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Erster Teil Ein Mann ändert seine Ansicht 1. Kapitel

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17. April

Gegen halb eins wurde Professor Barstow müde. Er war an diesem Tag schon 180 Meilen gefahren, und er seufzte erleichtert auf, als er ungefähr eine Dreiviertelstunde später in den Hof des Hotels Royal Crown in Launceston einbog.

Er stieg aus, streckte sich, drehte mit methodischer Sorgfalt die Zündung ab und schloss auf die gleiche Weise die Türen.

Professor Barstow tat alles, was er tat, mit methodischer Sorgfalt, ob er nun elektrodynamische Gesetze auf einen Fall elektronischer Abweichung anwendete oder seine Blaue Perserkatze bürstete. Er war die Ordnung in Person. Sein mageres, blasses Gesicht, seine leicht geschürzten Lippen und sein sauberer, dunkelgrauer Anzug waren die stummen Zeugen seiner Pedanterie. Seine Vorträge vor der Royal Society waren berühmt und geschätzt für ihre zuverlässige und trockene Sachlichkeit, ihre zurückhaltende Beurteilung von Theorien und die Skepsis gegenüber neuen Erkenntnissen. »Barstow«, so sagte ein berühmter Biologe einmal, »wäre ein wissenschaftliches Genie, wenn er nicht so verflucht wissenschaftlich wäre.« Diese Bemerkung, die kurz nach der Publikation von Professor Barstows kritischer Studie der Lorentz-Transformationen gemacht wurde, war, um es milde auszudrücken, erstaunlich. Die Wahrheit ist wohl die, dass er seiner Phantasie mit tiefem Misstrauen begegnete, was, ganz wie man’s nimmt, eine gute oder eine schlechte Eigenschaft ist.

In diesem Moment aber misstraute er seiner Phantasie noch mehr als gewöhnlich, und zwar, weil sie ihm etwas sagte, was er sich nur ungern eingestand, nämlich, dass er ein kranker Mann war und besser daran täte, ruhig und friedlich in einem Badekurort auf einer Hotelveranda zu sitzen, anstatt am Steuer seines Wagens, und dass Berg- und Talfahrten in rasendem Tempo auf jeden Fall unsinnig seien.

Kurz entschlossen verjagte er diesen Gedanken, betrat das Hotel und bestellte sich ein gut durchgebratenes Steak. Während er darauf wartete, trank er langsam ein Glas Sherry.

Es war wirklich schon lange her, seit er das letzte Mal Ferien gemacht hatte. Und dann kamen ihm völlig grundlos längst vergangene Tage in Cambridge in den Sinn und ein anderer Frühling, als er drauf und dran gewesen war, seine vielversprechende Karriere als Physiker aufzugeben und Diplomat zu werden.

Komisch, dass er gerade jetzt daran dachte! Damals hatte er sich ganz ähnlich gefühlt wie jetzt. In jenem Jahr hatte er wie besessen für die letzte Mathematik-Prüfung gebüffelt. Fünfzehn Stunden am Tag, viel zu viel für einen jungen Menschen. Kein Wunder, dass er fast zusammengebrochen war, kein Wunder, dass ihm der diplomatische Dienst plötzlich so begehrenswert erschienen war. Aber er hatte ja schon seit Kindesbeinen ein Faible dafür gehabt, und in seinen Tagträumen hatte er sich als graue Eminenz hinter der Szene gesehen, er hatte von Geheimverträgen, der Herstellung freundschaftlicher Beziehungen und bühnenreifen Intrigen zur Musik von Mozart, Gluck und Strauss geträumt, alle unter seiner Führung mit Metternich und Talleyrand im Hintergrund. Merkwürdig auch, wie solche Träume einen hartnäckig verfolgten. Ein Teil des Gehirns wurde zu einer perfekten Verstandesmaschine, der andere aber wanderte durch dunkle Grenzbezirke in geheimnisvolle Länder, wo Abenteuer, romantische Liebe und plötzlicher Tod den Reisenden erwarteten.

Die diplomatische Karriere, das hatte er unterdessen erfahren, brachte wenig Abenteuer und selten einen plötzlichen Tod mit sich, und die romantische Liebe in Gestalt einer reifen Frau, der Frau des Juniorpartners seines Vaters, hatte ihn zurück an die Arbeit geschickt. Seine unerklärte Leidenschaft war hoffnungslos und dauerte, wie er sich erinnerte, nicht ganz eine Woche. Er seufzte.

Er dachte immer noch darüber nach, wie unrealistisch seine jugendlichen Torheiten gewesen waren, als er sich im Speisesaal zu Tisch setzte. Langsam verzehrte er sein Steak. Er war allein bis auf einen rundlichen, weißhaarigen Mann, dem er keine Beachtung schenkte. Als er jedoch von seinem Teller aufsah, bemerkte er zu seinem Erstaunen, dass er angestarrt wurde.

»Schöner Tag heute«, bemerkte der Weißhaarige, als sich ihre Blicke trafen.

»Ja«, sagte Professor Barstow, und um nicht unhöflich zu erscheinen, fügte er hinzu, »ein sehr schöner Tag.«

Er fühlte sich immer ein wenig unbehaglich, wenn Fremde ihn ansprachen, und machte keinen Versuch, das Gespräch fortzusetzen. Aber der Weißhaarige ließ nicht locker.

»Bleiben Sie in Launceston, Sir?«

Professor Barstow schüttelte den Kopf.

»Ich fahre weiter nach Truro«, gab er zur Antwort und fragte höflich: »Und Sie? Bleiben Sie in diesem Hotel?«

Der Weißhaarige nickte geistesabwesend. Dann schien er einen Entschluss zu fassen, rückte seinen Stuhl näher an Professor Barstows Tisch und beugte sich mit ernster Miene vor.

»Vor sechs Monaten war ich in China. Davor war ich in Südamerika. Und davor war ich in der Türkei. Sechs Jahre bin ich nun im Ausland gewesen und habe mich sechs Jahre darauf gefreut, heimzukommen und mich hier niederzulassen. Jetzt bin ich zu Hause, und was finde ich?«

Professor Barstow, den das nur mäßig interessierte, nickte ernst. Wahrscheinlich hatte er hier irgendeinen Verwaltungsbeamten aus den Kolonien vor sich. All diese Leute waren notorische Schwätzer.

Der Weißhaarige hob seufzend die Kaffeetasse.

»Nichts«, sagte er dann, »ganz einfach nichts. Ich bin jetzt einen Monat zu Hause. Die ersten drei Tage entzückte mich der Anblick grüner Felder und gestutzter Hecken. Jetzt langweilt er mich. Alles, was ich finde, ist eine besonders gefährliche Spezies des ägyptischen Moskitos und eine Landschaft voller Tanksäulen.«

»Übertreiben Sie da nicht ein wenig?«

»Vielleicht«, antwortete der andere düster, »aber wenn man seine Seele mit Erwartungen genährt hat, ist die Wirklichkeit oft enttäuschend.«

Der Professor, der befürchtete, dass das Gespräch eine Wendung ins Sentimentale nehmen könnte, lenkte ab.

»Sie leben im Ruhestand?«

Der Weißhaarige schaute ihn einen Moment an, bevor er antwortete. Der Professor war nicht leicht zu beeindrucken, aber es schien ihm nun, dass der erste Eindruck, den er von seinem Gegenüber gehabt hatte, falsch gewesen sein musste. Die plumpe Jovialität war verschwunden, unter buschigen Augenbrauen sahen kühle, berechnende, furchtlose Augen hervor. Der Mann ignorierte die Frage.

Nachdenklich sagte er: »Entschuldigen Sie, Sir, aber mir scheint, als hätte ich Ihr Gesicht schon irgendwo gesehen.«

Der Professor spürte mehr, als er sah, wie ihn die kalten Augen musterten, während er antwortete:

»Vor ungefähr einem Jahr«, sagte er, »war ich zwei Tage lang das, was die Journalisten als ›Sensation‹ bezeichnen. Ich machte Schlagzeilen. Mein Bild ging durch die Presse. Die Zurschaustellung war mir sehr peinlich.«

Wie durch Zauberei gewann der Weißhaarige seine Jovialität zurück. »Hab ich’s doch gewusst!«, rief er aus und schlug sich triumphierend auf den Schenkel. »Namen entfallen mir manchmal, aber ein Gesicht vergesse ich nie. Moment, nicht verraten«, sagte er, als der Professor etwas sagen wollte: »Der Name … warten Sie … der Name ist … Barstow … Professor Barstow.«

»Sie haben ein erstaunliches Gedächtnis, Sir.«

»Training, Herr Professor, alles nur Training.« Der Weißhaarige kicherte. Er betrachtete den Professor mit erneutem Interesse. »Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt«, fuhr er fort, »so haben Sie durch Ihre Ankündigung, dass in naher Zukunft Kernenergie zum Nutzen und zum Schaden der Menschheit eingespannt werden könne, Aufsehen erregt; das war doch ungefähr der Sinn Ihrer Worte, nicht wahr?«

Gereizt protestierte der Professor. »Ich habe nichts dergleichen gesagt. Meine Erklärung vor der British Association ist in grober Weise missdeutet worden. Ich habe bloß gesagt, dass die bedeutsamen Entwicklungen auf dem bislang unerforschten Gebiet angewandter Kernenergie nicht unbedingt ein reiner Segen sein könnten. Eine harmlose Spekulation meinerseits, die zu den wildesten Interpretationen geführt hat.«

Sein Nachbar, der seinen Stuhl an den Tisch des Professors gezogen hatte, hörte ihm interessiert zu.

»Ein erstaunlicher Zufall, wirklich ganz erstaunlich«, murmelte er offenbar zusammenhanglos. »Es wäre mir eine Ehre, Herr Professor, wenn ich Sie zu einem Gläschen einladen dürfte.«

Ohne zu zögern, akzeptierte der Professor. Er hatte sein Erlebnis mit den Zeitungen immer noch nicht verwunden, und es freute ihn, sich einem so verständnisvollen Zuhörer erklären zu können.

Eine Zeit lang plauderten sie einfach dahin. Der Professor erfuhr, dass der Weißhaarige Simon Groom hieß. Er sprach gewandt und wie ein Wasserfall. Seine Kenntnisse der Außenpolitik waren verblüffend. Der Professor, ein begeisterter Leser des Auslandteils der Times, erfuhr von einer Krise, die stattgefunden hatte und die Groom mit so viel Selbstverständlichkeit beschrieb, dass kein Zweifel daran aufkommen konnte. Er begann sich zu fragen, was dieser Simon Groom wohl für einen mysteriösen Beruf ausübte. Er bekam die Antwort sofort. Groom brachte das Gespräch erneut auf die Arbeit des Professors.

»Wissen Sie, Professor«, begann er, während er sorgfältig das Ende seiner Zigarre abschnitt, »wissen Sie, ich habe ganz einfach das Gefühl, dass Ihnen der sensationelle Aspekt des Standpunkts sehr wohl bewusst gewesen ist, als Sie erklärten, die praktische Anwendung der Kernenergie sei nicht unbedingt ein reiner Segen.« Er lehnte sich zurück und schaute den Professor spöttisch an.

Der Professor schwieg. Sein erster Gedanke war, dass es sich auch bei Groom um einen dieser verflixten Journalisten handelte, die ihn in eine Falle locken wollten. Zum hundertsten Mal verfluchte er den Fauxpas vom vorigen Jahr, durch den er sich vom festen Boden der Tatsachen aufs Glatteis der Voraussagen begeben hatte.

»Mr Groom«, sagte er steif, »ich habe meiner Erklärung nichts hinzuzufügen. Die ganze Sache ist bedauerlich, und sie ist mir im höchsten Maß zuwider.«

Sein Tischgenosse blieb unbeeindruckt. Er lächelte und nahm seine Zigarre aus dem Mund.

»Herr Professor, ich entschuldige mich. Ich hätte Ihnen erklären sollen, warum ich frage. Der Zufall hat mich mit dem einzigen Menschen zusammengebracht, dessen Hilfe ich brauche. Lassen Sie mich das bitte erklären.«

Ohne eine Antwort des Professors abzuwarten, fuhr er fort.

»Ist Ihnen der Name Cator & Bliss ein Begriff? Wie ich sehe, ja. Dann wissen Sie sicher, dass Cator & Bliss zu den größten Waffenkonzernen der Welt gehören. Wir und unsere Tochtergesellschaften produzieren den Großteil des Waffenbedarfs der Welt. Schneider-Creusot in Frankreich, unsere Vickers-Armstrong, Škoda, die Bethlehem Steel Corporation, Dupont und einige kleinere Konzerne liefern den Rest.«

Er machte eine Pause.

»Herr Professor«, fuhr er fort, »ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie alles, was ich Ihnen jetzt anvertraue, streng vertraulich behandeln würden.«

Es ist zweifelhaft, ob in diesem Moment irgendetwas den Professor davon hätte abhalten können, sein Wort zu geben. Er nickte ernst.

»Sie können sich auf mich verlassen.«

Simon Groom zog langsam an seiner Zigarre, bevor er weitersprach.

»Es wirft ein seltsames Licht auf den Menschen, auf seine Ideale und sein Streben, dass seine Kenntnisse nie schneller zunehmen, als wenn er für die Zerstörung arbeitet. Wir Engländer merken das unterbewusst und lehnen deshalb alles Neumodische instinktiv ab. Die Franzosen hingegen sind da ganz eindeutig. Sie sagen: ›Das Bessere ist der Feind des Guten.‹ Dafür gibt es unzählige Beispiele. Nehmen Sie etwa das Flugzeug. Es wurde im Kriegsjahr 1915 weiter entwickelt als vorher in zehn Jahren. Die Neuerfindungen der Chemiker im Dienste der Entwicklung von immer noch zerstörerischeren Sprengstoffen und noch giftigeren Gasen haben den Umfang der Chemiebücher verdoppelt. Ja, selbst die Heilkunst hat einen großen Schritt nach vorn getan. Das heißt, von dem Moment an, in dem es nicht mehr nur wünschenswert, sondern notwendig war, die Menschenleben im Hinblick auf ihre Weiterverwendung zu erhalten«, fügte er mit zynischem Lächeln hinzu.

Der Professor runzelte die Stirn.

»Worauf ich hinauswill«, fuhr Groom fort, »ist Folgendes: Der Krieg, der von den Menschen Offensiv- und Defensivwaffen verlangt, ist wie eh und je der Vater vieler Erfindungen. Die Schlachtschiffe von gestern erzeugten die Linienschiffe von heute, und die Eisenbetonbunker der großen Schlachtfelder brachten das wundervolle, neue Gebäude hervor, das nun im Norden Londons gebaut wird. Also, Herr Professor, wo wird die neue immense Kraft der Kernenergie zuerst erforscht und entwickelt?«

»Die Wissenschaft will konstruktiv sein und nicht destruktiv«, antwortete der Professor steif. »Die Wissenschaft wurde in der Vergangenheit auf das schamloseste ausgebeutet. Aber sie weiß sich jetzt zu wehren.«

Simon Groom schüttelte den Kopf.

»Nein, Professor, Sie irren sich. Solange Wissenschaftler Menschen sind, kann sich die Wissenschaft nicht schützen. Der Wunsch nach Vorherrschaft, der tief im Herzen eines jeden Menschen sitzt, verhindert das. Und gerade eben jetzt, während wir hier miteinander reden, geben die Ereignisse Ihnen unrecht. Die erste Atombombe ist fertig.«

Dieser Satz löste beim Professor einen Sturm äußerst widersprüchlicher Gefühle aus, vor allem aber angstvolles Misstrauen. Sass er hier einem Irrsinnigen gegenüber? Das schien die einzig mögliche Erklärung. Aber als er dann dem alten ruhigen Blick seines Gegenübers begegnete, begann er nachzudenken. Das Misstrauen verschwand, aber der Schrecken verstärkte sich. Angenommen, es war wahr? Endlich lachte er.

»Sie scheinen mir einen etwas makabren Humor zu haben, Sir.«

»Ich habe erwartet, dass Sie lachen würden«, bemerkte der andere ruhig. »Aber halten Sie Ihr Urteil noch etwas zurück, Professor, und lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen. Welches Laboratorium käme Ihrer Meinung nach wohl für die Herstellung einer solchen Bombe in Frage? Ich meine natürlich von den technischen Anlagen her und nicht vom moralischen Gesichtspunkt aus.«

Der Professor dachte einen Augenblick nach.

»Nun«, antwortete er dann, »für die Entwicklung, an die ich bei meiner Erklärung letztes Jahr dachte, kommen letztlich nur ein oder zwei Orte in Frage. Es ist schwierig, einer bestimmten Institution den Vorrang zu geben. Meines Wissens gibt es nur fünf Laboratorien, die für solche Versuche ausgerüstet sind, nämlich London, Chicago, Schenectady, Paris und Berlin. Suchen Sie sich’s aus.«

Simon Groom sah verwirrt aus.

»Schade, Professor, und ich hoffte, Sie könnten mir helfen. Dieses Ding wurde an keinem dieser Orte entwickelt. Wissen Sie, wo Zovgorod liegt? Nein? Zovgorod ist die Hauptstadt von Ixanien, und ebendort wurde die Arbeit, von der ich sprach, durchgeführt.«

Der Professor kicherte.

»Mr Groom«, sagte er, »Sie sind ein ausgezeichneter Schauspieler, aber Ihre Phantasie geht mit Ihnen durch. Allein die Herstellungskosten für die notwendigen Apparate wären größer als der gesamte Haushalt von Ixanien.«

Simon Groom schaute einen Moment verärgert drein.

Dann sagte er in ernstem Ton: »Ich mache keine Witze, Professor. Zudem ist dies wohl kaum eine Angelegenheit, über die ich Witze reißen würde. Ihnen mag meine Geschichte melodramatisch und ziemlich absurd erscheinen. Sie ist melodramatisch – die Wirklichkeit ist es oft im Übermaß –, aber absurd ist sie nicht. Das sind die Tatsachen.«

Er schwieg bedeutungsvoll und betrachtete seine Zigarre.

»Ixanien«, fuhr er dann fort, »ist ein Staat mit Ehrgeiz. Vielleicht werden Sie sagen, dass das bei einem so unbedeutenden Flecken unproduktiven Landes Größenwahn ist. Das ist Ansichtssache. Ein Anhänger Rousseaus würde voller Inbrunst ja sagen. Was mich betrifft, so neige ich eher zu Nietzsches Standpunkt. Wie auch immer: Ixanien hat seit Jahren nach oben geschielt, zerfressen vom Neid des Schwachen auf den Starken. Und nun, als wären seine Gebete erhört worden, hat das Land ein Genie hervorgebracht. Seine Bauern nagen am Hungertuch, seine Bourgeoisie ist korrupt, und seine Regierung taugt nichts. Aber durch eine Laune der Biologie oder des Schicksals oder beider ist das Unwahrscheinliche eingetreten.«

Für einen Moment sah Simon Groom nachdenklich aus. Seine Zigarre schien ihn zu faszinieren. Das ungläubige Staunen war aus dem Gesicht des Professors gewichen. Er beugte sich vor.

»Wer ist es?«

Eine Rauchwolke kam aus Grooms Mund.

»Man weiß sehr wenig über ihn«, antwortete er dann. »Seine Vorfahren sind unbekannt, wahrscheinlich zu Recht. Er studierte in Zürich und an der Bonner Universität, niemand weiß, woher er die Mittel hatte. In Bonn war er brillant. Seine Dissertation behandelte ein Problem, an dem sich sogar seine Physikprofessoren die Zähne ausbissen. Er kam mit einer Theorie, für die er dann auch Beweise lieferte, und hatte die Stirn, dafür einen Lehrstuhl für Physik zu verlangen. Von Bonn ging er nach Chicago, wo er zirka sechs Jahre unter Professor Thomson arbeitete. Vor ungefähr drei Jahren verließ er Chicago – es soll irgendeinen Skandal gegeben haben – und kehrte nach Zovgorod zurück. Sein Name ist Kassen.«

Der Professor ließ einen Ausruf des Erstaunens hören.

»Kassen«, wiederholte er aufgeregt, »von dem Mann habe ich auch schon gehört.«

»Das dachte ich mir«, sagte Groom. »Er hat im McTurk-Institut einiges Aufsehen erregt.«

»Aber was hat Kassen denn mit Atombomben zu tun? Ich habe einmal in den Blättern der Gesellschaft für naturwissenschaftliche Forschung einen Aufsatz von ihm gelesen. Es war alles andere als eine aufsehenerregende Arbeit.«

»Das glaube ich gern. Aber wie ich schon sagte, ist Ihr Wissenschaftler ein Mensch wie alle anderen auch. Kassen wurde zweimal gedemütigt, einmal in Bonn, und dann noch einmal in Chicago. Und jetzt hat er, ob zu Recht oder zu Unrecht, eine Wut auf die ganze Welt. So wie ich die nachtragenden Ixanier kenne, überrascht mich das nicht. Wut hin oder her, die Bombe wurde fertig gestellt. Und vor etwas mehr als drei Wochen wurde sie getestet. Ein Vertreter von Cator & Bliss war dabei, inkognito natürlich. Die Versuche fanden in den Bergen statt, etwa hundert Meilen nördlich von Zovgorod. Bukarest, das einige hundert Meilen von der Versuchsstelle entfernt ist, registrierte ein leichtes seismisches Beben. Eine kleine Kassen’sche Bombe, angeblich kaum größer als eine Handgranate, bewegte mehr als tausend Tonnen Felsgestein.«

»Das ist ja entsetzlich«, keuchte der Professor, aber dann gewann die Vernunft wieder die Oberhand und stellte die Wahrheit des eben Gehörten in Frage, »und unmöglich.«

»Schrecklich, ganz gewiss«, pflichtete Groom bei, »aber unmöglich nicht. Wie Sie sicher wissen, verdankt gewöhnlicher Sprengstoff seine Wirkung der plötzlichen und gewaltigen Volumenvergrößerung. Trinitrotoluol zum Beispiel vergrößert, wenn es mit Knallquecksilber gezündet wird, sein Volumen in einem Sekundenbruchteil ungefähr 500000-mal. Soweit ich die Sache verstanden habe, basiert die Kassen’sche Bombe auf dem gleichen Prinzip. Die Bombe beeinflusst bei der Detonation gewöhnliches Silikongestein oder Erde so, dass eine Veränderung der Atomstruktur eintritt, wobei riesige Mengen von trägen Gasen wie Stickstoff, Argon und Helium produziert werden. Mit andern Worten: Die Erde ist der Sprengstoff. Kassens Bombe ist bloß eine Art Zünder.«

Der Professor schwieg. Er schaute durchs Fenster in den Hotelgarten. Narzissen wiegten sich im sanften Wind. Alles war grün und friedlich an diesem Frühlingsnachmittag. Der Professor kam sich vor, als sei er soeben aus einem Albtraum erwacht, und der Schrecken saß ihm noch in den Knochen. Als er sich dazu zwang, Groom wieder in die Augen zu blicken, spürte er, wie er zitterte.

»Warum erzählen Sie mir das?«

Groom beugte sich vor.

»Ungefähr vor zwei Wochen traf ein Vertreter der ixanischen Regierung in England ein und gab bekannt, dass er Maschinen zur Herstellung von Süßigkeiten zu kaufen wünsche. Eine der Firmen, an die er sich wendete, gehört mehrheitlich dem Cator-&-Bliss-Konzern, und da es sich um eine Maschine handelte, die nicht dem Standardtyp entsprach, wurde er an den Hauptsitz verwiesen. Daran ist nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich aber waren die Spezifikationen. Sie stammten von einem Mann, der entweder keine Ahnung von der Herstellung von Zuckerwerk hat oder die Maschinen für etwas anderes braucht. Gewisse Kreise begannen sich für die Sache zu interessieren, und es erging Order, sich diesen Auftrag um jeden Preis zu sichern. Fürs Erste haben wir es somit in der Hand, die Massenherstellung der Bombe unseres Freundes Kassen eine Zeit lang hinauszuschieben.«

Der Professor rutschte auf seinem Stuhl hin und her.

»Mr Groom, ich kann mir nicht helfen, aber mir scheint, dass Sie diese Geheimnisse etwas – nun – unvorsichtig preisgeben. Schließlich bin ich ja für Sie ein völlig Fremder und –«

Groom hob die Hand.

»Professor«, sagte er, »ich habe gelernt, nur zwei Dingen zu vertrauen: dem Schicksal und meiner Intuition. Beide sagen mir, dass dies hier eine günstige Gelegenheit ist, und ich nehme ihren Rat dankbar an. Es ist unumgänglich, dass wir in den Besitz sämtlicher die Herstellung der Kassen’schen Bombe betreffenden Informationen gelangen. Ich bin, wenn ich Ihnen alles das erzähle, nicht so indiskret, wie es Ihnen erscheinen mag. Ich möchte Ihnen nämlich einen Vorschlag unterbreiten. Doch zuvor sollte ich Ihnen vielleicht etwas über meine Stellung erzählen. Ich bin Auslandsvertreter von Cator & Bliss und einer ihrer Direktoren. Was immer ich Ihnen anbiete, kann, wenn nötig, binnen zwei Stunden schriftlich bestätigt werden. Meine Kollegen im Aufsichtsrat vertrauen mir in dieser Beziehung voll und ganz. Sie verstehen doch, was ich sagen will?«

Der Professor nickte langsam.

Groom war jetzt ganz Geschäftsmann.

»Kurz, mein Vorschlag ist folgender: Ich erwarte jeden Moment Nachricht von der Abreise des ixanischen Vertreters nach Zovgorod. Ich werde ihm folgen. Meine Agenten in Ixanien werden ihn beschatten und herausfinden, wer seine Auftraggeber sind. Wie ich die ixanischen Beamten kenne, kommen wir leicht an die Informationen heran, die wir brauchen. Doch gehe ich davon aus, dass man versuchen wird, mir wertlose Informationen anzudrehen. Ich brauche einen technischen Berater. Cator & Bliss verfügt selbstverständlich über einmalige technische Mittel und über die besten Fachleute, aber dies hier ist ein Sonderfall. Es gibt auf der ganzen Welt nur einen einzigen Menschen, der mehr über die Möglichkeiten angewandter Kernenergie weiß als Sie, und der heißt Kassen. Das kann ausgeglichen werden. Professor Barstow, ich bitte Sie, mit mir nach Zovgorod zu fahren. Ich offeriere Ihnen den Posten eines technischen Beraters von Cator & Bliss.«

Der dunkle Grenzbezirk

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