seiner Begeisterungsfähigkeit, Eitelkeit, Sentimentalität und seinem melodramatischen Wagemut wuchs mir richtig ans Herz. Die Bäume vor meinem Schlafzimmer hatten ihre Blätter verloren, die Nächte waren lang, und mein Verstand weilte im Zwielichtland der Genesung. In jener Zeit beschäftigte dieser Mensch mit seiner unglaublichen Geschichte ununterbrochen meine Gedanken. Ich verträumte meine Nächte mit ihm und seiner Gräfin. Doch als ich wieder gesund geworden war, verschwand er. Wer weiß, vielleicht geistert er noch immer durch die geheimen Windungen meines Gehirns? Für mich ist er ein Schatten geworden, gesichtslos – wie ein Mann hinter einem Lampenschirm.
Henry Barstow
Januar 193-