Читать книгу Der dunkle Grenzbezirk - Eric Ambler - Страница 7
2. Kapitel
Оглавление17. und 18. April
Es vergingen einige Sekunden, bevor Professor Barstow begriff, was der andere wollte.
»Aha«, sagte er dann.
Sanft fuhr Groom fort: »Natürlich wird Ihre Beziehung zu Cator & Bliss absolut vertraulich behandelt. Was die finanzielle Seite betrifft, so können Sie verlangen, was Ihnen angemessen erscheint. Auf einer Auflage müssen wir allerdings bestehen: Cator & Bliss bleibt alleiniger Eigentümer sämtlicher Ergebnisse Ihrer Arbeit.«
Der Professor schluckte.
»Und wenn ich das Angebot ablehne?«
»Für diesen unwahrscheinlichen Fall werden Sie sich selbstverständlich daran erinnern, dass Sie mir Ihr Wort gegeben haben, alles, was ich Ihnen mitteilen würde, streng vertraulich zu behandeln. Nichts liegt mir ferner, als Ihnen etwas suggerieren zu wollen, aber ich glaube, dass Sie als verantwortungsbewusster Staatsbürger davor zurückschrecken werden, eine internationale Krise heraufzubeschwören, die ganz gewiss zu einem Krieg führen würde – das heißt, immer vorausgesetzt, es gelänge Ihnen, auch nur einen Menschen von der unglaublichen Wahrheit zu überzeugen.
Indes«, fuhr er fort, »bin ich überzeugt, dass Sie nicht ablehnen werden, Professor. Zu viel steht auf dem Spiel. Stellen Sie sich die Konsequenzen für Europa vor, wenn dieser drittrangige Staat dank einer Laune des Schicksals alle andern in der Hand hat. Macht ist für die Mächtigen. Geben Sie den Schwachen Macht in die Hand, und Sie haben Tyrannei. Hier ist Ihre Chance, Professor, nicht nur der Wissenschaft, sondern der ganzen zivilisierten Menschheit einen Dienst zu erweisen. Sie werden sehen, dass der Lohn die Mühe wert ist.«
Der Professor erhob sich mit entschlossener Miene und sagte sehr deutlich:
»Mr Groom! Im Verlaufe unseres Gesprächs habe ich geäußert, dass sich die Wissenschaft nicht mehr ausbeuten lassen kann. Und das habe ich genauso gemeint, wie ich es gesagt habe. Sie wünschen meine Mitarbeit bei einem Unternehmen, von dem Sie sagen, dass es der Wissenschaft und der zivilisierten Menschheit diene. Darf ich Sie korrigieren? Dieses Unternehmen nützt nur einer ganz kleinen Minderheit, nämlich den Aktionären von Cator & Bliss. Wenn das, was Sie mir erzählt haben, wahr ist und dieser hirnverbrannte Kassen seine Fähigkeiten destruktiv statt konstruktiv verwendet, dann ist das eine Angelegenheit, die die ganze Menschheit angeht. Meine Antwort auf Ihren Vorschlag lautet: nein.«
Groom lachte.
»Habe ich recht mit der Annahme, Professor, dass Sie die Absicht haben, dem Völkerbund von unserem Gespräch Mitteilung zu machen?«
»Sie hatten ja die Liebenswürdigkeit«, gab der Professor zur Antwort, »mich daran zu erinnern, dass ich Ihnen mein Wort gegeben habe, die Angelegenheit vertraulich zu behandeln. Aber es würde mir ja sowieso keiner glauben, wenn ich mein Wort breche. Im Übrigen hoffe ich, dass dies alles nur ein unangenehmer Traum ist und ich bald erwache.«
Groom seufzte.
»Ach, Professor«, murmelte er, »ich wollte, wir könnten alle so gut Realität und Phantasie vermengen. Für mich persönlich sind ethische Fragen immer nur eine Frage des Standpunktes. Und so hoffe ich denn immer noch, dass Sie sich in dieser Sache auf meinen Standpunkt stellen werden.«
Professor Barstow vergaß einen Moment seine gute Erziehung.
»Da können Sie verdammt lange warten, Mr Groom«, sagte er in festem Ton.
Groom erhob sich langsam. Seine Lippen lächelten, aber seine Augen waren zu Nadelspitzen kalter Wut geworden und bohrten sich gnadenlos direkt in das müde Gehirn des Professors. Seine Stimme klang wie von weit her.
»Ganz wie Sie wollen, Professor, ich denke nicht daran, Ihr Nein zu akzeptieren. In den nächsten Tagen wohne ich im Ritz in Paris. Ich fliege heute Abend. Sollten Sie ihre Ansicht ändern …«
Aber der Professor hörte nichts mehr, er stand wie betäubt da, sein Gehirn war leer, und er spürte nur noch das Schlagen seines Pulses. Mit letzter Kraft riss er sich zusammen, aber als er endlich wieder aufsah, war Groom gegangen.
Er sank in seinen Stuhl und griff nach seinem Kaffee; er war kalt geworden, und so blieb er sitzen, den Kopf in die Hände gestützt, und schaute aus dem Fenster.
Der Himmel war bedeckt, und es fiel ein leichter Regen. Das Einzige, was er in seiner Verwirrung klar spürte, war, dass er nicht sofort nach Truro weiterfahren wollte. Wieder hatte er das Gefühl, dass er gerade aus einem Albtraum erwacht sei. Das Blut hämmerte in seinem Kopf, als er sich erhob und den Speisesaal verließ. »Sollten Sie Ihre Ansicht ändern …« Grooms letzte Worte passten sich dem Rhythmus seines Herzens an. Der Professor schüttelte sich. Er begann die Kontrolle über sich zu verlieren. Ohne zu wissen, was er tat, stolperte er durch die Hotelhalle in den leeren Aufenthaltsraum.
Im Kamin knisterte ein großes Holzfeuer, und er setzte sich davor. Die Wärme, der bequeme Sessel, das gute Essen, die Müdigkeit, alles lud zu einem Nickerchen ein. Aber das überreizte Gehirn ließ den Professor nicht zur Ruhe kommen. Vor seinem geistigen Auge sah er wieder und immer wieder eine Schreckensszene.
Er lag auf einem Hügel. Unten im Tal, inmitten von Blumen, spielten Kinder. Der Wind trug ihre dünnen, schrillen Stimmen zu ihm herauf. Dann bemerkte er, dass die Kinder nicht allein waren. Ganz in ihrer Nähe, in einer Senke, waren Männer, Männer in Uniform, die sich eifrig über etwas zu unterhalten schienen, das aber so klein war, dass er es nicht sehen konnte. Im nächsten Augenblick rannten sie auseinander. Dann blieben sie stehen und schauten hinunter zu dem Blumenmeer und den spielenden Kindern. Nichts war zu hören außer den Stimmen der spielenden Kinder im Wind. Plötzlich zitterte der Boden unter seinen Füßen, bebte, tat sich brüllend auf und spie schwarze Erde gen Himmel, wo diese wie ein Vorhang hängen blieb. Dann sank der Vorhang, langsam, wie vom Wind getragen, und enthüllte die Szene dahinter. Mit einem Schrei des Entsetzens erwachte der Professor.
Ein Scheit war vom Rost gefallen und flackerte heftig. Er starrte einen Moment drauf, noch ganz befangen vom letzten Schreckensbild, das er gerade gesehen hatte.
Als er das Scheit auf den Rost zurücklegte, bemühte er sich, seine Gedanken zu ordnen. Was hatte er sich denn da eingebildet? Wie kam er, ein intelligenter und angesehener Wissenschaftler, dazu, die fixen Ideen eines übergeschnappten Hotelgastes ernst zu nehmen? Das war ja absurd. Und doch, wie man’s auch drehte und wendete, Simon Groom entsprach kaum dem Bild eines harmlosen Narren. Dieser kühle, stete, berechnende Blick, die selbstsichere, ruhige, gebieterische Art, das waren alles nicht die Kennzeichen eines Dummkopfes. Er versuchte, sich die ganze Sache aus dem Kopf zu schlagen.
Wenn es nun aber doch wahr wäre?
Die Frage ließ und ließ ihn nicht in Ruhe. Nur einmal angenommen, es wäre wahr. Groom hatte gesagt, dass ihm niemand die Geschichte glauben würde, und für den Fall, dass er doch einen fände, so wären die Konsequenzen höchstwahrscheinlich katastrophal. Vielleicht war es doch besser, dass Cator & Bliss die Sache in die Hand nahmen und sie nach alter Väter Sitte und zum Besten ihrer Aktionäre erledigten. Solche Gewalt wäre auf jeden Fall in ihren Händen besser aufgehoben als in den Händen der ixanischen Regierung. Cator & Bliss würden die neu erworbene Macht wenigstens verteilen, das heißt, sie den Meistbietenden verkaufen. Die Regierung von Ixanien hingegen würde sie mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit dazu benutzen, ihre territorialen Forderungen bei ihren unglücklichen Nachbarn durchzusetzen.
»Das ›Gleichgewicht der Kräfte‹ muss erhalten bleiben«, murmelte der Professor vor sich hin.
Hatte man das nicht schon seit Jahrhunderten gesagt? Hatte nicht Kardinal Wolsey das Heinrich dem Achten als Außenpolitik verschrieben? Hatte nicht jeder europäische Staatsmann seit jener Zeit danach gestrebt? Und strebten sie nicht immer noch danach, mit all ihren Pakten, Verträgen und Bündnissen? Und doch hatte es immer wieder Krieg gegeben, und es sah ganz so aus, als ob es immer wieder Krieg geben würde. Was konnte man auch Besseres erwarten, solange der Krieg noch ein gangbares Mittel war, internationale Auseinandersetzungen zu regeln? Was konnte man erwarten, solange Menschen, die Frieden wollten, glaubten, Kriegsvorbereitungen seien die beste Garantie für die nationale Sicherheit? Was konnte man von einem Gleichgewicht der Kräfte erwarten, das durch Länder, Soldaten und Waffen, mit andern Worten, durch Geld reguliert wurde. Kriege kündigten sich durch Ultimaten, Hassausbrüche und defensive Mobilmachungen an, aber angezettelt wurden sie von jenen, die die Macht hatten, das Gleichgewicht zu stören, mit internationalem Geld und Wertpapieren zu intrigieren und zu schmieren; von jenen, die zum Zwecke der Befriedigung ihrer Privatinteressen ökonomische und soziale Situationen schufen, die zu Krieg führen mussten. Der größte Posten in jedem Staatshaushalt war für vergangene oder zukünftige Kriege. Es hatte ganz den Anschein, als sei die Hauptbeschäftigung und das einträglichste Geschäft einer jeden Regierung das Kriegführen.
Was tun? Eins war klar: Es lag am System. Das Geldsystem machte das Schmiergeldsystem erst möglich. Hier musste eine radikale Änderung eintreten. Aber während die Völker dieser Erde lernten, wie man es anders und besser machte, könnte die alte Ordnung zusammenbrechen und sie unter sich begraben. Zum Beispiel diese Erfindung von Kassen: Die Wissenschaft schritt voran, ohne soziale Verhältnisse abzuwarten, für die ihre Errungenschaften ein reiner Segen wären. In einer andern, besseren Weltordnung hätte diese Erfindung einem guten Zweck dienen können, nämlich der Energieversorgung. So aber, wie die Dinge jetzt lagen, hatte das von der Pest der Vaterländerei befallene Genie Kassens eine Höllenmaschine erfunden. Dass eine solche Situation unvermeidlich gewesen war, wusste niemand besser als der Professor. Die Wissenschaft hatte den Menschen unversehens überlistet. Jetzt war es zu spät, um von einer neuen Weltordnung zu reden. Die Vernichtung stand unmittelbar bevor. Zwar fuhr man noch Ford, Citroën, Opel, Morris-Cowley, und die Ehefrau wusch einem die Kleider und stopfte die Socken, aber in einem Labor in einem winzigen Balkanstaat, in den Direktionsräumen der Firma Cator & Bliss und hier in diesem Hotel waren Männer dabei, die alte Welt in Schutt und Asche zu legen.
Wie konnte man sie aufhalten? Und selbst angenommen, man könnte sie aufhalten, wer wäre dazu in der Lage? Einmal angenommen, man könnte dem Mann von der Straße die Gefahr, in der er schwebte, plausibel machen, und er könnte veranlasst werden, etwas dagegen zu unternehmen, wie würde er vorgehen? Die bloße Existenz einer Organisation würde mit Sicherheit den Untergang herbeiführen, den sie verhindern sollte. Nein, der kleine Mann hatte nur eine Chance: Ein außerordentlicher Mensch musste erscheinen und für ihn kämpfen, ein Mann mit übermenschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, ein Mann, der die Machenschaften von Kassen, Ixanien und Cator & Bliss rasch und unauffällig vereiteln würde.
Wo sollte man einen solchen Mann finden? Aus lauter Verzweiflung nahm der Professor das Buch in die Hand.
Sein Eigentümer hatte es auf dem Sofa neben dem Sessel, in dem der Professor saß, liegen lassen. Es war aufgeschlagen, umgedreht, und sein grellgelber Umschlag stach in die Augen. Auf der Rückseite war eine Liste der andern Bücher des Verlags, auf der Vorderseite prangte ein dreifarbiges Bild, das einen schlanken Mann mit markantem Kinn und starkem Bartwuchs zeigte, der eine automatische Pistole in der Hand hielt. Darüber der Titel in blutroten Lettern:
CONWAY CARRUTHERS, DEPT. Y.
Der Professor wollte das Buch schon wieder weglegen, da es ja nicht ihm gehörte, als sein Blick an einem Absatz auf der aufgeschlagenen Seite hängen blieb. Er begann zu lesen.
Carruthers’ Muskeln strafften sich, dann sprang er mit der Geschmeidigkeit eines Panthers und hielt sich mit beiden Händen am Sims fest. Unter sich sah er Krask verbissen die Feuertreppe heraufklettern, in der Hand eine glitzernde automatische Pistole. Es war keine Zeit zu verlieren. Mit einem Klimmzug seiner mächtigen Muskelpakete hievte sich Carruthers in den Schutz der Fensterbrüstung. Für einen Augenblick war er in Sicherheit. Aber Krask hatte ihn gesehen, und Carruthers hörte, wie er die Mauser entsicherte. Zum ersten Mal in seinem Leben war Carruthers wirklich in einer verzwickten Lage. Ins Innere des Hauses zurückzukehren würde seinen sicheren Tod bedeuten – Schwartz würde dafür sorgen. Mit einem unbewaffneten Krask wäre er leicht fertiggeworden, aber er musste mit der Mauser rechnen, und Krask stand im Ruf eines Meisterschützen. Da kam ihm jene unglaubliche Findigkeit zu Hilfe, die den Namen Carruthers in allen fünf Erdteilen zu einem Schrecken für die Verbrecher gemacht hatte. Schnell, doch sehr ruhig, wickelte Carruthers von seiner Hüfte eine lange, seidene Kordel. Ein japanischer Fischer, der ihm sein Leben verdankte, hatte sie ihm verehrt. Sie war dünn, aber sie trug leicht das Gewicht eines Mannes und hatte ihm schon aus mancher Klemme geholfen. Mit leichter, geübter Hand knüpfte er einen Gleitknoten hinein, legte sich die Kordel wie ein Lasso um die Hand und ging dann auf Zehenspitzen an den Rand des Simses. Krask war nun etwa sechs Meter weiter unten. Er schnaufte, und sein brutales Gesicht troff vor Schweiß, aber er hielt die Pistole fest in der Hand, und es war klar, dass er sofort losballern würde. Carruthers prüfte die Schlinge ein letztes Mal. Ein Cowboy aus Arizona, mit dem er befreundet gewesen war, hatte ihn in die Geheimnisse des Lassowurfs eingeweiht. Zischend schlängelte sich die Seidenkordel nach unten. Krask hörte sie nur. Doch dann stellte er fest, dass ihm die Mauser aus der Hand gerissen worden war. Verblüfft blieb er stehen. Dann erfasste ihn die Panik. Er drehte sich um und rannte die Feuertreppe hinunter. Er kam nicht weit.
»Noch ein Schritt«, sagte Carruthers freundlich, aber unerbittlich, »und Sie sind ein toter Mann.«
Professor Barstow seufzte. Er hatte dergleichen seit Jahren nicht mehr gelesen. Der Mathematiker Barstow konnte den Romantiker Barstow nicht brauchen. Doch im Herzen eines Mannes stirbt der Sinn für Romantik nie. Die reine Vernunft mag sie entthronen, der Alltag sie ersticken, aber sie schwelt weiter und erwischt den Mann in seinen schwachen Augenblicken und spornt ihn an in seinen besten. Der Verstand hatte den Professor an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht. Nun winkte die Phantasie in der farbenprächtigen Gestalt eines Conway Carruthers. Es war also nichts weiter als logisch, dass der Professor die erste Seite des Buches aufschlug und zu lesen begann.
Der passionierte Leser von Abenteuergeschichten und Kriminalromanen verlangt vom Helden bloß eines: jeder Situation gewachsen zu sein. Sei dieser nun Detektiv oder Meisterverbrecher, er muss der Inbegriff der Vollkommenheit sein. Ist er einmal in einer kritischen Situation, so darf sie nur vorübergehend sein. Sein riesiges Arsenal an Erfahrung muss ihm in jedem Moment die richtige Waffe liefern, die ihn auch aus der verzweifeltsten Situation heraushaut, oder aber den glücklichen Einfall, der, wenn auch auf Umwegen, zum guten Ende führt.
Professor Barstow machte da keine Ausnahme.
Conway Carruthers befriedigte alle seine Ansprüche restlos.
Es gab nichts, was dieser bemerkenswerte Mann nicht hätte vollbringen können. Verglichen mit anderen Gestalten des Buches musste er etwa vierzig Jahre alt sein. Dagegen sprach aber seine körperliche Leistungsfähigkeit, die jedem fünfundzwanzigjährigen Olympia-Athleten zur Ehre gereicht hätte. Es war ihm auch im Laufe seines Lebens gelungen, einer Vielzahl von Menschen der verschiedensten Länder das Leben zu retten und Freundschaft mit ihnen zu schließen. Die Dankbarkeit dieser Glücklichen trug nicht wenig zu seinem Erfolg bei. Sooft ihm auch der Tod ins Auge starrte, immer rettete ihn ein Trick, den er von einem patagonischen Indianer oder einem bessarabischen Muschik gelernt hatte. Die Freundschaft mit einem chinesischen Jongleur oder einem Stauer aus Batavia wies einen Ausweg aus einer scheinbar ausweglosen Lage. Aber all diese seltsamen Kenntnisse hätten ihm ohne sein erstaunliches Wissen um menschliche Charaktere und Handlungsmotive wenig genützt. Seiner Fähigkeit, Feinde zu durchschauen, entsprach nur sein Talent, sich welche zu schaffen. Wenn er so nahe bei einem Menschen stand, dass er sehen konnte, wie nahe dessen Augen beieinanderstanden, so las er in diesem Menschen wie in einem offenen Buch. (Bei dieser Stelle fragte sich der Professor, ob die Form des Stirnbeins etwa vom Sittlichkeitsgefühl abhing.) Dem stahlharten Blick dieser kalten, grauen Augen zeigten sich scheinbar belanglose Geschehnisse in ihren wahren, düsteren Farben. Vom Glitzern des Messers, das der Mörder hinter ihm gezückt hatte (er bemerkte es gerade noch rechtzeitig), bis zum leichten Kratzen des Schlüssels im Schloss des alten Schreibtischs, nichts entging ihm. Darüber hinaus war er die Verschwiegenheit in Person. Könige und Königinnen, Kabinettsminister und Generale, Prälaten und östliche Potentaten, sie alle vertrauten ihm ihre Geheimnisse an. Hinter dieser hohen, graden Stirn ruhten Staatsgeheimnisse von schreckeneinflößender Bedeutung. Doch Carruthers’ Lippen waren auf ewig versiegelt. Er war frei von den Ängsten und Eitelkeiten der gewöhnlichen Sterblichen, von ihrer Beschränktheit und Tölpelhaftigkeit, und gehörte zu der illustren Gesellschaft der Sherlock Holmes, Raffles, Arsène Lupin, Bulldog Drummond und Sexton Blake.
Der Professor hatte Groom und seine Geschäfte für einen Augenblick vergessen und war mit Conway Carruthers hinter dessen Beute her. In London erlebte er, wie ein Attentat auf Carruthers misslang; in Paris war er dabei, als der Chef de la Sûreté Carruthers wie einen guten alten Freund empfing. In Berlin folgte er Carruthers, als dieser sich in einer Vorstadt den Weg aus einem Schlupfwinkel internationaler Gauner freikämpfte. Der Tausendsassa Carruthers, ein grimmiges Lächeln auf den schmalen Lippen, ein stählernes Glitzern in den Augen, verfolgte seine Beute, begleitet vom Professor und geleitet von einem freundlichen Schicksal bis auf Seite 43, als sich die Wirklichkeit wieder meldete.
Es ist ganz interessant, wenn auch müßig, über die Rolle zu spekulieren, die der Eigentümer des Buches in der Weltgeschichte spielte. Wir können bloß berichten, dass es ihm gefiel, einzutreten und sein Buch zurückzuverlangen, gerade als der Professor auf Seite 44 umblätterte.
Es war ein kleiner Mann in weiten Knickerbockers.
»Ich habe hier auf dem Sofa ein Buch liegen lassen«, sagte er.
Schuldbewusst stammelte der Professor eine Entschuldigung und gab Conway Carruthers zurück.
»Aber ich bitte Sie, aber ich bitte Sie«, versicherte der andere. »Ich weiß doch, wie das ist. Wenn man einmal mit so einem verdammten Schund angefangen hat, kann man vor der letzten Seite nicht mehr aufhören. Und das ist ja gerade das Schöne an der Sache. Eine spannende Geschichte, die einen die Wirklichkeit vergessen lässt. Meine Frau will immer nur über das wirkliche Leben lesen. Aber wer zum Teufel, sage ich immer, will denn etwas über das wirkliche Leben erfahren? Da lobe ich mir Carruthers. Der hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun.«
Der Professor erwiderte geistesabwesend das Abschiedsnicken; jedoch, wie er so dasaß und dem Regen, der ans Fenster prasselte, zusah, klangen die Worte des Mannes in seinen Ohren nach: »Der hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun.«
Wenn Conway Carruthers doch nur wirklich wäre! Dieser phantastische Charakter, der in jedem Fach ein Meister und nie um einen Einfall verlegen war, hatte etwas Beruhigendes. Carruthers wäre mit Kassen und seiner Bombe spielend fertiggeworden. Carruthers hätte mit Groom umgehen können. Und vor allem hätte Carruthers genau gewusst, was jetzt getan werden musste. Wenn nur er in diesem Sessel säße, mit seinen stahlgrauen, wachsamen Augen, mit seinen langen feingliedrigen Fingern, die ruhig und geschickt in den Tabakbeutel griffen, um die Pfeife zu stopfen. In dem übermüdeten Gehirn des Professors wurde das Bild lebendig bis zur Wirklichkeit.
»Und so liegt’s denn an uns, die Zivilisation zu retten«, murmelte Carruthers. Für einen Moment wurden die harten Linien seines Mundes weich, dann wurde sein Gesicht wieder zur Maske. »Zuerst«, sagte er barsch, »heißt’s einmal, Cator & Bliss zuvorzukommen. Ich fahre noch heute Nacht nach Zovgorod.«
Zu seiner Verwunderung ertappte sich der Professor, dass er den letzten Satz laut gesprochen hatte. Er erschrak und nahm sich zusammen. Was um Himmels willen war nur los mit ihm? Der Sessel ihm gegenüber war leer, und er hatte mit sich selber gesprochen. Es überlief ihn kalt, und er erhob sich und trat verwirrt ans Fenster. Plötzlich trieb es ihn hinaus an die frische Luft, er wollte nach Truro und seinen Urlaub antreten. Groom, Kassen und die ganze Zivilisation sollten sehen, wie sie zurechtkamen; er war müde, sehr müde.
Die Straße, die aus Launceston führt, steigt steil an, hinauf ins Moor, das zwischen Launceston und Truro liegt. Es gibt wohl keinen verlasseneren Landstrich in England, und die meisten Autofahrer nehmen die Hauptstraße, weil sie in der öden Heidelandschaft, viele Meilen von jeder Garage entfernt, keinen Motorschaden riskieren wollen. Der Professor jedoch nahm eine Nebenstraße.
Er hatte gehofft, der kalte Wind, der über die Heide blies, würde ihn erfrischen, aber das eintönige Motorengeräusch und das Heulen des Windes verstärkten bloß die Müdigkeit, die ihn befallen hatte. Er merkte es ein erstes Mal, als ihn ein Ausbrechen des Wagens fast im Straßengraben landen ließ. Er war einen Moment eingenickt. Als er sich zu konzentrieren versuchte, verspürte er eine seltsame Leichtigkeit im Kopf, eine seltsame Leichtigkeit und … noch etwas. Unter normalen Umständen hätte er sofort angehalten, wäre ausgestiegen und hätte sich etwas die Beine vertreten, bis er wieder wach geworden wäre. Jetzt aber erfasste ihn Panik, und er trat aufs Gaspedal. Er musste so schnell wie möglich weg von diesem Stimmengewirr in seinem Kopf, das zum Verrücktwerden war. Aber je schneller der Wagen fuhr, desto lauter wurden die Stimmen, und sie steigerten sich zu einem höllischen Geschrei, das plötzlich mit einem scharfen Klick abbrach. Dann hörte er bloß noch ein leises Kratzen, das langsam lauter wurde, bis es ihn fast erreichte und dann erstarb, sodass nur noch das Summen des Motors und das Schlagen seines Herzens übrig blieben. Dann kam das Kratzen wieder, wurde lauter und lauter, aber diesmal hörte er über dem Höllenkrach, der in seinem Gehirn tobte, eine Stimme, die Stimme Grooms, der leise, wie von weit her, sprach. »Sollten Sie Ihre Ansicht ändern …«
Mit einem Seufzer trat er stärker aufs Gaspedal.
»Sollten Sie Ihre Ansicht ändern … Sollten Sie Ihre Ansicht ändern … Sollten Sie Ihre Ansicht ändern …« Die Worte ertönten im Gleichtakt mit dem Motor. Er konnte ihnen nicht entkommen, er konnte sie nicht abschütteln. »Sollten Sie Ihre Ansicht ändern …« Sein Griff am Steuerrad war so fest, dass die Knöchel weiß wurden. Schweiß lief ihm in die Augen. »Sollten Sie Ihre Ansicht ändern.« Die Wiederholung war zum Wahnsinnigwerden. Nun nahm erst langsam, dann mit zunehmender Stoßkraft ein anderer Satz den Rhythmus auf. Es war aber jetzt die Stimme von Conway Carruthers, die er hörte, eine stärkere, zwingendere Stimme, die die andere übertönte.
»Ich fahre noch heute Nacht nach Zovgorod. Ich fahre noch heute Nacht nach Zovgorod. Ich fahre noch heute Nacht nach Zovgorod.«
Mit einem Schrei schlug der Professor die Hände vors Gesicht.
Krachend streifte der Wagen den Damm. Als der Professor seine Augen für den Bruchteil einer Sekunde öffnete, sah er den Kühler emporsteigen und sich in der Luft drehen. Dann fühlte er, wie er sank und immer tiefer sank.
Es war dunkel, und der Mond war aufgegangen, als der Professor die Augen aufschlug.
Er lag am Abhang des Banketts. Mit Mühe setzte er sich auf. Er konnte die Umrisse seines Wagens sehen, der umgestürzt neben der Straße lag. Sein Kopf schmerzte grauenhaft. Er legte sich die Hand auf die Stirn. Sie war voller Blut, das im Mondlicht schwarz schien. Schwankend stand er auf.
Am Fuß des Dammes war ein Bach. Er mühte sich hinunter und benetzte sein Gesicht. Das eiskalte Wasser belebte ihn ein wenig. Dann ging er zu seinem Wagen.
Er lag eingekeilt neben der Straße. Er sah sofort, dass er es nicht schaffen würde, den Wagen wieder auf die Räder zu stellen. Das Verdeck jedoch hatte den Sturz relativ heil überstanden, und es gelang dem Professor, seinen Koffer durch einen Riss herauszuzerren. Er trat mit dem Koffer in der Hand auf die Straße.
Einen Moment zauderte er, unentschlossen, welche Richtung er einschlagen sollte. Auf der linken Seite der Straße glänzte silbrig die Heide. Plötzlich sprach er. Es klang, als habe er es auswendig gelernt.
»Und so liegt’s denn an uns, die Zivilisation zu retten«, sagte er langsam. Dann machte er eine Pause. Als er fortfuhr, tönte seine Stimme kräftiger. »Zuerst heißt’s einmal, Cator & Bliss zuvorzukommen. Ich fahre noch heute Nacht nach Zovgorod.«
Er knöpfte seinen Mantelkragen zu, verließ elastischen Schrittes die Straße und marschierte in südlicher Richtung über die Heide.
Am Abend des Tages nach Professor Barstows Mittagessen in Launceston betrat ein Mann mit einem Koffer das Hotel Imperial in Plymouth und fragte nach einem Zimmer.
Zwei Dinge beeindruckten den Portier an der Rezeption. Das eine war das eingetrocknete Blut an der Schläfe des Mannes. Das andere war der starre Blick seiner kühlen, stahlgrauen Augen.
»Nummer 356, Sir«, sagte der Portier. »Wenn Sie sich bitte im Hotelregister eintragen wollen.«
Der Mann nahm es und schrieb ohne zu zögern seinen Namen.
Der Portier überflog den Namen und winkte dem Gepäckträger.
»Bringen Sie bitte Mr Carruthers’ Gepäck auf Zimmer 356«, sagte er.