Читать книгу Der dunkle Grenzbezirk - Eric Ambler - Страница 9
4. Kapitel
Оглавление20. April
Carruthers verlor keinen Moment die Fassung. »Ach, Mr Groom«, sagte er in ruhigem Ton, »genau Sie habe ich gesucht. Ja, ich habe es mir nun doch anders überlegt; aber das ist, so meine ich, ein Privileg des Wissenschaftlers.«
Groom schaute ihn schweigend an, bedeutete ihm dann, Platz zu nehmen, setzte sich ihm gegenüber und machte es sich in den Polstern bequem. Er zündete eine Zigarre an, und als er den blauen Rauch ausstieß, kräuselte ein schwaches, ziemlich unangenehmes Lächeln seine Lippen.
»Professor Barstow«, sagte er endlich, »Sie überraschen mich.«
Carruthers erwiderte nichts.
»Ja«, fuhr Groom fort und beugte sich vor, »ich bin überrascht und ehrlich gesagt auch ein bisschen ratlos.«
Carruthers, der seine Pfeife stopfte, spürte den Blick der kleinen, runden Augen seines Gegenübers auf sich ruhen.
»Sie müssen wissen«, fuhr dieser fort, »dass ich mir immer geschmeichelt habe, Menschenkenntnis zu besitzen. Darum finde ich Ihre, nennen wir sie einmal totale Kehrtwendung ganz einfach unverständlich. Ich habe Ihnen wohl den Rat gegeben, über meinen Vorschlag nachzudenken, aber, um ganz ehrlich zu sein, ich habe nicht eine Sekunde geglaubt, dass Sie daraufhin mein Angebot annehmen würden. Darf ich fragen, was Sie veranlasst hat, Ihre etwas – hm – unrealistischen Ideale aufzugeben?«
Carruthers hatte diese Frage erwartet.
»Vertrauen gegen Vertrauen, Mr Groom«, gab er zur Antwort. »Ich habe meine Meinung in keiner Weise geändert. Ich stehe nach wie vor zu dem, was ich gesagt habe.«
Groom blickte ihn erstaunt und fragend an.
Heuchlerisch fuhr Carruthers fort: »Aber schließlich waren ja noch andere Faktoren zu berücksichtigen. Ich bin nicht reich, Mr Groom. Schon seit einer Weile komme ich mit meiner wissenschaftlichen Arbeit nicht vorwärts, weil mir die Mittel fehlen. Also habe ich mich gefragt, ob ich es mir überhaupt leisten kann, Ihr Angebot abzulehnen. Ich kam zum Schluss, ich könne nicht. Und dann ist es ja auch unwahrscheinlich, dass Sie mit der Zeit nicht hinter Kassens Geheimnis kommen. Warum sollte ich Sie also nicht unterstützen, damit es schneller geht?«
Groom, der für Geld alles tat, würde annehmen, dass alle Leute für Geld alles tun, und folglich diesen Grund einleuchtend finden. Er hatte sich nicht verrechnet. Ein Blick auf Grooms Gesicht zeigte ihm, dass seine Erklärung den Argwohn des anderen eingeschläfert hatte. Groom nickte zustimmend.
»Professor«, sagte er mit entwaffnendem Lächeln, »ich sehe, dass Sie ein Mann nach meinem Herzen sind. Ich empfinde es als einen glücklichen Zufall, dass ich Sie über mein Reiseziel informiert habe.«
Carruthers sah die Falle sofort. Groom wollte herausfinden, ob Carruthers im Zug war, weil ihm ein Dritter einen Tipp gegeben hatte. Er lachte.
»Es wäre leichter für mich gewesen, wenn ich Genaueres gewusst hätte. Wenn ich Ihnen jetzt hier gegenübersitze, so war es mehr Glück als Verstand. Ich kam zu spät ins Ritz. Doch der Gepäckträger hat mir Auskunft geben können.«
Groom schien befriedigt.
»Nun, Professor, ich bin überrascht, und mein Stolz hat etwas gelitten, aber ich muss gestehen, dass ich mich freue, Sie zu sehen. Wie wäre es, wenn wir in den Speisewagen übersiedeln würden? Über das Geschäftliche lässt sich beim Mittagessen sicher besser plaudern.«
»Mr Groom«, bemerkte Carruthers etwas später, »wenn wir auch in moralischen Dingen nicht übereinstimmen, so haben Sie doch als Gourmet und als Weinkenner meine restlose Bewunderung.«
Groom zuckte die Schultern.
»Man tut, was man kann, aber diese Züge …« Verzweifelt hob er die Hände. »Ich hoffe, dass der Bordeaux halbwegs genießbar ist. Dieses Rütteln und Schütteln macht ja jeden Wein kaputt.«
»Der Wein ist von einem Kenner ausgewählt«, verkündete Carruthers feierlich.
»Dann können wir ja jetzt das Geschäftliche besprechen.«
Carruthers nickte zustimmend.
»Zuerst muss ich Sie nochmals auf die Notwendigkeit absoluter Geheimhaltung hinweisen, Professor. Wenn es auch unwahrscheinlich ist, so ist es doch möglich, dass die Konkurrenz schon von Kassens Erfindung Wind bekommen hat. Wenn ja, weiß ich schon, wie ich sie ausschalten kann. Was wir aber nicht vergessen dürfen, ist, dass hinter Kassen die ixanische Regierung steht. Die geringste Unvorsichtigkeit, und wir sind geliefert.«
Carruthers in der Rolle des naiven Professors Barstow nickte bedeutungsschwer. Aber er fragte sich, ob ›Geliefertsein‹ nicht eine etwas harmlose Umschreibung für ›eine Kugel in den Rücken‹ war. Es gehörte aber offensichtlich nicht zu Grooms Taktik, seinen neuen Mitarbeiter einzuschüchtern. Unvermutet wechselte er das Thema:
»Dann verstehen wir uns. Kommen wir zum Honorar. Ich brauche kaum zu sagen, dass Cator & Bliss nicht knauserig sind. Wie schon erwähnt, haben wir für jede vernünftige Honorarforderung Verständnis. Ich nehme an, Sie haben darüber nachgedacht.«
Carruthers spielte den Verwirrten.
»Nun«, begann er unsicher, »ich bin kein Geschäftsmann, Mr Groom … Ich weiß nicht, was ich in so einem Fall –«
»Vielleicht«, unterbrach ihn der andere sanft, »erlauben Sie mir, Ihnen einen Vorschlag zu machen?«
Carruthers mimte Erleichterung.
»Genau das wollte ich vorschlagen.«
Groom lehnte sich zurück.
»Wie ich schon erwähnte, Professor, bleibt alles, was Sie in dieser Angelegenheit im Namen von Cator & Bliss erfahren, alleiniges und absolutes Eigentum der Firma. Wir erwarten ferner, dass Sie mit uns einen Vertrag abschließen, für die Dauer von sagen wir einmal fünf Jahren. Sie werden verstehen, dass wir uns so gut wie möglich absichern müssen. Ich hoffe, dass Sie das nicht verdrießen wird. Ihre Arbeit für uns wird an dem Tag abgeschlossen sein, an dem unsere Fabriken den Sprengstoff Kassens selber herstellen können.«
»Das scheint mir vernünftig«, stimmte Carruthers zu.
»Damit kommen wir zum finanziellen Teil. Hier ist mein Vorschlag: Am Tag, von dem ich gesprochen habe, also wenn wir mit der Kassen’schen Bombe in Produktion gegangen sind, erhalten Sie ein Honorar von 50000 Pfund. Zusätzlich« – er machte eine Kunstpause – »erhalten Sie jährlich, während der fünf Jahre Ihres Vertrages, 10000 Pfund Gehalt. Falls Cator & Bliss anderen Produzenten die Lizenz für das Kassen’sche Verfahren erteilen, erhalten Sie weitere Honorare, und zwar 50000 Pfund pro Lizenz. Mit anderen Worten: Sie kommen mit Sicherheit auf 100000 Pfund, wenn nicht viel mehr. Was meinen Sie dazu, Professor?«
Carruthers sagte einen Augenblick nichts. Er musste sich beherrschen, um nicht loszubrüllen vor Lachen. Groom hielt ihn also wirklich und wahrhaftig für den Einfaltspinsel von Professor, für den er sich ausgab. 100000 Pfund! – aber nur unter der Bedingung, dass Groom ihm den Weg ebnete, die Arbeit zu tun, und auch dann nur, wenn diese Arbeit Früchte trug. Cator & Bliss konnten bei dem Handel nichts verlieren, Professor Barstow sehr viel, vielleicht sogar sein Leben, höchstwahrscheinlich seine Freiheit. Es gab auch keine Garantie, dass Cator & Bliss sich erkenntlich zeigen würden, wenn er seinen Teil des Vertrages erfüllt hatte. Selbstverständlich würde Groom irgendeinen Vertrag unterschreiben, der aber derart mit Wenn und Aber verklausuliert sein würde, dass er das Papier, auf dem es stand, nicht wert war. Zudem würden Cator & Bliss sich natürlich weigern, die Art seiner Arbeit präzise schriftlich festzulegen und einen Vertrag aus der Hand zu geben, der zu einem späteren Zeitpunkt einen Beweis für ihre Geschäftspraktiken liefern könnte.
Groom musterte ihn kühl. Carruthers setzte ein verwirrtes Lächeln auf.
»Das ist viel Geld, Mr Groom.«
Groom lächelte gönnerhaft.
»Ich sagte Ihnen ja, Professor, dass Cator & Bliss nicht knickerig sein würden. Ich darf also annehmen, dass Sie unsere Bedingungen akzeptieren?«
»Aber ja, selbstverständlich.« Und entschuldigend fügte er hinzu: »Ich kann nur hoffen, dass meine Arbeit Ihre Großzügigkeit rechtfertigen wird.«
Grooms Augen leuchteten einen Moment auf.
»Dann wäre das also erledigt. Der Zug hat in Basel mehrere Stunden Aufenthalt. Das gibt mir Zeit, in unserem dortigen Büro einen Vertrag aufzusetzen. Unterdessen wollen wir uns noch einen Cognac genehmigen, nicht wahr?«
»Ich verstehe«, bemerkte Carruthers und kicherte professorenhaft, »eine kleine Feier. Ich glaube, dass ich es mir schon einmal leisten kann, etwas über die Stränge zu schlagen. Schönen Dank!«
Grooms rundliches Gesicht wurde noch jovialer, als er die Schnäpse bestellte. Als sie vor ihm standen, wandte er sich mit gönnerhaftem Lächeln zu Carruthers und hob sein Glas.
»Ich trinke auf den Erfolg unseres …«
Er sagte den Satz nicht zu Ende. Seine Augen starrten über Carruthers Schulter hinweg und wurden ganz klein. Einen Augenblick lang wurde sein Gesicht zu derselben Maske unverhohlenen Misstrauens, die Carruthers heute schon einmal an ihm gesehen hatte.
Zwei Leute hatten den Speisewagen betreten.
Grooms Augen folgten ihnen, bis sie am Tisch vorbei waren. Sie setzten sich an einen Tisch etwas weiter hinten im Wagen. Carruthers war gespannt wie eine Feder und schaute dem Paar mit einem prickelnden Gefühl der Erregung nach. Als sie Platz nahmen, wusste er, dass er sich nicht getäuscht hatte. Er sah jetzt ihre Gesichter. Es waren der Mann und die Frau aus dem Zug von Le Havre.
Plötzlich hörte er, wie Groom zu ihm sprach.
»Entschuldigen Sie bitte, Professor«, sagte er, »ich glaubte eben, ich hätte ein Gespenst gesehen.«
Ein zweites Mal hob er sein Glas.
»Auf den Erfolg unseres Unternehmens!«
Aber die Jovialität war aus seinem Gesicht verschwunden, und seine Stimme klang wenig überzeugend.
Als sie in ihr Abteil zurückkehrten, war Grooms Geschwätzigkeit wie weggeblasen. Er murmelte, dass er noch etwas zu erledigen habe, und verschanzte sich hinter einem voluminösen Bericht, in dem er stur las, und unterbrach sich nur, um Notizen zu machen.
Carruthers seinerseits war mehr als dankbar für diese Verschnaufpause. Die Rolle des naiven Professors war auf die Dauer sehr anstrengend, und nun hatte er ja auch genug Stoff zum Nachdenken.
Seine Mitreisenden aus dem Le Havre–Paris-Express waren offensichtlich Bekannte von Groom, und ebenso offensichtlich war diese Begegnung für Groom eine unangenehme Überraschung. Hatte das Paar etwas mit Grooms Geschäft zu tun? Das war möglich. Möglicherweise handelte es sich um die Vertreter der ixanischen Regierung in England. Doch wenn dem so war, warum hatte dann ihr Anblick Groom so überrascht? Carruthers verfluchte erneut den treulosen Verrat Durands. Durand hätte sicher mehr gewusst. Durand – da kam ihm plötzlich ein Einfall. Vertreter? Groom hatte nur von einem gesprochen. Die Frau konnte allerdings die Ehefrau des Beamten sein oder seine »Sekretärin«. Dieser Gedanke deprimierte ihn zutiefst. Er sah vor seinem geistigen Auge nochmals das Bild, das sie im Zug Le Havre–Paris geboten hatten. Der Mann, den er allerdings nur flüchtig betrachtet hatte, hätte durchaus ein Vertreter der ixanischen Regierung sein können. Gepflegt, rundlich, dunkel, erinnerte er Carruthers an einen armenischen Handlungsreisenden. Aber ein solcher Mann konnte nicht die Liebe einer solchen Frau gewinnen. Auch behandelte er sie ehrerbietig, wie eine Vorgesetzte. Plötzlich fiel ihm ein, dass Groom durch das unerwartete Auftauchen dieser Frau aus der Fassung geraten war. Wer war sie? Groom würde es ihm sicher nicht sagen. Je weniger Professor Barstow wusste, desto besser. Das musste er also allein herausbekommen.
Er stand auf, sagte, dass er sich ein wenig die Beine vertreten wolle, ging in den Korridor und schloss die Tür hinter sich. Zuerst galt es, das Abteil der beiden Fremden ausfindig zu machen. Wenn seine Überlegungen stimmten, mussten sie sich auch im rumänischen Kurswagen nach Zovgorod befinden.
Carruthers passte sich den Bewegungen des Zuges an, um möglichst langsam und unauffällig den Gang entlanggehen, wie beiläufig in die Abteile schauen und deren Insassen mustern zu können. Er war schon fast am Ende des Wagens und bei der Überzeugung angelangt, dass seine Überlegung falsch gewesen sein musste, als er sie sah. Die beiden waren allein im Abteil. Der Mann döste, die Frau las in einem Buch.
Carruthers ging bis ans Ende des Wagens, wo er stehen blieb, sich auf den Handlauf stützte und hinausschaute. Wenn er seinen Kopf nur leicht drehte, konnte er bequem den ganzen Korridor des rumänischen Wagens überblicken. Nur wenige Fuß entfernt war die Tür zum Abteil des Mannes, von dem er inzwischen fast mit Sicherheit annehmen konnte, dass er Vertreter Ixaniens war, und seiner Begleiterin. Weiter hinten, am Ende des Korridors, befand sich Grooms Abteil.
Der Zug ratterte über einen Viadukt und raste durch eine Schlucht. Carruthers sah den Abhang vorbeifliegen und überlegte seinen nächsten Schachzug.
Er musste die Bekanntschaft der Dame machen, er musste mit ihr sprechen. Aber wie sollte er sie anreden? Es kam nicht in Frage, ihr seine wahre Identität und sein Vorhaben zu verraten, und genauso wenig durfte er ihr sagen, dass er Professor Barstow spielte. Er musste also als Mitreisender ein Gespräch mit ihr anfangen. Das würde nicht leicht sein. Sie sah gar nicht so aus, als würde sie sich von einem Unbekannten ansprechen lassen. Er ließ im Geiste die verschiedensten Gesprächseröffnungen passieren, aber er verwarf sie alle als zu geistlos, und er war immer noch dabei, sich etwas Originelles auszudenken, um sein Ziel zu erreichen, als ihm der Zufall zu Hilfe kam.
Der Zug war jetzt aus der Schlucht heraus und fuhr in einen langen Tunnel. Plötzlich verminderte er seine Geschwindigkeit, und als er aus dem Tunnel herauskam, fuhr er nur noch im Schritttempo. Von hinten ertönte ein andauerndes, durchdringendes Kreischen, und dann kam der Zug mit einem Ruck zum Stehen.
Sofort öffneten sich Fenster, an denen Köpfe erschienen. Einige Bahnbeamte verließen den Zug und schauten unter den rumänischen Wagen. Bald gesellte sich der mit einem langen blauen Mantel bekleidete Lokomotivführer zu ihnen. Erregtes Stimmengewirr war zu hören. Es schien an den Bremsen des Wagens zu liegen, und der Lokomotivführer zerrte an einem Hebel, der unter dem Fahrgestell hervorschaute. Die Bahnbeamten taten desgleichen, jeder von ihnen zerrte an dem Hebel, der an diesem unvorhergesehenen Halt schuld war, und aus den Wagenfenstern kam ein wahres Feuerwerk blöder Bemerkungen.
Einige Passagiere stiegen nun aus und umringten die Bahnbeamten. Andere folgten. Einer oder zwei von ihnen bewegten den Hebel mit sachverständiger Miene hin und her. Bald standen alle Passagiere um die verärgerten und ratlosen Bahnbeamten herum, diskutierten über den unangenehmen Zwischenfall und erteilten gute Ratschläge.
Von seinem Beobachtungsposten aus betrachtete Carruthers amüsiert die Szene. Da öffnete sich hinter ihm die Abteiltür, und eine helle Stimme fragte auf Englisch: »Pardon, Monsieur, können Sie mir vielleicht sagen, was da los ist?«
Als Carruthers sich umdrehte, um zu antworten, verriet sein Gesicht nichts von seinem Entzücken über diesen Glücksfall.
In ernstem Ton antwortete er: »Es scheint an den Bremsen zu liegen. Wie Sie sehen« – er zeigte auf den Menschenauflauf hinunter –, »kümmert man sich um das Problem.«
Das leise Lächeln, das ihre Lippen umspielte, machte sie noch schöner.
»Darf ich fragen, gnädige Frau«, setzte Carruthers das Gespräch fort, »woran sie gemerkt haben, dass ich Engländer bin?«
Ihr Lächeln wurde zauberhaft.
»In England wäre jedermann in seinem Abteil sitzen geblieben, bis die Sache wieder in Ordnung gebracht worden wäre. Es wäre keinem in den Sinn gekommen auszusteigen. Wir auf dem Kontinent reagieren da anders.«
Carruthers lachte.
»Sie sind eine gute Psychologin, gnädige Frau«, sagte er mit einer leichten Verbeugung.
Sie antwortete nicht, sondern schaute nervös auf die gestikulierenden Leute neben den Schienen hinunter.
»Sagen Sie, Monsieur, glauben Sie, dass wir noch lange aufgehalten werden?«
»Das ist kaum zu befürchten«, versicherte er. »Die Bremsen scheinen wieder in Ordnung zu sein. Es geht jetzt bloß um die Ehre des Lokomotivführers.«
Sie schien erleichtert und antwortete auf seinen Ton eingehend: »Das ist vielleicht eine Sache, die nicht so schnell wieder in Ordnung gebracht werden kann.«
Noch während sie sprach, pfiff die Lokomotive, es ertönten Rufe »En voiture«, und die Passagiere stolperten hastig in den Zug.
Carruthers überlegte verzweifelt, wie er das Gespräch fortsetzen könnte. Der Zug war schon angefahren, und sie machte Anstalten, ins Abteil zurückzukehren.
»Fahren Sie auch nach Bukarest?«
Sie war nicht sehr mitteilsam. Nach Bukarest, ja; aber sie bleibe nicht dort. Weitere Auskünfte gab sie keine. Carruthers beschloss, es mit einer anderen Taktik zu versuchen.
»Auch ich fahre weiter als Bukarest. Ich fahre nach Zovgorod.«
Er spürte sofort, wie sich ihre Einstellung ihm gegenüber änderte. Leise sagte sie: »Ach ja, Monsieur?«
»Kennen Sie Zovgorod?«, fragte er so naiv wie möglich.
»Ich bin schon dort gewesen.« Sie machte eine Pause. Dann drehte sie sich schnell um und sah ihm direkt in die Augen. »Fahren Sie in Geschäften dorthin, Monsieur?«
Der Frontalangriff kam für ihn ganz unerwartet. Sie musterte ihn scharf. Er hatte ein ungutes Gefühl, weil er durch seine Frage ihren Argwohn erregt hatte, und tat nun sein Bestes, indem er entwaffnend lächelte.
»Gott bewahre, nein! Ich gehe nur meinem Hobby nach, dem Fotografieren. Ich habe mir sagen lassen, dass die Landschaft um Zovgorod wunderschön ist.«
Sie zog die Brauen hoch.
»So? Das ist mir ganz neu. Es kommen nur selten Touristen nach Ixanien. Es gibt nur wenig Pittoreskes in Ixanien, das Sie nicht auch jenseits der Grenze haben könnten, nebst dem Vorteil bequemer Hotels.«
Sie hatte das in bitterem Ton gesagt und schaute nun aus dem Fenster, als hätten ihre Worte unangenehme Erinnerungen wachgerufen. Carruthers war sich zwar im Klaren, wie läppisch sich seine improvisierte Ausrede angehört haben musste, hoffte jedoch insgeheim, er habe sie täuschen können. Er wurde sogleich enttäuscht.
»Man hat Sie falsch informiert, mein Freund«, sagte sie in festem Ton. »Ixanien hat keine Sehenswürdigkeiten. Ich rate Ihnen, Ihre Pläne zu ändern.«
Carruthers zuckte die Achseln.
»Man ist immer auf der Suche nach Neuem«, sagte er lahm und beschloss bei sich, in Basel als Erstes eine Kamera zu kaufen.
»Ändern Sie Ihre Pläne trotzdem, Monsieur. Das Klima von Ixanien ist für Besucher sehr ungesund, besonders im Frühling.«
Wieder starrte sie ihn an, und ihr Blick verwirrte ihn sehr. Das war ohne Zweifel eine Warnung gewesen. Auf irgendeine mysteriöse Weise hatte sie herausbekommen, wer er war. Ob sie ihn nun für Conway Carruthers hielt oder für Professor Barstow, den technischen Berater von Cator & Bliss, wusste er jedoch nicht. Und doch hing viel davon ab, wie viel sie wusste.
Er würde sicher nichts gewinnen, wenn er sich als der helle Kopf zeigte, der er war. Er lächelte ungläubig und wollte eben antworten, als sie ihm zuvorkam und ihn laut und deutlich fragte:
»Monsieur, würden Sie so freundlich sein und mir sagen, wann wir in Basel ankommen?«
»Um halb neun, Madame.«
»Merci, Monsieur.«
Mit betörendem Lächeln drehte sie sich um, verschwand in ihrem Abteil und zog die Tür hinter sich zu. Aus seinem Augenwinkel entdeckte Carruthers den Grund dafür.
Am Ende des Ganges stand Groom und beobachtete sie.