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Über das Persönliche in der Wirkung des heiligen Franz von Assisi (1927)Franz v. Assisi

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Facta est proinde in eo et per eum

insperata exsultatio … 1. CEL. 89

GörresGörres, J. v. hat vor nunmehr hundert Jahren Franziskus den Troubadour gefeiert, und seit ThodeThode, H. und SabatierSabatier, P. ist es allgemein geworden, in diesem ganz unliterarischen und anspruchslosen Heiligen einen Schöpfer des komplizierten Gebildes der RenaissanceRenaissance, einen Urahn modernen Empfindens zu sehn. Als repräsentativ, wenn auch in engerem Sinne, haben ihn schon die Zeitgenossen betrachtet, und es ist merkwürdig genug, wie ihn SalimbeneSalimbene dem EzzelinEzzelin gegenüberstellt, dem Vikar Kaiser Friedrichs II.,Friedrich II. (Kaiser) den Jakob BurckhardtBurckhardt, J. als das Vorbild seiner antikischen Renaissancetyrannen ansah – credo certissime, sagt Salimbene, quod sicut Deus voluit habere unum specialem amicum quem similem sibi faceret, scilicet beatum Franciscum, sic diabolus Ycilinum.1 Es spricht ein inneres Gefühl für die Wahrheit der Auffassung, daß der Heilige weit über den Rahmen des Kirchlichen hinaus auf die Nachfolgenden gewirkt hat, allein Nachweis und Formulierung sind schwer, sobald man über das leicht greifbare Kunsthistorische hinaus die Gesinnung aufspüren will, die unsere Bildung ihm verdankt. In den Sätzen, die man häufig hört und liest – er habe ein unmittelbares, dichterisches, nicht mehr allegorisches Naturgefühl besessen – oder er sei, als Gottsucher auf eigene Faust, den Vorläufern der Reformation zuzurechnen – oder er habe zuerst das Recht der Armen verteidigt – in diesen Sätzen liegt wohl etwas Wahres verborgen, aber sehr verborgen, und darüber spreizt sich eine moderne, romantisierende Gefühlsschablone. Es ist überhaupt hier nichts anzufangen, wenn man unmittelbar auf Ideengeschichte oder Literaturentwicklung aus ist. Eine rational zu erfassende, irgendwie systematische geistige Gesinnung hat der Heilige nicht besessen. Er war weder ein eschatologischer Schriftausdeuternoch ein theoretischer Schulmeister des irdischen Daseins, und darin gerade lag seine Kraft. Schon die Spiritualen haben den ungeheuren Irrtum begangen, sich an das Wort zu klammern, und über dem Kampf um den usus pauper und die Besitzlosigkeit Christi das Hauptgebot: sint minores et subditi omnibus zu vergessen. Noch heute begeht eine analytisch gerichtete Zeit oft einen ähnlichen Irrtum; wenn sie diesen einmaligen Menschen einem geistesgeschichtlichen Schema einordnen will, in das vielleicht manches seiner Worte, aber nicht ihr Geist hineinpaßt.

Sint minores et subditi omnibus – das ist die ganze Lehre. Sancta obedientia, so heißt es in den Laudes de virtutibus, und SabatierSabatier, P. hat die schöne Stelle einmal zum Gipfelpunkt seiner Darstellung gemacht2 – sancta obedientia facit hominem subditum omnibus hominibus hujus mundi et non tantum hominibus, sed etiam bestiis et feris, ut possint facere de eo quidquid voluerunt, quantum fuerit eis datum desuper a Domino. Geht in die Welt, doch wie Fremde und Pilger; nichts darf darin euer sein – dient und predigt Buße, doch widersteht nicht dem Bösen – der heilige Franz persönlich hat die Unterordnung und demütige Selbstverachtung bis zu einem fast absurden Grade gesteigert, indem er sich bemühte, den eigenen Willen, die eigene Meinung, das Selbstgefühl zu unterdrücken und zu verdammen, und das Gleichnis vom Kadavergehorsam findet sich wohl zuerst bei ihm.3 In diesen Eigenschaften liegt sein eigentlichstes Wesen, und von hier führt kein unmittelbarer, rationaler Weg zu der, wie auch sonst immer, so doch stets aufs Persönliche und mindestens vorläufig aufs Irdische gerichteten Bewegung des erwachenden neuzeitlichen Geistes. Kein Wort von ihm ist überliefert, soviel ich weiß, das prinzipiell Stellung nähme zu den menschlichen Einrichtungen, zu der Welt der ϑέσις, und ohne Zweifel ist ihm der Gedanke, sie zu kritisieren, die Vorstellung, es könne ihre Besserung oder Beherrschung von Bedeutung sein für den Weg des Heils, niemals gekommen; für ihn gab es einen unmittelbaren Weg von einer jeden Seele zu Gott, und welche irdische Gewalt wäre wohl imstande, die Befolgung des sint minores et subditi omnibus zu hindern? Vollkommenste Unterordnung war selbstverständlich auch seine Haltung gegenüber der Kirche, und wie sehr ihm die Institution als solche heilig war, ergibt sich aus der immer wiederholten Mahnung, auch in dem sündigen und unwürdigen Priester das göttliche Amt zu verehren – noch drastischer vielleicht aus seinen Worten bei Cel. 2, 201: wenn er zugleich einem vom Himmel kommenden Heiligen und irgendeinem armen Priester begegnete, so würde er zuerst diesem die Hände küssen; dicerem enim: Oi! Exspecta, sancte Laurenti, quia manus huius Verbum vitae contrectant … Der heilige LaurentiusLaurentius, hl. war nämlich nur Diakon.

In dem gedanklichen Grunde seiner Lehre, wenn man von einem solchen sprechen darf, liegt also gewiß nicht die Ursache seiner geistigen Wirkung – um so weniger als es kurz vor ihm und gleichzeitig Bußprediger genug gab, die die vollkommene Armut zur Regel erhoben; ja sie hatten sogar vielfach, im Gegensatz zu ihm, eine Art geistigen Systems, ein weltverbesserndes Programm, wodurch sie freilich bald in Konflikt mit der Umwelt gerieten und den ursprünglichen Impuls in Zank und Geschwätz vertaten. Der heilige Franz war zuerst einer von vielen – aber er handelte im Gegensatz zu jenen vielen ausschließlich aus dem ungeheuren, nur religiösen, nur gefühlsmäßigen, ganz einfachen Antrieb, den ihm das eigene böse Leben, der Anblick der Aussätzigen und die Betrachtung des Opfertodes Christi gegeben hatten; und die Besonderheit seiner Gründung liegt in ihrem anspruchslosen Verzicht auf alles Irdisch-Programmatische, auf alles Maßregelhafte. Die irdische Wirksamkeit, soweit sie nicht unmittelbar auf die Nachfolge Christi hinausläuft, hat er nicht geachtet, und selbst ihre reinste Form, das Streben nach Weisheit, hat er mit ein paar unvergeßlich festsitzenden Worten von sich gewiesen: wenn du alle Wissenschaft besäßest, alle Sprachen könntest, die Dinge des Himmels zu erforschen wüßtest, du könntest dich all dessen nicht rühmen: quia unus demon scivit de celestibus magis et modo scit de terrenis plus quam omnes hommes ….4

Wohl aber mußten die Brüder in der Welt leben. Das Eremitentum und die wohlbehütete, aristokratische Kontemplation war nicht die Absicht des Stifters; sondern die Nachfolge Christi mitten im saeculum, die Unterordnung und der Dienst an der Kreatur. Das Unrechtleiden war ihre eigentliche Aufgabe; «auch wenn sie dich schlagen, nimm es als Gnade und wolle es so und nicht anders; denn ich weiß ganz gewiß, dies ist der wahre Gehorsam … und liebe die, welche dir so tun … und wünsche nicht, daß sie bessere Christen seien. Und dies sei dir mehr als das Eremitorium …».5 Mitten in der Welt konnte das nur geschehen; überallhin kamen die Brüder, bettelnd, bußpredigend, die Elendesten der Kranken pflegend. So erreichten sie von Anfang an einen Grad von Öffentlichkeit und Verquickung mit dem täglichen Leben des Volkes, wie keine ähnliche Einrichtung je zuvor. Man bemerke aber, daß der Heilige seine Brüder überallhin sandte – nicht etwa zu den Ungläubigen insbesondere. Heidenbekehrung und Martyrium, diese heroischen Grundtatsachen des kämpfenden Christentums, spielen in der franziskanischen Bewegung keine bedeutende Rolle. Zwar erlitten einige der ersten Brüder den Tod bei den Sarazenen, zwar sehnte sich auch der Stifter nach solchem Schicksal – doch es ist nicht eigentlich Ziel und Aufgabe des Ordens. Wer zu den Ungläubigen gehen will, soll seinen Minister um Erlaubnis bitten, und der gestatte es ihm nur,6 wenn er ihn für geeignet hält – denn der MinoritMinoriten ist nicht um des Ruhmes willen da, nicht wegen des eklatanten, tragischen Heldenmutes, sondern für das tägliche Leben, wo es Gott gefällt, ihn hinzustellen; sein Heldenmut ist Unterwerfung unter die Kreatur.7

So gingen die Brüder in die Welt und erregten sie von Grund auf. Das ganze Jahrhundert ist erfüllt von der franziskanischen Bewegung, und noch in seinem kurzen Leben sah der Heilige eine Wirkung von seiner Person ausgehen, wie sie wohl keinem anderen Menschen, der nur Innerliches wollte, vergönnt war. Thomas von SpalatoThomas v. Spalato, der ihn 1222 auf dem Markt in Bologna predigen sah, beschreibt seinen schmutzigen Anzug, seine verächtliche Gestalt, sein unschönes Gesicht – wie aber die Wirkung seiner Worte so groß war, daß die streitenden Parteien der Stadt sich versöhnten, und wie die ekstatische Verehrung des poverello einen solchen Grad erreicht hatte, daß Männer und Frauen catervatim in eum ruerent, satagentes vel fimbriam eius tangere aut aliquid de paniculis eius auferre …8 Als er starb, war er im Bewußtsein des ganzen italienischen Volkes ein Heiliger, sein Orden war eine riesige Institution im ganzen Abendland, der Christenheit war er zum Bild und Vorbild geworden, und die Kirche verdankte ihm, wie es die Legende vom Traum des Papstes schön zum Ausdruck bringt,9 Rettung und Erneuerung. Alle Menschen, die mit ihm in Berührung kamen, hat er bezaubert; in diesem Ausmaß, ohne politische Absicht, ganz aus Person und Gesinnung geboren, ist seine Wirkung ohnegleichen.

Sein Werk der Bezauberung begann bei seinen umbrischen Mitbürgern, und wenn er späterhin Gelehrte und Fürsten, Bischöfe und Päpste zu den Seinen zählte, so blieb die Grundlage seiner Seelenmacht doch immer das Volk, dessen Herz nicht durch die Vernunft, sondern durch die Phantasie entflammt wird. Hier liegt der Kern des Problems: er hat die Phantasie des Volkes für Jahrhunderte befruchtet. Welche geheimen Kräfte verliehen ihm solche Gewalt über die Phantasie der Menschen, die damals lebten und handelten, daß sein Bild und sein Wesen ihr Leben und Handeln zu beunruhigen, zu durchkreuzen, zu verwandeln vermochten? Es gab, wie schon gesagt, damals Bußprediger genug, und zudem muß man bedenken, daß es zu jener Zeit der Einbildungskraft an Nahrung nicht fehlte; die KreuzzügeKreuzzüge mit ihrer gewaltigen Bewegung, ihren abenteuerlichen Kriegstaten, ihrer phantastischen Anschwellung von Verkehr und Reichtum müssen die einfachen Menschen aufs leidenschaftlichste beschäftigt haben, und wenn die plötzliche Erweiterung des Gesichtskreises zu einer Kritik und Beunruhigung der heimischen Zustände führte, so mußte das weit eher ketzerisch-revolutionären Bestrebungen zugute kommen als der unpolitischen und nur aufs Innerliche gerichteten franziskanischen Bewegung.

Und trotzdem fiel sein Wort in aufnahmebereite Herzen. Giambattista VicoVico, G. hat gesagt, daß die einfachen Menschen sich am Großen und Einheitlichen ergötzen und daß mehr als alle noch so scharfsinnigen Worte des Verstandes die bildhaft einprägsame Tat und Haltung und das lebendige Gefühl sie fortreißen. Franz von AssisiFranz v. Assisi ist in VicosVico, G. Sinne ein poetischer Charakter gewesen, weil er ganz und gar bildhafter Ausdruck seiner selbst geworden ist. Den inneren Impuls trieb er mit einer überirdisch glühenden, mit einer seraphischen Entschlossenheit in die äußere Erscheinung; er wurde zum sinnlich-geistigen Erlebnis, unvergeßlich und unverwechselbar, ein sichtbares Zeichen geheimer Seelendinge.

Hier denke man einen Augenblick an die italienische oder überhaupt mittelländische Tradition der Sichtbarmachung alles häuslichen und seelischen Geschehens. So wie es noch heute ist, so muß es schon in der Antike gewesen sein: das Leben vollzieht sich in den Straßen und auf den Plätzen, und ohne Rückhalt ergießen sich die Affekte in eindrucksvolle Worte und Gesten. Die Helden des Volkes, in der Geschichte und auf der Bühne, müssen in jedem Augenblick ihren Charakter im Bilde darbieten, und keine noch so krasse Steigerung, sei es im Tragischen oder im Burlesken, ist diesem naturnahen Geschlecht zu viel. In dem heutigen öffentlichen Leben Italiens ist dies noch jeden Tag mit gleicher Eindringlichkeit zu beobachten wie etwa im antiken Lustspiel oder bei PetroniusPetronius.

In seinem Wesen und Auftreten hat der Heilige diesem Zuge des Volkscharakters vollkommen entsprochen – ja er hat ihn vielleicht erst wieder aufleben lassen und aus der Erstarrung von Jahrhunderten erweckt. Die Wandlungen und Zustände seiner Seele waren ein öffentliches Ereignis, und von dem Tage, an dem er dem scheltenden Vater vor dem Angesicht des Bischofs und des ganzen Volkes seine Kleider zurückgab, um sich ganz dem himmlischen Vater zu überliefern, bis zu jenem, an dem er sich, sterbend, nackt auf die nackte Erde legen ließ, ut hora illa extrema, in qua poterat adhuc hostis irasci, nudus luctaretur cum nudo10 war jede seiner Handlungen eine Geste von nie erlebter und weittragender Gewalt, die die Menschen unmittelbar zu stürmischen Tränen und begeisterter Demut bewegte. Die wenigen Worte, die von ihm genau so überliefert sind, wie er sie sprach oder schrieb, tragen noch seine drängende und bei vieler Einfalt leidenschaftlich bewegte Geste in sich: Dico tibi sicut possum de facto anime tue beginnt der Brief an den unbekannten Minister, und mit et und et steigern sich, beschwörend und bestätigend, die Ermahnungen. Der Brief Ita dico tibi, fili mi an Bruder Leo ist in seiner völlig ungeschickten und unklaren Ausdrucksweise eines der beredtesten Dokumente aller Zeiten – aus dem 12. und 13. Jahrhundert gibt es gewiß nicht seinesgleichen. Was soll man vollends zu seinem Testament, was zu den Laudes creaturarum, dem SonnengesangSonnengesang (laudes creaturarum), sagen, dieser ersten, unbeschreiblichsten Blüte des Volgarevolgare, in der die einfachste, unschuldigste, vertrauteste Liebe zum Irdischen ausatmet in dem vertrauten Gruß an den Tod, als sei auch er Kreatur, ein irdisches Ding, von Gott geschaffen und würdig des Ruhmes? So viel von seinen Worten; eine überwältigende Fülle von Zeugnissen für seine ganz persönliche, immer bildhaft-konkrete Gestalt bietet seine Legende, in jeder der vielen Fassungen, in denen sie uns überliefert ist. Schon bei ihrer Entstehung rankt sich die Phantasie mitdichtend um sie herum, des Streites um Priorität und Glaubwürdigkeit ist kein Ende; vom ersten Tage an ist sie ein Volksbuch, die unkritischste Redaktion, nämlich die vulgärsprachlichen FiorettiFioretti (des hl. Franz), haben bis zum heutigen Tage eine gewaltige Verbreitung, weit über die fromm katholischen Kreise hinaus, und ein großes Jahrhundert der Malerei scheint fast nur aus der Geschichte des Franz von AssisiFranz v. Assisi das göttliche Pneuma der Inspiration empfangen zu haben.

Es ist nicht leicht, aus solcher Überfülle das Eindringlichste auszuwählen – und dabei nicht das zu übersehen oder zu verschweigen, was einem heutigen Gefühl fremdartig erscheint. Als er schon ein berühmter Heiliger war und sehr krank – von Natur war er zart und eines gepflegten Lebens bedürftig11 – da aß er einmal Hühnerfleisch, das man ihm verordnet hatte. Kaum hatte er sich erholt, befahl er einem Bruder, ihn mit einem Strick um den Hals durch AssisiFranz v. Assisi zu führen und dabei fortwährend zu rufen: Hier seht den Vielfraß, der sich ohne euer Wissen mit Hühnerbraten vollgestopft hat!12 Das scheint uns fast zu viel und ist doch ein Ausfluß seiner innersten Art, eines traditionell italischen Wesens, das in seiner naiven Drastik zuerst Spott, dann bestürzte Einkehr – aber niemals Überdruß erregte. Bei aller Einfachheit scheut er sich durchaus nicht, ein auffallendes Schauspiel zu geben – oder besser gesagt, dies Szenenhafte ist seine Natur, sein Ausdruck, den er nie verleugnet. Seine Gebärden im Sprechen überstiegen durchaus das uns gewohnte Maß; selbst als er zum ersten Male vor dem Papste sprach, ergriff ihn der fervor spiritus, so daß er, «sich nicht fassend vor Freude, die Füße wie im Tanze bewegte».13 De toto corpore fecerat linguam, sagt Thomas an einer anderen Stelle, womit er freilich in einem weiteren Sinne meint, daß sein Körper durch Haltung und Art des Lebens unausgesetzt seiner Predigt diente; und er überschreibt den folgenden Absatz: Concordia utriusque hominis.14 Aber auch in jenem engeren Sinne behält es Gültigkeit, und es ist völlig das Freiheitsgefühl eines großen und meisterhaften Schauspielers, das an einer dritten Stelle beschrieben wird: wenn er vor vielen Tausenden predigte, war er so sicher wie im Gespräch mit dem vertrautesten Genossen; der riesigste Völkerhaufe erschien ihm wie ein einziger Mann.15

Er ist stets ein gespannter und bewegter Mensch gewesen, den es unausgesetzt trieb, die jeweils ergriffene Lebensform ins äußerste zu steigern; non modicum audax war er in seiner frühen Jugend,16 ein überschäumendes Gefäß der Gnade später. Was für ein verblüffender Auftritt ist schon sein erstes Erscheinen nach seiner Bekehrung in dem kleinen Assisi, das in ihm eben noch den Führer der leichtsinnigen Jugend der Stadt gesehen hatte!17 Und die Fülle erstaunlicher Taten, die er später vollbrachte, ist unerschöpflich. Er gab den Armen seinen Mantel oder das einzige Evangelienbuch, das die Brüder besaßen, er küßte die Aussätzigen, er warf sich, als eine Regung niederer Sinnlichkeit ihn befiel, nackt in den Schnee,18 er sprach zu Tieren und Blumen, er nannte alle Kreaturen seine Brüder – et modo praecellenti atque caeteris inexperto creaturarum occulta cordis acie decernebat, utpote qui iam evaserat in libertatem gloriae filiorum Dei.19 Das Krippenspiel am Tage der Geburt des Herrn, das praesepiumPraesepium, praesepe, feiert er mit Ochs und Esel im Stall zu Greccio, und das herbeigeeilte Volk hört in frommer Freude, wie er predigend Jesus das Lamm von Bethlehem nennt und in diesem Worte das Blöken eines Lammes nachzuahmen versucht.20 Er weinte über ein junges Lamm, das er auf dem Felde sah, nahm es mit sich, zog damit zum Erstaunen aller durch die Stadt Auximum (Osimo), um es den Nonnen zur Pflege zu übergeben – es hatte ihn an Christi Leiden erinnert.21

In der Ekstase begann er zu singen, und zwar oft französisch, oder auch mit einem Stück Holz die Bewegung des Geigenspielers (der viella) nachzuahmen;22 das Französische war seine Lieblingssprache, und im Anfang seiner Laufbahn überwand er die eigene Scham vor dem Betteln, indem er plötzlich begann, französisch zu reden.23 Nicht minder erstaunliche und impulsive Dinge vollbrachte er, um seiner Gesinnung bei den Brüdern oder auch bei Fremden Geltung zu verschaffen. Als er ein Haus sah, das ohne sein Wissen für die Brüder gebaut worden war, stieg er sofort auf das Dach und begann die Ziegel hinunterzuwerfen;24 die gewohnte Zelle verließ er, als sie ein Bruder unbedacht cella fratris Francisci genannt hatte;25 einem anderen, der einen Beutel Geldes berührt hatte, gab er in erschreckender Symbolik als Buße auf, den Beutel mit den Zähnen in einen Haufen Eselsmist zu legen.26 Als er die Brüder in Greccio an einem geschmückten Tische speisen sieht, geht er nicht etwa hinein, es ihnen zu verweisen; er nimmt Hut und Stab eines Armen, geht laut bettelnd an die Tür, erbittet als armer Pilger, im Namen Gottes, Einlaß und Speise: und wie die fassungslos erstaunten Brüder ihm den verlangten Teller geben, setzt er sich damit in die Asche: modo sedeo ut frater minor!27

Zum Mahl bei seinem Freunde, dem Kardinal Ugolin von OstiaUgolin v. Ostia, erscheint er mit etwas schwarzem Brot, das er sich draußen erbettelt hat, und verteilt die Brocken als eine wertvolle Gabe, angesichts des reich besetzten Tisches.28 Einem Habgierigen füllt er lächelnd die Hände mit Geldstücken, ohne zu zählen, und erschüttert durch diese einfache Geste das Gleichgewicht des Mannes für immer.29

Schließlich sei noch die unheimliche Szene bei den Schwestern von San Damiano erzählt: sie haben lange gebeten, ihn zu sehn und seine Predigt zu hören; endlich will er kommen. Er erscheint vor den versammelten Nonnen, doch kaum hat er gebetet, als er einen Kreis von Asche rings um sich streuen läßt und statt der Predigt ein lautes Miserere beginnt; dann geht er eilig davon.30

Zu dieser breiten und eklatanten Wirkung, die der Heilige der südlichen Gewalt seines Ausdrucks verdankt, tritt eine andere, ganz feine und subtile – die Wirkung, die auf der ganz unbeschreiblich leuchtenden Liebenswürdigkeit seines Auftretens beruhte. Hier ist das Wort «Liebenswürdigkeit» wirklich an seinem Platze, denn das, was man bei ihm so nennen darf, ist keineswegs der Ausfluß einer gesellschaftlichen Bildung – obgleich freilich, schwer nachzuweisen und doch unverkennbar, auch hier ältestes Gut der Tradition durchschimmert –, sondern eine wirkliche Blüte des Herzens, durch deren Glanz er nicht nur unendlich gut und groß, sondern ebensosehr persönlich reizvoll erscheint, und um derentwillen er dem geheimen Orden der Menschen von bevorzugter Bildung zugehört. So rätselhaft in seinen Ursprüngen und so unbeabsichtigt dieses Wesen auch sein mag – der Heilige, Sohn eines Tuchmachers in einer Kleinstadt, ohne literarische Bildung und ohne Beziehung zu den damaligen Schauplätzen edler Sitte, ähnelt zuweilen in seiner trotz aller Leidenschaftlichkeit überwältigend formvollen, die geheimsten Instinkte des anderen erspürenden Art, einem schon fast überempfindlichen, mit überfeinen Sinnen begabten Abkömmling eines erlauchten Geschlechts. Ohne Zweifel hat Thomas von CelanoThomas v. Celano recht, wenn er seine Liebenswürdigkeit aus seiner Demut herleitet,31 aber nicht jeder Demütige wäre imstande, seiner Gesinnung solchen Ausdruck zu verleihen.

Hier ist es nicht ganz so leicht, Beispiele anzuführen, denn es handelt sich um Dinge, die, überall in der Legende verstreut, sich doch schwer herausheben und losgelöst darstellen lassen. Das Augenfälligste ist die Art, wie der Heilige die Gedanken, Wünsche und geheimen Nöte der anderen errät und ihnen zu helfen weiß, ohne sie zu beschämen; die Legende bewahrt uns eine ganze Anzahl solcher Züge. War einer der Brüder krank und dem Fasten nicht gewachsen, wagte es aber nicht sich einzugestehen, so wußte es Franziskus sofort; er holte selbst Speise, setzte sich zu dem Leidenden, begann, um jenem die Scham zu nehmen, selbst zu essen und, wie BonaventuraBonaventura sagt, eum ad manducandum dulciter invitare.32 Oder er errät, auf einem Esel reitend, die Gedanken eines vornehm geborenen Bruders, der zu Fuß nebenher gehen muß; sogleich steigt er ab und bietet ihm an zu reiten.33 Nie versäumt er es, dem anderen eine Freude zu machen, und man versteht wohl, daß der erkrankte Bruder, den er mit Weintrauben überraschte (er war vor Tag sie pflücken gegangen, damit es ja niemand merke), bis zu seinem Tode sich dieses Morgens nicht ohne Tränen erinnern konnte. Doch es gibt hier auch ernsthaftere Dinge. Er fühlt, wenn sich aus irgendeinem geheimen Grunde die Gedanken eines Menschen verdüstern, wenn eine finstere Verworrenheit sich seiner bemächtigt, und im richtigen Augenblick greift er ein mit der ganzen Macht seiner zugleich ernsthaften und strahlenden Güte. Nichts von dem, was wir neuerdings einen Komplex nennen, kann vor ihm bestehen. Einen Scheuen, der von ihm mißachtet und schlecht beurteilt zu sein glaubt und darum schon beginnt an der Gnade zu verzweifeln, ruft er plötzlich zu sich, versichert ihn seiner besonderen Liebe und bittet ihn, so oft es ihm gefalle, zu ihm zu kommen.34 Einem anderen, von Anfechtungen gequälten, die er aber aus Scham nicht beichten kann, sagt er unvermittelt, er sei befreit von dieser Beichte, und die Anfechtungen würden ihm zum Ruhme, nicht zur Schuld gerechnet werden.35

Seine ganz besondere Liebe gehörte den Einfältigen und den Schwachen. Eine der hübschesten Anekdoten der Legende ist die Geschichte von Johannes SimplexJohannes Simplex, dem Bauernsohn, der ihm vom Pfluge weg folgen will, und auf die Forderung, er solle sein Hab und Gut den Armen schenken, sogleich einen Ochsen ausspannt: so viel gehöre ihm vom väterlichen Erbe, den könne er geben; dann aber kommen die Eltern und kleinen Geschwister weinend angelaufen und jammern über den Bruder und den Ochsen, die sie beide so schnell verlieren sollen. Der Heilige aber steht lächelnd inmitten der bewegten Szene, und die Worte, mit denen er den Ochsen zurückgibt, den Bruder aber mit sich führt, mag man selbst in der Fassung des Speculum perfectionis36 nachlesen. Zarte und feingebildete Menschen behandelte er mit einer Art von Rücksicht, die den Betroffenen sicher vollkommen frei und glücklich machte. Man denke etwa an die Stelle der Actus, in denen sein Gespräch mit dem vornehmen Jüngling – dem späteren Bruder Angelo – erzählt wird,37 oder an die Worte, mit denen er die hilfeflehende junge Frau aufnimmt,38 die freilich viel zu zart sind, um hier wiedergegeben zu werden. Wenn man die Stelle nachlesen will, so möge man darauf achten, daß nicht sie es wagte, ihn anzusprechen, sondern daß er die Ermüdete und Atemlose sogleich unter vielen Menschen bemerkt: Quid tibi, domina, placet? Und dann lese man weiter.

In demselben Kapitel der Actus, das wir eben wegen des adligen Jünglings zitiert haben, steht auch die Geschichte von den drei Räubern, die der Guardian des Klosters heftig fortgewiesen hatte. Der Heilige tadelt ihn und schickt ihn mit Wein und Brot den Räubern nach, er solle sie um Verzeihung bitten, und zwar nicht bloß wegen der unchristlichen Grausamkeit, sondern auch wegen der incurialitasincurialitas, der unhöflichen Form. Und jener andere Bruder, den er in seiner Krankheit um Rat fragt, ob es denn recht sei, daß er so vieles für die Pflege des kranken Körpers tue, hat sofort gewonnenes Spiel, als er ihn an die Pflicht der liberalitasliberalitas erinnert: hat dir nicht, so sagt er, dein Körper immer und ohne Furcht vor Gefahren gedient? Willst du einen solchen Freund in der Not verlassen? Sei du gesegnet, mein Sohn, antwortet der Heilige, daß du weise meinen Bedenken mit so heilsamen Mitteln begegnest ….39

Die suggestive Bezauberungskraft seiner Gestalt, in die Welt getragen und noch tausendfach verstärkt durch das mystische Element brüderlicher Gemeinschaft, das die Leiber fast ebenso bindet wie die Seelen, und das nun in jedem Kutte und Strick tragenden Bruder den Heiligen vervielfältigte, diese Bezauberungskraft sinnlicher Art hat Europa für die franziskanische Bewegung erobert und mindestens in Italien weit entscheidender gewirkt als etwa sein Streben nach vollkommener Demut oder die eschatologischen Vorstellungen, die später in der Bewegung bedeutend wurden. Denn in einem so vielfältigen Gewirr von Stimmen, einem so komplizierten Gespinst von spirituellen Fäden, wie es das Erwachen des modernen europäischen Geistes gewesen ist, sind die rational bezeichenbaren Strömungen schwer zu fassen und noch schwerer zu verfolgen. Sie fluten und ebben auf und ab, vereinigen sich mit anderen, verschwinden, brechen irgendwo in neuer Form wieder hervor oder verkehren sich in neuer Umgebung in ein gänzlich neues Ding. Selbst wenn man geduldig und geschickt genug ist, solch eine einzelne formulierbare Strömung, etwa den antikisierenden Individualismus oder die eschatologische Hoffnung auf das tausendjährige Reich, durch einen längeren Zeitraum verfolgen und mit richtiger Beurteilung ihrer inneren Wandlungen darstellen zu können, selbst dann entgeht man schließlich doch kaum der Gefahr, daß man jene einzelne rational ausdrückbare Gesinnung allzu losgelöst, allzu isoliert betrachtet und folglich ihre Bedeutung verkehrt einschätzt. Doch die auf sinnlicher Durchtränkung der Gemüter beruhende Psychagogie einer einzelnen bedeutenden Gestalt ist weit allgemeiner und befreit sich schon nach kurzem Zeitablauf von ihrem Sachinhalt, ohne darum an sinnlicher Kraft einzubüßen. So ist es mit dem heiligen Franz. Als das Ideal evangelischer Armut und die Gesinnung vollkommener Demut längst schal geworden und an dem Reibungswiderstand des irdischen Laufs zugrunde gegangen waren, lebte noch intakt in den Herzen die Gewalt seiner Geste – selbst in solchen Herzen, deren eigentliches Streben gar kein religiöses war. Als ein unzerstörbares Erbe ist sein Persönlichstes der italienischen Nation erhalten geblieben: die heiße drastische Kraft seines Ausdrucks, die den Dingen gleichsam in den Leib dringt und sie von innen zu eröffnen scheint, und die zarte und formvolle und nicht minder innerliche Eleganz seines Herzens, eben jene Eigenschaften, durch die sich die Göttliche Komödie von dem deutschen MinnesangMinnesang oder der provenzalischen KunstdichtungTroubadourdichtung unterscheidet.

Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe

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