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Figurafigura (1938) I. Von TerenzTerenz bis QuintilianQuintilian

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Figura, vom gleichen Stamme wie fingerefingere, figulusfigulus, fictorfictor und effigies, heißt nach seiner Herkunft «plastisches Gebilde» und findet sich zuerst bei TerenzTerenz, der Eun. 317 von einem Mädchen sagt: nova figura oris. Etwa aus gleicher Zeit dürfte das PacuviusPacuviusfragment 270/1 (RibbeckRibbeck. O., Scaen. Roman. Poesis Fragm. I, S. 110) stammen:

Barbaricam pestem subinis nostris optulit

Nova figura factam ….1

Es ist wahrscheinlich, daß PlautusPlautus das Wort nicht gekannt hat; er verwendet zweimal ficturafictura (Trin. 365, Mil. 1189), freilich beide Male in einem Sinne, der eher die Tätigkeit des BildensSensuslehre als ihr Ergebnis ausdrückt; fictura wird später sehr selten.2 Mit der Erwähnung des Wortes fictura werden wir sogleich auf eine Eigentümlichkeit von figurafigura hingewiesen: es ist (Ernout-MeilletMeillet, A.Ernout, A., Dict. étym. de la langue latine, p. 346) unmittelbar vom Stamm abgeleitet, nicht, wie naturanatura und andere gleicher Endung, vom Supinum. Man hat dies aus einer Angleichung an effigieseffigies (StolzStolz, F.-SchmalzSchmalz, J. H., Lat. Gramm., 5. Aufl. S. 219) erklären wollen: jedenfalls drückt sich in dieser besonderen Bildung des Wortes etwas Lebend-Bewegtes, Unvollendetes und Spielendes aus, und jedenfalls liegt in ihr eine hohe Eleganz der lautlichen Erscheinung, die viele Dichter bezaubert hat. Daß die beiden ältesten Belege uns nova figura bieten, kann ein Zufall sein; bedeutsam, auch wenn es ein Zufall ist, da das neu Erscheinende, sich Wandelnde am Beständigen der ganzen Geschichte des Wortes das Gepräge gibt.

Diese Geschichte beginnt für uns mit der Graezisierung der römischen Bildung im letzten vorchristlichen Jahrhundert, und an ihren Anfängen haben drei Schriftsteller entscheidenden Anteil: VarroVarro, LucrezLukrez und CiceroCicero. Freilich können wir nicht mehr genau bestimmen, was sie aus dem verlorenen früheren Bestande übernommen haben; allein der Beitrag von LucrezLukrez und von CiceroCicero ist so eigentümlich und jeweils so selbständig, daß man ihnen ein hohes Maß von eigener Bedeutungsschöpfung zutrauen muß.

VarroVarro besitzt solche Selbständigkeit am wenigsten. Daß bei ihm figurafigura zuweilen «äußere Erscheinung», ja «Umriß» heißt,3 also sich von seinem Ursprung, dem engeren Begriff des plastischen Gebildes, loszulösen beginnt, scheint ein allgemeiner Vorgang gewesen zu sein, auf dessen Ursachen wir noch zurückkommen. Bei Varro ist diese Entwicklung nicht einmal sehr ausgeprägt. Er ist Etymologe, der Ursprung des Wortes ist ihm bewußt (fictor cum dicit fingo figuram imponit, de ling. lat. 6, 78), und so enthält das Wort, wo er es von Lebewesen und Gegenständen gebraucht, zumeist eine plastische Vorstellung. Wie weit sie noch wirksam war, ist zuweilen schwer zu entscheiden; so etwa, wenn er sagt, daß man beim Kauf von Sklaven nicht nur die figura berücksichtige, sondern auch die Eigenschaften, wie bei Pferden das Alter, bei Hähnen den Zuchtwert, bei Äpfeln das Aroma (ib. 9,93); oder wenn er von einem Stern sagt, er habe colorem, magnitudinem, figuram, cursum verändert (Zitat bei AugustinAugustinus, de civ. Dei 21, 8); oder wenn er de ling. lat. 5, 17 gegabelte Palisadenpfähle mit der figura des Buchstabens V vergleicht. Ganz unplastisch wird es, sobald von Wortformen die Rede ist. Wir haben, so etwa sagt er de ling. lat. 9, 21, von den Griechen neue Formen der Gefäße übernommen; warum wehre man sich gegen neue Wortformen, formae vocabulorum, als seien sie giftig? Et tantum inter duos sensus interesse volunt, ut oculis semper aliquas figuras supellectilis novas conquirant, contra auris expertes velint esse? Hier liegt der Gedanke, daß es auch für den GehörssinnSensuslehre Figuren gebe, schon sehr nahe; zudem muß man wissen, daß Varro, wie übrigens alle lateinischen Autoren, die nicht als philosophische Spezialisten eine genaue Terminologie besitzen, figurafigura und formaforma im allgemeinen Gestaltsinn unbedenklich durcheinander verwenden. Eigentlich heißt forma «Gußform», französisch moule, und steht also zu figura in dem Verhältnis der Hohlform zu dem aus ihm hervorgehenden plastischen Gebilde; doch ist bei Varro nur selten etwas davon zu spüren, allenfalls vielleicht in dem Fragment bei GelliusGellius 111, 10, 7: semen genitale fit ad capiendam figuram idoneum.

Die eigentliche Neuerung und Verwischung des ursprünglichen SinnesSensuslehre, die man zuerst bei VarroVarro trifft, liegt auf dem grammatischen Gebiet; wir deuteten es schon oben an. Bei Varro zuerst finden wir figurafigura als grammatische Bildung, Ableitung, Flexionsform. Figura multitudinis heißt bei ihm die Form des Plurals, alia nomina quinque habent figuras (9, 52) bedeutet: andere Substantiva haben 5 Deklinationsformen. Dieser Gebrauch hat eine bedeutende Wirksamkeit gehabt (vgl. ThLL, figura III A 2 a col. 730 und 2 e col. 734); formaforma ist ebenfalls im gleichen SinneSensuslehre viel verwendet worden, schon seit Varro, es scheint aber figura bei den lateinischen Grammatikern häufiger und beliebter gewesen zu sein. Wie war es möglich, daß beide Worte, zumal figura, das in seiner Wortform noch deutlich an seinen Ursprung erinnerte, so schnell zu rein abstrakter Bedeutung gelangen konnten? Dies geschah durch die Graezisierung der römischen Bildung. Das Griechische, dessen wissenschaftlich-rhetorischer Sprachschatz unvergleichlich reicher war, besaß eine große Anzahl Worte für den Gestaltbegriff: μορφήμορφή, εἶδοςεἶδος, σχῆμασχῆμα, τύποςτύπος, πλάσιςπλάσις, um nur die wichtigsten zu nennen; die philosophische und rhetorische Ausbildung des platonischPlaton-aristotelischen Sprachgebrauchs hatte jedem dieser Worte seinen Bezirk angewiesen und inbesondere zwischen μορφή und εἶδος einerseits, σχῆμα andererseits die Grenze klar bestimmt: μορφή und εἶδος ist die Form oder Idee, die die Materie informiert, σχῆμα die rein sinnliche Gestalt dieser Form; die klassische Belegstelle hierfür ist AristotelesAristoteles’ Metaphysik ζ, 3 p. 1029, wo im Rahmen der Darstellung der οὐσíα die μορφήμορφή als σχῆμα τῆς ἰδέας bezeichnet wird; und so findet sich bei ihm auch σχῆμα rein sinnlich als eine der Qualitätskategorien und die Zusammenstellung von σχῆμα mit μέγεϑοςμέγεϑος, ϰίνησιςϰίνησις und χρῶμαχρῶμα, die wir schon bei VarroVarro antrafen. Es ergab sich von selbst, daß im Lateinischen für μορφή und εἶδοςεἶδος formaforma eintrat, das ja von Haus aus die Modellvorstellung enthielt; gelegentlich findet sich auch exemplarexemplar; für σχῆμασχῆμα hingegen setzte man zumeist figurafigura. Da nun σχῆμασχῆμα als «äußere Gestalt» sich in der griechischen wissenschaftlichen Terminologie weit ausgedehnt hatte – grammatisch, rhetorisch, logisch, mathematisch, astronomisch –, so trat hier im Lateinischen überall figura ein; und so erschien neben und vor der ursprünglichen Bedeutung des Plastischen ein weit allgemeinerer Begriff der sinnlichen Erscheinung und der grammatischen, rhetorischen, logischen, mathematischen Form, ja später auch der musikalischen und choreographischen. Freilich ist die ursprüngliche Bedeutung des Plastischen nicht ganz verlorengegangen, denn auch τύπος «Gepräge» und πλάσιςπλάσις, πλάσμα «plastisches Gebilde» wurden, wie es sich aus dem Stamm fig ergab, oft durch figura wiedergegeben. Aus der Bedeutung τύποςτύπος entwickelte sich figura als «Abdruck des Siegels», was als Metapher eine ehrwürdige Geschichte hat, von AristotelesAristoteles de mem. et rem. p.450 a 31 ἡ κίνησις ἐνσημαίνεται οἷον τύπον τινὰ τοῦ αἱσϑήματος über AugustinAugustinus epist. 162, 4 und IsidorusIsidor v. Sevilla diff: 1, 528 bis zu DanteDante come figura in cera si suggella, Purg. 10, 45 oder Par. 27, 62.4 Über das Plastische hinaus ist τύπος wegen seiner Neigung zum Allgemeinen, Gesetzlichen und Exemplarischen (vgl. die Zusammenstellung mit νομικῶς, Arist. Pol. β 7 p. 1341 b 31) für figurafigura bedeutend geworden, und dies hat wiederum dazu beigetragen, die ohnehin subtile Grenze gegen formaforma zu verwischen. Die Verbindung mit Worten wie πλάσιςπλάσις verstärkte die wahrscheinlich schon von Anfang an bestehende, aber nur langsam sich vorarbeitende Expansionsneigung von figurafigura in der Richtung «Statue», «Bild», «Porträt»; es greift über in das Gebiet von statuastatua, ja von imagoimago, effigieseffigies, speciesspecies, simulacrumsimulacrum. Wenn man also im großen sagen kann, daß figura im lateinischen Sprachgebrauch für σχῆμασχῆμα eintritt, so ist doch damit die Kraft des Wortes, potestas verbi, nicht erschöpft: figura ist weiter, nicht nur zuweilen plastischer, sondern auch beweglicher, stärker ausstrahlend als σχῆμα. Freilich ist auch dieses noch dynamischer als unser Fremdwort «Schema»; heißen doch bei Aristoteles die mimischen Gesten der Menschen, insbesondere der Schauspieler σχῆματα; die Bedeutung der bewegten Form ist σχῆμα keineswegs fremd; aber figura hat dieses Element der Bewegung und Verwandlung sehr viel weiter entwickelt.5

LucrezLukrez verwendet figurafigura im griechisch-philosophischen Sinne auf eine höchst eigentümliche, freie und bedeutende Art. Der Ausgangspunkt ist der allgemeine Begriff «Gestalt», und zwar findet er sich in allen Abstufungen vom energisch Plastischen (manibus tractata figura, 4, 230) bis zum rein geometrischen Umriß (2, 778; 4, 503); er überträgt den Begriff auch vom Plastischen und Optischen auf das Akustische, wenn er 4, 556 von der figura verborumfigurafigurae verborum, figurae senentiarum spricht.6 Der wichtige Übergang von der Gestalt zu ihrer Nachahmung, vom Urbild zum Abbild, läßt sich am besten an der Stelle fassen, die von der Ähnlichkeit der Kinder mit ihren Eltern, von der Mischung der Samen und von der Vererbung handelt; von den Kindern, die utriusque figurae, des Vaters und der Mutter sind, die oft proavorum figuras wiedergeben, und so fort: inde Venus varias producit sorte figuras (4, 1223). Hier zeigt sich, wie das Spiel zwischen Urbild und Abbild gerade nur mit figura gut durchzuführen war; formaforma und imagoimago liegen jeweils allzu fest im einen oder im anderen Sinne; figurafigura ist sinnlicher und beweglicher als forma und bewahrt das Selbst des Ursprünglichen reiner als imago. Freilich ist hier, wie auch späterhin, wenn von Dichtern die Rede ist, überall zu berücksichtigen, welch vorzüglichen dreisilbigen Hexameterschluß figura in allen Flexionsformen bietet.7 Eine besondere Abwandlung der Bedeutung «Abbild» findet sich in LucrezLukrez’ Lehre von den Gebilden, die sich wie Häutchen (membranae) von den Dingen abschälen und in der Luft umherstreifen, jener demokritischenDemokrit Lehre von den «Bildfilmen» (DielsDiels, H.), den materialistisch verstandenen Eidola, die er simulacrasimulacrum, imagines, effigiaseffigies und bisweilen auch figuras nennt; und so findet sich auch bei ihm zuerst figurafigura in der Bedeutung von «Traumbild», «Phantasiegestalt», «Schatten des Toten».

Das sind schon sehr lebendige Varianten, und sie hatten bedeutende Zukunft; Urbild, Abbild, Scheinbild, Traumbild sind Bedeutungen, die immer mit figurafigura verknüpft bleiben. Die geistreichste Verwendung des Wortes findet LucrezLukrez aber noch auf einem anderen Wege. Man weiß, daß er die demokritisch-epikurEpikureische Kosmogonie vertritt, die die Welt aus Atomen baut. Die Atome nennt er primordiaprimordia, principiaprincipia, corpusculacorpuscula, elementaelementa, seminasemina, ganz allgemein auch corpora, quorum

concursus motus ordo positura figura8 (1, 685 und 2, 1021)

die Dinge hervorbringt. Nun sind die Atome zwar sehr klein, aber doch stofflich und geformt; sie haben unendlich verschiedene Gestalten; und so kommt es, daß er sie selbst sehr oft Gestalten, figurae, nennt; und daß man umgekehrt häufig, wie DielsDiels, H. es auch gelegentlich getan hat, figurae mit «Atome» übersetzen kann.9 Die zahllosen Atome sind in unablässiger Bewegung, sie schweifen im Leeren, vereinen sich und stoßen einander ab: es ist ein Reigen von Figuren. Diese Verwendung des Wortes scheint nicht über LucrezLukrez hinausgedrungen zu sein; der Thesaurus führt noch eine einzige Stelle an, bei ClaudianClaudian in Rufin. 1, 17, also aus dem Ende des 4. Jahrhunderts. So ist, auf diesem kleinen Gebiet, seine originellste Schöpfung wirkungslos geblieben; ohne jeden Zweifel aber hat von allen Autoren, die ich aus Anlaß von figurafigura durchgearbeitet habe, LucrezLukrez zwar nicht den geschichtlich wichtigsten, aber den persönlich genialsten Beitrag geliefert.

In CicerosCicero häufiger und überaus geschmeidiger Verwendung des Wortes sind alle Abwandlungen des Gestaltbegriffs vertreten, die die politische, die publizistisch-rhetorische, die juristische und die philosophische Tätigkeit ihm nahebrachten; auch seine liebenswürdige, erregbare und unscharfe Menschlichkeit läßt sich aus ihr ablesen. Oft braucht er es vom Menschen, manchmal mit pathetischem Ton: portentum atque monstrum certissimum est, esse aliquem humana specie et figura, qui tantum immanitate bestias vicerit, ut …, heißt es pro S. Roscio 63, und tacita corporis figura ist pro Q. Roscio 20 die stumme Gestalt, deren Aussehen schon den Schurken verrät. Auch die Glieder und die inneren Organe, die Tiere, Geräte, Sterne, kurz alles Sinnliche hat figura, auch die Götter und das Universum im ganzen; das sinnlich Erscheinende, ja Scheinende des griechischen σχῆμασχῆμα kommt gut heraus, wenn er vom Tyrannen sagt, er habe nur die figura hominis, und von unsinnlichen Gottesvorstellungen, sie seien ohne figura und sensussensus. Selten sind klare Abgrenzungen gegen formaforma (z. B. de nat. Deor. 1, 90, vgl. oben Anm. 7), und der Gebrauch von beiden ist nicht auf das Optische und Plastische beschränkt; er spricht von der figura vocis, ja von einer figura negotii und sehr oft von den figurae dicendi. Natürlich besitzen auch die geometrischen und stereometrischen Gebilde eine figurafigura. Dagegen ist figura als Abbild bei ihm noch kaum entwickelt. Zwar ist de nat. Deor. 1, 71 davon die Rede, daß Cotta, einer der Unterredner, den Ausdruck quasi corpus der Götter eher verstehen könnte, si in cereis fingeretur auf fictilibus figuris, und de Div. 1, 23 handelt es sich um die figura eines Felsstücks, die einem kleinen Pan nicht unähnlich sein soll. Aber das genügt nicht, denn es ist eben die figura des Tones und des Steines, nicht die des Dargestellten, von der gesprochen wird.10 Die sich vom Körper ablösenden Schemen DemokritsDemokrit, von denen bei LucrezLukrez die Rede war, nennt er imagines (a corporibus enim solidis et a certis figuris vult fluere imagines Democritus. De Div. 2, 137),11 und die Götterbilder heißen bei ihm zumeist signa, nie figurae. Man kann als Beispiel dafür den bösen Witz gegen Verres 3, 89 anführen: Verres wollte in einer sizilischen Stadt ein kostbares Götterstandbild rauben, verliebte sich aber in die Frau seines Wirtes: contemnere etiam signum illud Himerae jam videbatur quod eum multo magis figura et lineamenta hospitae delectabant.12 Von so kühnen Neuerungen wie den lucrezischen Grundelementen ist vollends nichts zu finden, und so zeigt sich, daß CicerosCicero Beitrag vor allem in der Einführung, Anpassung und Nutzbarmachung des sinnlichen Gestaltbegriffs figurafigura für die Sprache der Gebildeten bestanden hat. Er hat es hauptsächlich in den philosophischen und rhetorischen Schriften verwendet, am häufigsten in der Schrift über das Wesen der Götter, und er hat sich dabei um etwas bemüht, was wir heute einen ganzheitlichen Gestaltbegriff nennen würden. Es ist nicht nur sein bekanntes Streben nach rednerischer Fülle, wenn er sich selten mit figura allein begnügt, sondern mehrere ähnliche, auf den Ausdruck eines Ganzen gerichtete Worte häuft: forma et figura, conformatio quaedam et figura totius oris et corporis, habitus et figura, humana species et figura, vis et figura, und vieles in dieser Art. Sein Streben nach einer Gesamtauffassung der Erscheinungen ist unverkennbar, und es mag sich davon auch etwas dem römischen Leser mitgeteilt haben. Zu einer energischen Begründung und Formulierung solchen Gestaltbegriffs befähigten ihn freilich weder sein Talent noch seine eklektische Haltung, und so bleibt sein Bemühen unscharf; man muß sich mit dem Vergnügen an der Fülle und der Ausgewogenheit der Worte begnügen. Noch wichtiger für die weitere Entwicklung von figurafigura ist etwas anderes: bei CiceroCicero und bei dem Auctor ad HerenniumAuctor ad Herennium findet es sich zum ersten Male als technischer Ausdruck der RhetorikRhetorik, und zwar für die σχῆματα oder χαραϰτῆρες λέξεως, die drei Höhenlagen des Stils, die ad Her. 4, 8, 11 als figura gravis, mediocrisfigurafigura gravis, mediocris, tenuis und attenuata, de or. 3, 199 und 212 als plena, mediocris und tenuis bezeichnet werden. Dagegen benutzt CiceroCicero (wie VetterVetter, E., der Verfasser des Artikels figura im ThLL, dort 731, 80f. ausdrücklich bemerkt) das Wort noch nicht als Fachausdruck für die umschreibenden und schmückenden, die eigentlich «figürlichen» Redeweisen. Diese kennt und beschreibt er ausführlich, aber er nennt sie noch nicht, wie die Späteren, figurae, sondern zumeist formae et lumina orationis, also auch hier pleonastisch. Übrigens braucht er den Ausdruck figura dicendi – meist forma et figura dicendi – auch häufig ohne genaue fachliche Festlegung, einfach als Art und Weise der Beredsamkeit; sowohl allgemein, wenn er ausdrücken will, es gebe unzählige Arten derselben (de or. 3, 34), als auch individuell, wo er von Curio sagt: suam quandam expressit formam figuramque dicendi (ib. 2, 98): so daß die Studenten in den Rhetorenschulen, für die Ciceros Schriften über die Beredsamkeit bald als Kanon galten, sich an diese Zusammenstellung gewöhnten.

Somit war figurafigura am Ende der republikanischen Zeit zum festen Besitz der gebildeten und philosophischen Sprache geworden, und das erste Jahrhundert des Kaiserreichs hat die Bedeutungs- und Verwendungsmöglichkeiten des Wortes noch weiter ausgeschöpft. An dem Spiel zwischen Urbild und Abbild, dem Gestaltwandel, dem täuschend nachahmenden Traumbild sind, wie sich denken läßt, besonders die Dichter beteiligt. Schon CatullCatull hat de Aty. 62 die charakteristische Stelle: quod enim genus figurae est ego quod non obierim? ProperzProperz sagt13 3, 24, 5 mixtam te varia laudavi semper figura oder 4, 2, 21 opportuna meast cunctis natura figuris; in dem schönen Schluß des Panegyricus ad Messalam findet sich, wo von der gestaltwandelnden Kraft des Todes gesprochen wird, mutata figura; und VergilVergil beschreibt Aeneis 10, 641 das Trugbild, das dem Turnus die Gestalt des Aeneas vorspiegelt, morte obita qualis fama est volitare figuras. Aber die ergiebigste Quelle für figurafigura im Gestaltwandel ist natürlich OvidOvid. Zwar braucht er unbedenklich, wenn der Vers ein zweisilbiges Wort verlangt, auch forma; aber meist ist es doch figura, und ein bewunderungswürdiger Reichtum an Kombinationen steht ihm dabei zur Verfügung: er sagt figuram mutare, variare, vertere, retinere, inducere, sumere, deponere, perderefigurafiguram mutare, variare, vertere, retinere, inducere, sumere, deponere, perdere; und die folgende kleine Sammlung mag von seiner Mannigfaltigkeit eine Vorstellung geben:

… tellus … partimque figuras/rettulit antiquas (Met. 1, 436);

… se mentitis superos celasse figuris (ib. 5, 326);

sunt quibus in plures ius est transire figuras (ib. 8, 730);

… artificem simulatoremque figurae/Morphea (ib. 11, 634);

ex alias alias reparat natura figuras (ib. 15, 253);

animam … in varias doceo migrare figuras (ib. 15, 172);

lympha figuras/datque capitque novas (ib. 15, 308).

Auch das Bild vom Siegel ist aufs schönste vertreten:

Utque novis facilis signatur cera figuris

Nec manet ut fuerat nec formas servat easdem,

Sed tamen ipsa eadem est … (ib. 15, 169ss).

Ferner findet sich schon recht deutlich bei ihm figurafigura als «Abbild», etwa fast. 9, 278 globusimmensi parva figura poli, oder Her. 14, 97 und Pont. 2, 8, 64; als «Buchstabe», wie schon übrigens bei VarroVarro, ducere consuescat multas manus una figuras (ars, 3,493); schließlich als Stellung im Liebesspiel: Venerem iungunt per mille figuras. Ars, 2, 679. Überall erscheint bei ihm figura bewegt, wandelbar, vielfältig und zu Täuschung geneigt. Sehr kunstvoll verwendet das Wort auch der Dichter der Astronomica, ManiliusManilius, bei dem figura, außer in den schon erwähnten Bedeutungen, als «Sternbild» und als «Konstellation» (neben signumsignum und forma) erscheint. Als «Traumbild» trifft man es bei LucanLukan und bei StatiusStatius.

Sehr verschieden hiervon, und auch von dem, was uns die RhetorikerRhetorik zeigen werden, ist das Bild bei dem Architekten VitruvVitruv. Bei ihm ist figurafigura die architektonische und die plastische Gestalt, allenfalls die Nachbildung davon oder der Grundriß; von Täuschung und Verwandlung ist bei ihm nichts zu spüren, und figurata similitudine, 7, heißt in seiner Sprache keineswegs «durch Vortäuschung», sondern «durch formende Herstellung einer Ähnlichkeit». Oft heißt figura «Grundriß», «Plan» (modice picta operis futuri figura, 1, 2, 2), und universae figurae species oder auch summa figuratiofiguratio ist die Gesamtgestalt eines Gebäudes oder eines Menschen (er vergleicht gern beides unter dem Gesichtspunkt der Symmetrie). Trotz gelegentlicher mathematischer Verwendung hat figura (und auch fingerefingere) bei ihm und den anderen zeitgenössischen Fachschriftstellern eine sehr fest plastisch-sinnliche Bedeutung; so bei FestusFestus p. 98 crustulum cymbi figura,14 bei CelsusCelsus venter reddit mollia, figurata (2, 5, 5), bei ColumellaColumella ficos comprimunt in figuram stellarum floscularumque (12, 5, 5). Weit großzügiger geht es auch in dieser Einzelheit bei dem älteren PliniusPlinius (älterer) zu, der ja einer anderen Gesellschafts- und Bildungsschicht angehörte; alle Abstufungen des Gestalt- und Artbegriffs sind vertreten. Ausgezeichnet läßt sich bei ihm, in dem bemerkenswerten Anfang des 35. Buches, wo er den Verfall der Porträtmalerei beklagt, der Übergang von Gestalt zu Porträt beobachten: Imaginum quidem pictura, qua maxime similes in aevum propagantur figurae …, und etwas später, wenn er von den durch Porträts illustrierten Büchern spricht, deren Herstellungstechnik VarroVarro erfunden hatte: imaginum amorem flagrasse quondam testes sunt … et Marcus Varro … insertis … septingentorum illustrium … imaginibus: non passus intercidere figuras, aut vetustatem aevi contra homines valere, inventor muneris etiam diis invidiosi, quando immortalitatem non solum dedit, verum etiam in omnes terras misit, ut praesentes esse ubique credi passent.

Aus der juristischen Literatur des 1. Jahrhunderts sind einige wenige Stellen belegt, die figurafigura als «leere äußere Form», ja als «Anschein» zeigen: Dig. 28, 5, 70 non solum figuras sed vim quoque condicionis continere (ProculusProculus) und Dig. 50, 16, 116 Mihi Labeo videtur verborum figuram sequi, Proculus mentem (JavolenusJavolenus).

Das Bedeutendste aber und Folgenreichste, was für die Entwicklung des Wortes im 1. Jahrhundert geschah, war die Ausbildung des rhetorischenRhetorik Figurbegriffes, deren Niederschlag wir im 9. Buch QuintiliansQuintilian besitzen. Die Sache ist älter, sie ist griechisch, und sie war, wie wir oben feststellten, schon von CiceroCicero latinisiert worden; doch CiceroCicero brauchte dafür das Wort figurafigura noch nicht, und überdies scheint in der Zwischenzeit die unablässige Diskussion über rhetorische FragenRhetorische Frage die Figuraltechnik noch sehr verfeinert zu haben. Wann für die Sache zuerst das Wort verwendet wurde, ist nicht genau zu bestimmen, wahrscheinlich schon bald nach CiceroCicero, wie sich aus einem bei GelliusGellius 9, 10, 5 erhaltenen Buchtitel (de figuris sententiarum) von Annaeus CornutusCornutus, A. und aus den Bemerkungen und Anspielungen bei beiden SenecaSeneca (Philosoph)Seneca (pater)15 und dem jüngeren PliniusPlinius (jüngerer) vermuten läßt. Es lag ja nahe, da der griechische Ausdruck σχῆμασχῆμα war. Man muß überhaupt annehmen, daß der wissenschaftstechnische Gebrauch des Wortes schon früher und reicher entwickelt worden ist, als die erhaltenen Schriften es bezeugen; daß zum Beispiel von den Figuren des SyllogismusSyllogismus (die σχῆματα συλλογισμοῦ stammen von AristotelesAristoteles selbst) im Lateinischen schon weit früher gesprochen wurde als bei BoethiusBoethius oder in dem pseudo-augustinischen Kategorienbuche.

Im letzten Abschnitt des 8. und im 9. Buche der Institutio oratoria also gibt QuintilianQuintilian eine eingehende Darstellung der TropenTropenFiguren- und FigurenlehreFigurenlehre, die einerseits, wie es scheint, eine zusammenfassende Auseinandersetzung mit früheren Meinungen und Arbeiten darstellt, andrerseits für die späteren Bemühungen um den Gegenstand grundlegend wurde. Er scheidet die Tropen von den Figuren; Tropus ist der engere Begriff und bezieht sich nur auf die uneigentliche Bedeutung von Worten und Redewendungen; Figur hingegen ist jede Formung der Rede, die vom gewöhnlichen und nächstliegenden Gebrauch abweicht. Es handelt sich bei der Figur nicht darum, Worte statt anderer Worte zu setzen, wie bei allen TropenTropenFiguren; es lassen sich auch aus Worten in ihrer eigentlichen Bedeutung und Anordnung Figuren bilden. Im Grunde sei jede Rede eine Formung, eine Figur, man brauche das Wort aber nur für poetisch oder rhetorischRhetorik besonders ausgebildete Formungen, und so unterscheide man einfache (carens figuris, ἀσχματιστόςἀσχματιτός (carens figuris)) und figürliche (figuratus, ἐσχηματσμένοςἐσχηματισμένος) Redeweisen. Die Unterscheidung zwischen Tropus und Figur gelingt nur mühsam. QuintilianQuintilian selbst schwankt häufig, zu welchem der beiden eine Redeform zu rechnen sei; der spätere Sprachgebrauch hat sich vielfach dafür entschieden, figurafigura als den Oberbegriff anzusehen, der den Tropus miteinschließt und also jede uneigentliche oder mittelbare Ausdrucksweise als figürlich zu bezeichnen. Als Tropen nennt und beschreibt er die MetapherMetapher, die SynekdocheSynekdoche (mucronem pro gladio; puppim pro navi), die MetonymieMetonymie (Mars für den Krieg, VergilVergil für VergilsVergil Werke), die AntonomasieAntonomasie (der Pelide für Achill) und vieles Ähnliche; die Figuren teilt er in solche, die den Inhalt, und solche, die die Worte betreffen (figurae sententiarum und verborumfigurafigurae verborum, figurae sententiarum). Als figurae sententiarum zählt er auf: die rhetorische FrageRhetorische Frage, mit der dazu selbstgegebenen Antwort; die verschiedenen Arten der Vorwegnahme von Einwänden (prolepsisProlepsis); das scheinbare Ins-Vertrauen-Ziehen der Richter oder Hörer oder sogar des Gegners; die ProsopopöeProsopopöe, in der man andere Personen, etwa den Gegner, oder Personifikationen wie das Vaterland selbst sprechen läßt; die feierliche ApostropheApostrophe; die konkretisierende Ausmalung eines Vorgangs, evidentiaevidentia oder illustratioillustratio; die verschiedenen Formen der IronieIronie; die AposiopeseAposiopese oder obticentiaobticentia oder interruptiointerruptio, bei der man etwas «hinunterschluckt»; die gespielte Reue über etwas, was man gesagt hat; und vieles in der gleichen Art; vor allem aber diejenige Figur, die man damals als die wichtigste ansah, die den Namen Figur vor allem zu verdienen schien: die versteckte AnspielungAnspielung (versteckte) in ihren verschiedenen Formen. Man hatte eine raffinierte Technik ausgebildet, etwas auszudrücken oder zu insinuieren, ohne es auszusprechen, und zwar natürlich etwas, was aus politischen oder aus taktischen Gründen oder einfach um der größeren Wirkung willen verborgen oder wenigstens unausgesprochen bleiben sollte. QuintilianQuintilian beschreibt, welch große Bedeutung die Übung in dieser Technik in den Rhetorenschulen besaß und daß man eigens Fälle konstruierte, die controversiae figurataecontroversiae figuratae, um sich darin zu vervollkommnen und auszuzeichnen. Als Wortfiguren schließlich nennt er absichtliche SoloecismenSoloecismus, rhetorische WiederholungenWiederholung (rhetorisch), AntithesenAntithese, GleichklängeGleichklang, Auslassungen eines Wortes, AsyndetonAsyndeton, KlimaxKlimax und einiges Verwandte.

Seine Darstellung der TropenTropenFiguren und Figuren, aus der hier nur das Allerwesentlichste zusammengefaßt wurde, ist mit einer Fülle von Beispielen und mit genauen Untersuchungen über Art und Unterscheidung der einzelnen Formen ausgestattet; sie nimmt einen großen Teil des 8. und des 9. Buches in Anspruch. Es handelt sich um ein ausgebildetes System, eine Lehre, auf die der größte Wert gelegt wurde, und dabei ist zu vermuten, daß QuintilianQuintilian unter den Rhetoren eine vergleichsweise freie Stellung einnimmt und, soweit es die Neigung der Zeit erlaubte, dem Übermaß der Haarspaltereien abgeneigt war. Die Kunst der uneigentlichen, umschreibenden, andeutenden, insinuierenden und verbergenden Redeweisen, durch die der Gegenstand, sei es geschmückt, sei es wirksamer oder perfider, herausgearbeitet werden sollte, war in der spätantiken Beredsamkeit zu einer uns fast unbegreiflichen und seltsam, ja oft albern erscheinenden Vollendung und Elastizität gediehen, und jene Redeweisen hießen figurae. Die Lehre von den Figuren der Rede hat, wie bekannt, noch im MittelalterMittelalter und in der RenaissanceRenaissance große Bedeutung gehabt; für die Stiltheoretiker des 12. und 13. Jahrhunderts dient als Hauptquelle die Schrift ad HerenniumAuctor ad Herennium.16

Damit ist die Bedeutungsgeschichte von figurafigura in der heidnischen Antike abgeschlossen; einige grammatische, rhetorische und logische Weiterbildungen ergeben sich von selbst aus dem schon Gesagten und sind zum Teil auch schon erwähnt worden.17 18

Geschichtlich bedeutend wurde der Sinn, den die KirchenväterKirchenväter dem Wort auf Grund seiner auf den vorhergehenden Seiten beschriebenen Entwicklung zu geben vermochten.

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