Читать книгу Der dunkle Grenzbezirk - Eric Ambler - Страница 8
3. Kapitel
Оглавление19. und 20. April
Den Hut tief in die Stirn gezogen, die untere Gesichtshälfte in einem Halstuch verborgen, bestieg der Mann, der sich Conway Carruthers nannte, in Le Havre den Zug nach Paris.
Er fand leicht ein Abteil für sich allein, denn der Zug war an diesem Tag halb leer. Tarnung, so sagte er sich, war zum jetzigen Zeitpunkt äußerst wichtig, denn er hätte ja erkannt werden können. Dank der fehlerlosen Organisation von ›Department Y‹ hatte er jedoch einen überzeugenden Decknamen. Professor Barstow, der bedeutende Physiker, würde weiter nicht auffallen, während der Name Conway Carruthers Argwohn und Furcht erregen würde.
Er zog seinen Pass aus der Tasche und überprüfte ihn.
Alles war in Ordnung. Abgesehen vom Namen hätte es sein eigener Pass sein können. Er lächelte grimmig beim Gedanken, dass der ehrenwerte Professor sich auf ein so halsbrecherisches Unterfangen einließ. Das war fast so komisch wie die Vorstellung, dass Groom sich ausgerechnet Conway Carruthers vom Secret Service anvertraut hatte, in der Annahme, einen harmlosen, weltfremden Wissenschaftler vor sich zu haben. Der Waffenhändler ahnte nicht, wie teuer ihn dieser Fehler zu stehen kommen sollte. – Er klingelte nach dem Speisewagenkellner und bestellte einen Aperitif.
Er hatte schon beschlossen, von Grooms Irrtum zu profitieren und das Angebot von Cator & Bliss anzunehmen. Der Plan hatte viele Vorteile. Als Grooms Vertrauter hatte er zum Beispiel Zugang zu den geheimen Informationen, die sich dieser Herr in Zovgorod beschaffen würde. Auf jeden Fall war nichts gewonnen, wenn er schon jetzt seine Karten auf den Tisch legte. Er hatte bis auf eins dasselbe vor wie Groom. Sie wollten beide hinter Kassens Geheimnis kommen und die Herstellung der Bombe in Ixanien verhindern. Was aber passieren würde, wenn diese Ziele erreicht worden waren, stand auf einem anderen Blatt.
Er wünschte jetzt, er hätte in England noch Zeit gehabt, den Namen des ixanischen Vertreters herauszufinden. Er hatte aber schon beschlossen, seinen Freund André Durand von der Pariser Sûreté um Informationen über Groom zu bitten. Und Durand konnte vielleicht auch über den andern etwas herausfinden.
Wenn es um Schlachtpläne ging, so zog Conway Carruthers einfache und direkte den ausgeklügelten und listenreichen vor. Seine Abenteuer hatten ihn gelehrt, dass es gefährlich war, zu meinen, man könne menschliche Reaktionen voraussehen. Zwar geschah das Unerwartete mit nahezu monotoner Regelmäßigkeit, aber das Vorausplanen führte zu einem Spiel mit dem Zufall, der alle Gewinnchancen hatte. Etwas überdrehte Feinde hielten Carruthers für übermenschlich schlau. In Wirklichkeit stolperten sie über ihre eigene Schlauheit.
Er würde erst spät in Paris ankommen und konnte dann nur noch ein Hotel suchen. Am andern Morgen würde er Durand in der Sûreté einen Besuch abstatten und dann mit Informationen bewaffnet auf einen Sprung zu Groom ins Ritz gehen. Bis dann waren Spekulationen nutzlos und gefährlich. Nach diesen Überlegungen stand er auf, leerte sein Glas und begab sich in den Speisewagen.
Er setzte sich in eine Ecke des Waggons, von wo aus er die anderen Gäste übersehen konnte, und bestellte eine Sole meunière mit einem leichten französischen Weißwein. Dann lehnte er sich bequem zurück und betrachtete die Mitreisenden.
Der Zug fuhr jetzt schnell. Die schweren Fenstervorhänge bewegten sich im gedämpften Bernsteinlicht der Tische. Das Klappern der Bestecke und das Gläserklirren waren Hintergrundmusik zum rhythmischen Rollen der Räder. Warmer Zigarrenrauch hing in der Luft. Unwirklichkeit hing über der Szene. Man glaubte sich im Theater. 1. Akt. Wenn der Vorhang aufgeht, ist die Bühne leer. Im Kamin glüht ein Feuer. Eine einzelne Lampe wirft ein schwaches Licht auf die Bühne. Die Ecken des Zimmers liegen im Dunkeln. Für einen Moment herrscht Schweigen; dann hört man die Stimmen von Leuten, die näher kommen. Nur war diese Bühne nicht leer, sondern gleich reihenweise voller Leute, aber das weit entfernte Gemurmel und die zuckenden Bewegungen waren dieselben.
Auf der andern Seite des Ganges, Carruthers gegenüber, versuchte ein dicker Mann erfolglos, gegen das Schwanken des Zuges anzukommen und Suppe in seinen Mund zu löffeln. Neben ihm saß ein verschrumpelter kleiner Kerl, der aussah wie ein vereidigter Betriebsprüfer, und aß Austern, während er in der Times las. Ein Mann und eine Frau redeten, die Köpfe über den Tisch gebeugt, in einer Sprache miteinander, die sich wie Russisch anhörte. Eine ältliche Engländerin trank Tee. Lauter grundverschiedene Leute, aber sie hatten eines gemeinsam: Sie aßen und tranken. Das beraubte sie ihrer Individualität. Im gedämpften Bernsteinlicht, beim Klappern der Teller und Bestecke, beim Klirren der Gläser sahen sie aus wie eine Gruppe von Tölpeln. Die kauenden Kinnbacken des hutzeligen Mannes, sein Ernst und seine Hingabe beim Essen, eine große Brotkrume auf der Oberlippe, gaben ihm das Aussehen eines zurückgebliebenen Kindes. Aber wenn man diese Leute aus ihrer Umgebung herausnähme, gäbe es wahrscheinlich über jeden eine andere Geschichte zu erzählen. Der Dicke war vielleicht ein Mörder auf der Flucht, der Verschrumpelte ein internationaler Juwelendieb, und der Mann und die Frau, die Russisch sprachen, waren vielleicht … In diesem Moment blickte die Frau auf, und Carruthers sah zum ersten Mal ihr Gesicht.
Conway Carruthers vom ›Department Y‹ gilt allgemein als eisenharter Mann, kühl, sachlich und über die Gefühle gewöhnlicher Sterblicher erhaben. Aber dieser Conway Carruthers, der aus dem Heideland von Cornwall ins Leben getreten war und nur die Hülle einer Persönlichkeit und einen umgestürzten Wagen zurückgelassen hatte, empfand ein seltsames Gefühl, ein Verlangen, diese Frau um jeden Preis kennenzulernen.
Sie hatte ein Gesicht, wie man es in den Gemälden der Umbrischen Schule findet. Ein blasses zartes Oval, die Backenknochen weich modelliert, die Augen dunkel und glänzend, das schwarze Haar aus der hohen weißen Stirne glatt zurückgekämmt. Doch was dem Gesicht Charakter verlieh, war der entschlossene Zug um den Mund. Die zartgeschwungenen vollen Lippen verstärkten noch die Schönheit des Gesichts.
Sie war elegant und teuer gekleidet, und das dunkelbraune Reisekostüm bildete einen raffinierten Kontrast zu ihrer Blässe. Sie hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt, ihre kleinen feinen Hände gefaltet und bot ein Bild völliger Sicherheit und Selbstbeherrschung, während sie gelangweilt ihre Augen über die Mitreisenden schweifen ließ.
Ein Blick aus diesen Augen traf Carruthers, der die Unbekannte gebannt betrachtet hatte. Dann wandte sie ihre Augen wieder ab und sprach weiter mit ihrem Tischgenossen. Kurz darauf verließen die beiden, ohne einen Blick in Carruthers Richtung, den Speisewagen. Als er in sein Abteil zurückging, spürte er ein seltsames Prickeln. Irgendwo, irgendwie würden sich ihre Wege wieder kreuzen, dessen war er sicher.
Als der Zug eine Stunde später in die Gare du Nord einlief, schlief er fest.
Am andern Morgen verließ er früh das Hotel und begab sich in die Sûreté.3
Es war ein klarer, sonniger Frühlingsmorgen, und als Carruthers den Quai d’Orsay hinunterschlenderte, wünschte er, dass seine Geschäfte nicht ganz so dringlich wären, sodass er noch ein wenig in Paris hätte bleiben können, um die Stadt zu genießen. Viel zu früh stand er vor dem schönen Gebäude, das Frankreichs Scotland Yard beherbergt.
Er ging hinein und fragte den diensthabenden agent de police neben der Tür in munterem Ton nach Monsieur Durand.
»Monsieur Durand?«, fragte der Polizist. »Wir haben hier vier Herren dieses Namens. Welchen möchten Sie denn sprechen?«
Carruthers war verblüfft. Vier Durands? Das war ihm völlig neu. Er hatte doch immer nach seinem Freund Durand gefragt, und Durand war erschienen. Über das ganze Gesicht strahlend, hatte er seine Arme ausgebreitet, »mein lieber Carruthers« gesagt und ihn auf beide Wangen geküsst. Was war geschehen?
Er versuchte es nochmals. Er erklärte dem immer misstrauischer werdenden Polizisten, dass er seinen Freund, den großen Durand, wiedersehen wolle, den Durand der tausend tollkühnen Abenteuer, den Durand, den Frankreich mit der Rosette der Ehrenlegion ausgezeichnet hatte, den berühmten Chef de la Sûreté.
Der Polizist verzog das Gesicht zu einem Lächeln. Da hatte er es wieder einmal mit einem Spinner zu tun. Mit dem würde er sich einen Scherz erlauben.
Mit steifer Amtsmiene fragte er: »Wen darf ich melden, bitte?«
Carruthers nannte seinen Namen.
Der Polizist hob den Hörer des Telefons ab.
»Chef de la Sûreté«, verlangte er in affektiertem Ton. Dann: »Monsieur Conway Carruthers möchte Sie sprechen, Monsieur Durand.«
Carruthers wartete zuversichtlich.
Der agent legte den Hörer auf und drehte sich mit grenzenlosem Erstaunen zu ihm um.
»Monsieur Durand bedauert, Sie nicht empfangen zu können«, sagte er dann und schüttelte mitfühlend den Kopf.
»Aber –«, begann Carruthers.
»Monsieur kann Sie nicht empfangen«, wiederholte der agent scharf. Es war ein guter Witz gewesen, aber jetzt reichte es.
Carruthers protestierte. Das war absurd. Sein guter Freund Durand hatte ihn doch jedes Mal empfangen. Er hatte sicher den Namen nicht richtig verstanden. Es war ganz einfach unvorstellbar, dass er Conway Carruthers nicht sehen wollte. Conway Carruthers, der ihn so oft aus hoffnungslosen Situationen gerettet hatte, Carruthers, der ihm so manchen guten Fang ermöglicht hatte. Es war undenkbar.
Der Polizist wurde ärgerlich. Wenn Monsieur nicht unverzüglich gehe, würde Monsieur gegangen, und das würde er höchstpersönlich vornehmen.
Carruthers drehte sich um und ging.
Es war also wahr. Durand, sein guter Freund Durand, dem er so oft geholfen hatte, weigerte sich, ihn zu empfangen.
Als er den Weg, den er gekommen war, zurückging, zitterten ihm die Knie ein wenig. Sein Herz wurde von Bitterkeit erfüllt. Durand hatte ihn verraten. Doch dann nahm er sich zusammen, seine Lippen wurden schmal, und in seine Augen trat der stahlharte Blick. Nun gut, dann würde er es eben ohne Durands Hilfe machen. Er war immer ein Einzelgänger gewesen, er würde auch jetzt wieder auf eigene Faust handeln.
Als Erstes kaufte er in einem Waffengeschäft am Boulevard St-Michel eine Selbstladepistole und Munition. Es war eine kleine Browning, eine tödliche kleine Waffe, und Carruthers verbrachte zehn Minuten im Übungsraum des Ladens, bevor er zu Groom ins Ritz ging. Er beabsichtigte nicht, die Browning zu gebrauchen, aber es tat gut, sie bei sich zu haben. Er nahm ein Taxi.
Der Frühlingsmorgen erfreute ihn jetzt gar nicht mehr. Er lehnte sich im Wagen zurück und bereitete sich auf das Treffen mit Groom vor. Groom durfte auf keinen Fall merken, dass er nicht ein harmloser, weltfremder Wissenschaftler war. Würde er die Rolle durchhalten können? Carruthers war felsenfest davon überzeugt. Hatte er nicht ebenso gute Kenntnisse in Atomphysik wie dieser Professor, dieser Barstow? Carruthers war auch davon überzeugt. Er brauchte ja Kassens Arbeit nur zu überfliegen, und schon würde er Kassens Geheimnis kennen. Unterdessen musste er aber Grooms Vertrauen gewinnen. Das müsste zu schaffen sein. Was geschehen würde, wenn Groom den Wolf im Schafspelz witterte, was ja früher oder später unvermeidlich war, spielte jetzt noch keine Rolle.
Siegessicher stieg er aus und trat durch das Rokokoportal des Ritz.
Der Empfangschef war äußerst zuvorkommend.
Monsieur Groom? Aber gewiss. Wenn Monsieur die Liebenswürdigkeit haben würde, sich einen Moment zu gedulden. Er sprach schnell ein paar Worte ins Telefon, drehte sich dann um, tiefstes Bedauern in allen seinen Gesichtszügen.
»Monsieur haben leider kein Glück«, sagte er dann. »Monsieur Groom ist vor zehn Minuten abgereist.«
Zuerst wollte Carruthers dem Empfangschef nicht glauben. Das war eine List, um ihn von der Fährte abzubringen. Doch dann fiel ihm ein, dass er Barstow war und nicht Carruthers, und er tat seinen Verdacht als absurd beiseite. Der Hotelangestellte hatte nicht den geringsten Anlass, ihn hinters Licht zu führen.
Er stellte ihm einige Fragen.
Der Empfangschef gab sich alle Mühe, sie zu beantworten. Der Gepäckträger wurde herbeigerufen. Ja, er erinnere sich an Monsieur Groom. Monsieur Groom hatte ihm ein sehr großzügiges Trinkgeld gegeben. Er war erst vor zehn Minuten zur Gare de L’Est gefahren.
Carruthers fragte sofort nach einem Fahrplan, bekam einen gereicht und fand auf den ersten Blick, was er suchte. Groom war zweifelsohne zum Bahnhof gefahren, um den Zug nach Bukarest zu nehmen, von wo er dann nach Zovgorod weiterreisen würde.
»Kann man hier im Hotel Fahrkarten bekommen?«, fragte Carruthers.
»Nein, aber hier gleich um die Ecke ist ein Waggon-Lits-Büro. Wenn Monsieur wünschen …«
Carruthers drückte dem Mann ein Zehnfrancstück in die Hand und eilte zum Reisebüro.
Er hatte Glück. Der Angestellte erinnerte sich nach Carruthers Beschreibung sofort an Groom. Dieser hatte heute Morgen eine Fahrkarte nach Zovgorod gekauft und im rumänischen Kurswagen nach Bukarest ein Abteil für sich allein gebucht. Der Zug fahre in einer Viertelstunde. Wenn Monsieur sich beeilte, erwischte er ihn vielleicht noch.
Carruthers platzte fast vor Ungeduld, während die komplizierte Fahrkarte ausgestellt wurde. Dann sprang er in ein wartendes Taxi. Angespornt von einem 50-Franc-Schein und der Aussicht auf einen weiteren, falls sein Fahrgast den Zug noch erreichte, hetzte der Fahrer seinen Renault wie einen Rennwagen um die Kurven.
Eine Minute vor Abfahrt des Zuges waren sie am Bahnhof. Carruthers warf dem Fahrer die versprochenen 50 Franc in den Schoß, sprang aus dem Wagen und rannte in den Bahnhof. Auf der Anzeigetafel sah er, dass der Zug auf Gleis 1 stand.
Die Lokomotive pfiff, als Carruthers den Bahnsteig entlangspurtete. Mit einem Riesensatz sprang er auf den letzten Wagen des fahrenden Zuges und ging dann durch den Korridor zum rumänischen Kurswagen. Das erste Abteil schien leer zu sein. Er hatte die Schiebetür zurückgeschoben und war eingetreten, als er ein großes Schild sah, auf dem Réservé stand.
Plötzlich fiel eine Hand auf seine Schulter.
Rasch drehte er sich um.
»Sie haben Ihre Ansicht also doch geändert, Professor«, sagte Simon Groom.