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III. Entstehung und Analyse der Figuraldeutung Figuraldeutung

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Wir haben uns im letzten Abschnitt mehrfach und unwillkürlich von der rein semantischen Betrachtung entfernt, weil der Inhalt, den das Wort bei den patristischen Schriftstellern ausdrückt, selbst erklärungsbedürftig ist. Dieser Inhalt legt uns nahe, noch genauer zu untersuchen, wie er entstand, ihn gegen verwandte Inhalte abzugrenzen und die Frage seiner geschichtlichen Bedeutung und Wirkung zu prüfen.

Die KirchenväterKirchenväter berufen sich häufig zur Rechtfertigung der FiguraldeutungFiguraldeutung auf einige Stellen der urchristlichen Überlieferung, die meist aus den Apostelbriefen stammen.33 Am wichtigsten ist hier 1. Kor. 10, besonders v. 6 und 11, wo die Juden in der Wüste als τύποι ἡμῶν bezeichnet werden und wo von ihrem Schicksal gesagt wird: ταῦτα δὲ τυπιϰῶς συνέβαινεν ἐϰείνοις; daneben findet man häufig Gal. 4, 21–31; dort handelt es sich darum, daß PaulusPaulus (Apostel) den neugetauften Galatern, die sich, unter judaistischem Einfluß, beschneiden lassen wollen, den Unterschied zwischen Gesetz und Gnade, altem und neuem Bunde, Knechtschaft und Freiheit an dem Gegensatz Hagar-Ismael und Sara-Isaak darstellt, wobei er die Erzählung der Genesis in Verbindung mit Jes. 54, 1 realprophetischRealprophetie deutet; oder auch Kol. 2, 16f., wo es um die jüdischen Speisegesetze und Feiertage geht, von denen gesagt wird, sie seien nur Schatten des Kommenden, der Körper aber ist Christus; Röm. 5, 12ff. und 1. Kor. 15, 21, wo Adam als τύποςτύπος des zukünftigen Christus erscheint, beide Male im Zusammenhang des Gegensatzes Gesetz und Gnade; 2. Kor. 3, 14, wo von der Decke, ϰάλυμνα, gesprochen wird, die auf der Schrift liegt, wenn die Juden sie lesen; schließlich noch Hebr. 9, 11ff., wo das Opfer des Blutes Christi als Erfüllung des alten hohepriesterlichen Opfers dargestellt wird.

Es sind, wie man sieht, fast alles PaulusPaulus (Apostel)stellen. Daß die FiguraldeutungFiguraldeutung von vornhinein in der Mission eine bedeutende Rolle gespielt hat, läßt sich auch aus manchen Stellen der Apostelgeschichte (z. B. 8, 32) vermuten. Es wäre nur ein natürlicher und nicht weiter erklärungsbedürftiger Vorgang, wenn die neuen JudenchristenJudenchristentum in den jüdischen heiligen Schriften nach Vorankündigungen Jesu und Bestätigungen seines Wirkens gesucht und die so gefundenen Deutungen der Überlieferung hinterlassen hätten; um so mehr, als ihnen die Anschauung, der Messias werde ein zweiter Moses, die Erlösung durch ihn werde ein zweiter Auszug aus Ägypten sein, bei dem sich die Wunder des ersten wiederholen würden, geläufig war.34 Doch ergibt die Prüfung der oben aufgezählten Stellen, zumal im Zusammenhang mit dem Ganzen des paulinischen Wirkens, daß sich jene jüdischen Vorstellungen bei ihm mit einer Gesinnung verbanden, die im schärfsten Gegensatz zum JudenchristentumJudenchristentum stand und aus ihr erst ihre eigentümliche Bedeutung gewannen. Die Stellen der Apostelbriefe, die figurale Deutungen enthalten, sind fast alle aus dem scharfen Kampf um die Heidenmission heraus geschrieben, vielfach geradezu defensiv und polemisch gegen judenchristliche Angriffe und Verfolgungen; und sie haben fast alle die Absicht, das Alte TestamentAltes Testament seines normativen Charakters zu entkleiden und als bloßen Schatten des Kommenden aufzufassen. Die ganze FiguraldeutungFiguraldeutung steht unter dem paulinischen Grundthema des Gegensatzes von Gesetz und Gnade, Werkgerechtigkeit und Glaube: das alte Gesetz ist aufgehoben und abgelöst, es ist Schatten und τύπος, seine Gesetzestreue ist unnütz und verderblich geworden, seit Christus durch sein Opfer die Erfüllung und Erlösung gebracht hat; nicht gesetzestreue Werke rechtfertigen den Christen, sondern der Glaube; und in seinem jüdischen und judaistischen Gesetzessinne ist das Alte Testament der Buchstabe, der tötet, indes die wahren Christen Diener des Neuen Bundes sind, des Geistes, der lebendig macht; dies war PaulusPaulus (Apostel)’ Lehre, und mit dringender Frage sucht der einstige Pharisäer und Gamalielschüler im Alten TestamentAltes Testament selbst nach Stützpunkten für seine Gesinnung. Es wird ihm im ganzen aus einem Gesetzbuch und einer Geschichte Israels zu einer einzigen großen Verheißung und Vorgeschichte Christi, in der nichts endgültige Bedeutung, sondern alles Vorbedeutung ist, welche sich jetzt erfüllt hat; in der alles «für uns geschrieben» (1. Kor. 9, 10, vgl. Röm. 15, 4) ist und in der eben die bedeutendsten und heiligsten Vorgänge, Sakramente und Gesetze vorläufige Vorformen und Figurationen Christi und des Evangeliums sind: et enim Pascha nostrum immolatus est Christus (1. Kor. 5, 7).35 Auf diese Art verwandelte sein Geist, der in einer beispielhaften Weise die praktisch-politischen mit den dichterisch gestaltenden Glaubenskräften verband, die jüdische Vorstellung von der Wiedererstehung des Moses im Messias zu einem System der RealprophetieRealprophetie, in dem der Wiedererstandene das Werk des Vorläufers zugleich erfüllt und aufhebt; und was das ATAltes Testament dabei an Gesetzeskraft und an geschichtlich-volkstümlicher Eigenständigkeit einbüßte, gewann es an neuer dramatisch-konkreter Aktualität. PaulusPaulus (Apostel) hat keine zusammenhängende Deutung des AT verfaßt, aber die wenigen Stellen über den Auszug aus Ägypten, Adam und Christus, Hagar und Sara usw. verraten zur Genüge, was er gemeint hat. Die Kämpfe der Folgezeit um das AT sorgten dafür, daß seine Auffassung und Deutung nicht unterging; zwar nahm der Einfluß der gesetzestreuen JudenchristenJudenchristentum bald ab, dafür erstarkte die Gegnerschaft von Seiten derer, die das AT entweder ganz ausschalten oder nur abstrakt allegorisch deuten wollten, wodurch der Zusammenhang der providentiellen Weltgeschichte, die innerwirkliche Konkretheit und damit wohl auch etwas von der großen und allgemeinen Überzeugungskraft dem Christentum hätte verlorengehen müssen. In diesem Kampfe gegen die Verächter und Entleerer des AT hat sich die realprophetischeRealprophetie Methode aufs neue bewährt und seiner Geltung eben im christlichen Verheißungssinne zum Siege verholfen.

Dabei ist noch etwas anderes zu bedenken, was bei der späteren großen Ausbreitung des Christentums besonders im Westen und Norden der Mittelmeerländer von Bedeutung wurde. Das ATAltes Testament verwandelte sich, wie wir sagten, durch die FiguraldeutungFiguraldeutung aus einem Gesetzbuch und einer Volksgeschichte Israels in eine Reihe von Figuren Christi und der Erlösung, wie wir sie später in der Prophetenprozession des mittelalterlichen Theaters oder in den zyklischen Darstellungen der mittelalterlichen Plastik in West- und Mitteleuropa antreffen. In dieser Form und in diesem Zusammenhang, aus dem das Volksgeschichtliche und Volkstümliche des Jüdischen verschwunden war, konnten etwa die keltischen und germanischen Völker das AT aufnehmen; es war ein Bestandteil der allgemeinen Erlösungsreligion und ein notwendiges Stück in der ebenso großartigen wie einheitlichen Vision der Weltgeschichte, die man ihnen zugleich mit dieser Religion übermittelte. In seiner ursprünglichen Gestalt, als Gesetzbuch und Geschichte eines so fremden und fernen Volkes, wäre es ihnen unzugänglich geblieben. Dies ist freilich eine nachträgliche Erkenntnis, die wohl außerhalb des Gedankenbereichs der ersten Heidenapostel und KirchenväterKirchenväter liegt. Sie wurden auch nicht so bald auf das Problem gestoßen, da die ersten Heidenchristen zwischen den Juden der Diaspora lebten und sich, bei dem bedeutenden Einfluß derselben und der großen Aufnahmefähigkeit der damaligen hellenistischen Bevölkerung für religiöse Erfahrungen, längst mit jüdischer Geschichte und Religion vertraut gemacht hatten. Aber der Gesichtspunkt ist darum, weil man ihn nur rückschauend erkennen kann, nicht weniger wichtig. Das ATAltes Testament als jüdische Geschichte und jüdisches Gesetz ist im europäischen Christentum erst sehr spät, wohl erst nach der ReformationReformation, lebendig geworden; zunächst kam es als figura rerum oder Realprophetie, als Vorgeschichte Christi zu den neu bekehrten Völkern und vermittelte ihnen dadurch einen Grundbegriff der Weltgeschichte, der eben durch seine genaue Verknüpfung mit dem Glauben überaus eindringlich war und der fast ein Jahrtausend der einzig gültige blieb. Dadurch aber mußte die in der Figuraldeutung enthaltene Auffassungsweise zu einem der wichtigsten Aufbauelemente ihres Wirklichkeits- und Geschichtsbildes, ja ihrer Sinnlichkeit überhaupt werden. Diese Überlegung führt uns zu der zweiten der im Anfang des Kapitels gestellten Aufgaben, nämlich zu einer schärferen Bestimmung der Figuraldeutung und zu einer Abgrenzung derselben gegen andere verwandte Deutungsformen.

Die FiguraldeutungFiguraldeutung stellt einen Zusammenhang zwischen zwei Geschehnissen oder Personen her, in dem eines von ihnen nicht nur sich selbst, sondern auch das andere bedeutet, das andere hingegen das eine einschließt oder erfüllt. Beide Pole der Figur sind zeitlich getrennt, liegen aber beide, als wirkliche Vorgänge oder Gestalten, innerhalb der Zeit; sie sind beide, wie schon mehrfach betont wurde, in dem fließenden Strom enthalten, welcher das geschichtliche Leben ist, und nur das Verständnis, der intellectus spiritualis, ist ein geistiger Akt; ein geistiger Akt, der sich bei jedem der beiden Pole mit dem gegebenen oder erhofften Material des vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Geschehens zu befassen hat, nicht mit Begriffen oder Abstraktionen; diese sind durchaus sekundär, da ja auch Verheißung und Erfüllung als wirkliche und innergeschichtliche Ereignisse teils in der Fleischwerdung des Wortes geschehen sind, teils in seiner Wiederkunft geschehen werden. Zwar mischen sich in die Vorstellungen von der endgültigen Erfüllung auch reine spirituale Elemente hinein, da ja «mein Reich nicht von dieser Welt ist»; aber es wird ebenfalls ein wirkliches Reich sein, kein abstrakt unsinnliches Gebilde; diese Welt wird nur als figura vergehen, nicht ihre naturanatura (vgl. oben S. 69), und das Fleisch wird auferstehen. Insofern nun die Figuraldeutung ein Ding für das andere setzt, indem eines das andere darstellt und bedeutet, gehört sie zu den allegorischenAllegorie Darstellungsformen im weitesten Sinne. Sie ist jedoch von den meisten anderen uns sonst bekannten allegorischen Formen durch die beiderseitige Innergeschichtlichkeit sowohl des bedeutenden wie des bedeuteten Dinges klar geschieden. Die große Mehrzahl der Allegorien, die man in der Literatur oder der bildenden Kunst antrifft, stellen etwa eine Tugend (z. B. die Weisheit) oder eine Leidenschaft (Eifersucht) oder eine Institution (Recht), allenfalls die allgemeinste Synthese einer geschichtlichen Erscheinung (den Frieden, das Vaterland) dar; niemals die volle Innergeschichtlichkeit eines bestimmten Vorgangs. Solcher Art sind die Allegorien der spätantik-mittelalterlichen Tradition, die etwa von PrudentiusPrudentius’ Pyschomachie36 bis Alanus de InsulisAlain de Lille und dem Roman de la Rose reicht. Ähnlich, oder wenn man will umgekehrt, verhält es sich mit den allegorischen Ausdeutungen innergeschichtlicher Vorgänge,37 da diese gewöhnlich als verborgene Darstellungen philosophischer Lehren gedeutet werden. Von dieser Art war die allegorischeAllegorie Methode, mit der die FiguraldeutungFiguraldeutung bei der Erklärung der Bibel in ständiger Konkurrenz blieb: die Methode Philos38 und der von ihm beeinflußten alexandrinischen Katechetenschule. Sie beruht auf einer damals schon sehr alten und weit verbreiteten Überlieferung. Schon lange hatten verschiedene philosophische Schulen sich in aufklärerischer Absicht der griechischen Mythen, insbesondere HomersHomer und HesiodsHesiod bemächtigt und sie als verhüllte Darstellung des jeweils eigenen physikalisch-kosmologischen Systems gedeutet; mehrere andere Einflüsse, die nicht mehr rein aufklärerisch, sondern ethisch, mystisch und metaphysisch waren, traten später hinzu; all die vielen spätantiken Sekten und Geheimlehren pflegten die allegorische Auslegung von Mythen, Zeichen und Texten, wobei das Physikalische und Kosmologische allmählich hinter dem Moralischen und Mystischen zurücktrat. PhiloPhilo selbst, der nach jüdischer Tradition seine Philosophie als Kommentar zur Heiligen Schrift aufbaute, deutet die einzelnen Ereignisse der Schrift als die verschiedenen Phasen des Zustandes der Seele und ihres Verhältnisses zur intelligiblen Welt; in den Schicksalen Israels im ganzen wie in denen der einzelnen Gestalten scheint ihm die Bewegung der sündigen, heilsbedürftigen Seele in Fall, Hoffnung und endlicher Erlösung allegorisch enthalten zu sein. Wie man sieht, ist dies eine rein spirituale und außergeschichtliche Deutung. Sie hatte in der Spätantike sehr großen Einfluß, schon weil sie selbst nur die wohl vornehmste Form einer gewaltigen spiritualistischen BewegungSpiritualismus ist, deren Mittelpunkt Alexandria war; nicht nur Texte und Ereignisse, sondern auch die unmittelbar erscheinende natürliche Welt, wie Sterne, Tiere, Steine wurden damals ihrer sinnlichen Wirklichkeit entkleidet und allegorischAllegorie, zuweilen auch ein wenig figural gedeutet. Die spiritualistisch-moralisch-allegorische Methode ist von der alexandrinischen Katechetenschule aufgenommen worden, sie hat besonders in OrigenesOrigenes einen bedeutenden Vertreter gefunden und ist, wie bekannt, ebenso wie die figurale vom MittelalterMittelalter fortgesetzt worden. Doch ist sie, trotz mancher Mischformen, von dieser scharf geschieden. Auch sie verwandelt das Alte TestamentAltes Testament; auch in ihr verlieren Gesetz und Geschichte Israels ihr nationales und volkstümliches Gepräge; aber an deren Stelle tritt ein mystisches oder ethisches Lehrgebäude, und der Text wird in einem weit höheren Maße sinnlich entkräftet und geschichtlich entleert. Diese Art der Auslegung hat lange ihren Platz behauptet, sie hat in der Lehre vom vierfachen Schriftsinn eine der vier Bedeutungen, die moralische, ganz und gar, und oft noch eine zweite, die analogische, bestimmt. Und doch glaube ich, ohne es freilich streng beweisen zu können, daß sie selbständig, d.h. ohne die Stütze der FiguraldeutungFiguraldeutung, kaum Einfluß auf die neubekehrten Völker gewonnen hätte. Ihre Wirkung behält stets etwas Gelehrtes und Mittelbares, ja Abstruses, wenn nicht zuweilen ein einzelner bedeutender MystikerMystik sie mit Kraft erfüllt. Nach ihrer Herkunft und ihrem Wesen ist sie auf einen verhältnismäßig kleinen Kreis geistiger und eingeweihter Personen beschränkt; nur diese allein können an ihr Gefallen und in ihr Nahrung finden. Die figurale Realprophetie hingegen, mit Notwendigkeit aus einer bestimmten geschichtlichen Lage, nämlich der Ablösung des Christentums vom Judaismus und den gegebenen Bedingungen der Heidenmission zu aktueller Bedeutung erwachsen, besaß eine geschichtliche Funktion: mit der Schlagkraft, die einer einheitlichen und zielsicheren Interpretation der Weltgeschichte und der providentiellen Weltordnung innewohnt, gewann sie die Phantasie und das innerste Gefühl der Völker. Sie hat mit ihrem Erfolge zugleich auch den Weg für weniger konkrete Formen der Allegorese, wie es die alexandrinische war, geöffnet. Aber obgleich diese und andere spiritualistische Deutungsmethoden vielleicht älter sind als die figurale der Apostel und KirchenväterKirchenväter, so sind sie doch unverkennbar Spätformen, während die FiguraldeutungFiguraldeutung in ihrer lebendigen Innergeschichtlichkeit zwar gewiß nichts Primitives und Urtümliches, aber doch ein Neubeginn und eine Neugeburt der gestaltenden Kräfte war.

Außer den eben besprochenen allegorischenAllegorie gibt es noch andere Formen der Darstellung eines Dinges durch das andere, die man mit der figuralen Prophetie vergleichen könnte: nämlich die sogenannten symbolischenSymbol oder mythischen Formen, die man vielfach als charakteristisch für primitive Kulturen ansieht und die jedenfalls häufig in solchen angetroffen werden; über sie ist in letzter Zeit so viel Material zutage gefördert worden, und die sichtende Erklärung desselben ist noch so wenig abgeschlossen, daß man nur vorsichtig davon sprechen darf. Das Kennzeichnende dieser Formen, die zuerst von VicoVico, G. erkannt und beschrieben worden sind, besteht darin, daß das Bezeichnete stets etwas für die Beteiligten überaus Wichtiges, Heiliges, ihr Leben und Denken Bestimmendes sein muß und daß es im Zeichen, dem Symbol, nicht nur ausgedrückt und gleichsam nachgeahmt wird, sondern als selbst darin anwesend und enthalten gilt, so daß das SymbolSymbol stellvertretend selbst handeln und leiden kann, daß eine Einwirkung auf dasselbe einer Einwirkung auf das Symbolisierte gleichgeachtet wird und daß ihm in dieser seiner Stellung magische Kräfte zugeschrieben werden. Solche symbolische oder mythische Formen gab es noch in den Mittelmeerländern der Spätantike, allein sie hatten meist ihre magische Kraft verloren und waren zu AllegorienAllegorie abgeschwächt; ganz ähnlich wie in unseren modernen Kulturen Überreste davon weiterbestehen, etwa in den Rechtssymbolen, der HeraldikHeraldik und den Hoheitszeichen; freilich schaffen sich, was sich sowohl in der Spätantike als auch gegenwärtig gezeigt hat, neue allgemein gültige Inhalte immer wieder Symbole mit realistisch-magischer Kraft. Die symbolischen oder mythischen Formen haben manche Berührungspunkte mit der FiguraldeutungFiguraldeutung; beide erheben Anspruch auf Deutung und Ordnung des Lebens im ganzen, beide sind nur in religiösen oder verwandten Bezirken denkbar; doch fallen auch die Unterschiede sogleich ins Auge. Dem SymbolSymbol wohnt notwendig magische Kraft inne, der figura nicht; diese hingegen muß stets geschichtlich sein, das Symbol aber nicht. Selbstverständlich fehlt es auch dem Christentum nicht an magischen Symbolen; doch die figura als solche gehört nicht zu ihnen.39 In der Tat sind beide Formen überaus verschieden dadurch, daß sich die Realprophetie auf Geschichtsdeutung bezieht, ja von Haus aus Textinterpretation ist, das Symbol hingegen unmittelbare Lebens- und ursprünglich wohl meist Naturdeutung. Die FiguraldeutungFiguraldeutung ist daher in dieser Gegenüberstellung ein Erzeugnis von Spätkulturen, sehr viel mittelbarer, komplizierter, geschichtsbelasteter als das Symbol oder der Mythos; ja es eignet ihr, von hier aus gesehen, etwas Uraltes; denn es mußte erst sich eine Hochkultur vollenden, ja sie mußte schon Züge der Überalterung zeigen, bis aus der Interpretation, die selbst schon eine Überlieferung besaß, etwas wie die Figuraldeutung entstehen konnte.

Aus diesen beiden Abgrenzungen, gegen die AllegorieAllegorie einerseits und gegen die symbolischSymbol-mythischen Formen andererseits, erscheint die Figuralprophetie in einem doppelten Licht: jugendlich und neugeboren als zielsichere, gestaltende, konkrete Deutung der Weltgeschichte, uralt als späte Interpretation eines ehrwürdigen, jahrhundertelang gewachsenen, geschichtsbeladenen Textes. Das Jugendlich-Lebendige, das sie besitzt, hat ihr die fast beispiellose Überzeugungskraft verliehen, mit der sie nicht nur die Spätkulturen des Mittelmeers, sondern auch die vergleichsweise jungen Völker des Westens und Nordens gewann; das Uralte hat diesen Völkern und ihrem Geschichtsverständnis etwas eigentümlich Verschleiertes mitgegeben, um dessen schärfere Erklärung wir uns jetzt bemühen wollen. Die Figuralprophetie enthält die Deutung eines innerweltlichen Vorgangs durch einen anderen; der erste bedeutet den zweiten, der zweite erfüllt den ersten. Zwar bleiben beide innergeschichtlich geschehene Ereignisse; aber doch enthalten beide, in dieser Betrachtungsweise, etwas Vorläufiges und Unvollständiges; sie weisen aufeinander, und beide weisen auf etwas Zukünftiges, welches erst noch bevorsteht und welches erst das Eigentliche, voll und wirklich und endgültig Geschehende sein wird. Dies gilt nicht nur von der alttestamentlichen Praefiguration, die auf die Inkarnation und die Verkündung des Evangelium hindeutet, sondern auch von diesen, denn auch sie sind ja noch nicht endgültige Erfüllung, vielmehr auch ihrerseits Verheißung der Endzeit und des wahren Gottesreiches. So bleibt das Geschehen in all seiner sinnlichen Kraft doch immer Gleichnis, verhüllt und deutungsbedürftig, wenn auch die allgemeine Richtung der Deutung durch den Glauben gegeben ist. Auf diese Weise gelangt das jeweilige Weltgeschehen nicht zu der praktischen Endgültigkeit, welche sowohl der naiven wie der modern-wissenschaftlichen Auffassung von der vollzogenen Tatsache innewohnt; sondern es bleibt offen und fraglich, weist auf etwas noch Verhülltes, und die Stellung des lebenden Menschen zu ihm ist die des Geprüften, Hoffenden, Gläubigen und Wartenden. Die Vorläufigkeit des Geschehens in der figuralen Auffassung ist auch eine grundsätzlich andere als in der modernen Vorstellung von der geschichtlichen Entwicklung; denn während in dieser die Vorläufigkeit des Geschehens eine fortlaufend-allmähliche Deutung in der niemals abreißenden horizontalen Linie des weiteren Geschehens erfährt, ist in jener die Deutung jederzeit vertikal von oben zu erfragen, und die Ereignisse werden nicht in ihrer ununterbrochenen Verknüpfung untereinander, sondern voneinander abgerissen, als einzelne, im Hinblick auf ein noch ausbleibendes verheißenes Drittes betrachtet. Und während in der modernen Entwicklungsvorstellung die Tatsache jeweils selbstherrlich gesichert, die Deutung aber grundsätzlich unvollendet ist, bleibt in der FiguraldeutungFiguraldeutung die Tatsache einer im Ganzen bereits gesicherten Deutung unterworfen: sie richtet sich aus nach einem Urbild des Geschehens, das in der Zukunft liegt und bislang nur verheißen ist. Diese schon an platonisierendePlaton Gedanken erinnernde Formulierung von dem in der Zukunft liegenden Urbild, das in den Figuren nachgeahmt wird – man denke an den Ausdruck imitatio veritatis oben Seite 72 – führt uns noch weiter. Denn jenes zukünftige Urbild, obgleich noch als Geschehen unvollendet, ist bereits in Gott vollständig erfüllt und war es in seiner Vorsehung von Ewigkeit her. Die Figuren, in denen er es verhüllte, und die Inkarnation, in denen er seinen Sinn enthüllte, sind daher Prophetien eines jederzeit Bestehenden, welches nur die Menschen noch verhüllt sehen, bis der Tag kommt, an dem sie den Erlöser revelata facie geistig und sinnlich schauen werden. Die Figuren sind also nicht nur vorläufig; sie sind zugleich auch die vorläufige Gestalt eines Ewigen und Jederzeitlichen; sie deuten nicht nur auf die praktische Zukunft; sondern auf die Ewigkeit und Jederzeitlichkeit von Anbeginn an; sie weisen auf etwas zu Deutendes, das zwar in der praktischen Zukunft erfüllt werden wird, aber in der Vorsehung Gottes, in der kein Unterschied der Zeiten ist, stets schon erfüllt vorliegt; dies Ewige ist schon in ihnen figuriert, und so sind sie sowohl vorläufig-fragmentarische als auch verhüllte jederzeitliche Wirklichkeit. Das wird besonders augenfällig im Sakrament des Opfers, im Abendmahl, dem pascha nostrum, das figura Christi ist.40 Dies Sakrament, das sowohl Figur wie SymbolSymbol ist und das geschichtlich schon längst, nämlich seit seiner ersten Stiftung im alten Bunde, bestanden hat, zeigt aufs reinste zugleich das sinnlich Gegenwärtige, das verhüllt Vorläufige und das von Anbeginn Jederzeitliche, welches den Figuren innewohnt.

Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe

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