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IV. Zur Figuraldarstellung im MittelalterMittelalterFiguraldarstellung im MA

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Die figurale Deutung oder, um es vollständiger zu sagen, die figurale Auffassung des Geschehens hat nun bis ins Mittelalter, ja darüber hinaus, eine weite Verbreitung und tiefe Wirkung gehabt. Dies ist auch der Forschung nicht verborgen geblieben; nicht nur theologische Werke, die die Geschichte der Hermeneutik behandeln, sondern auch kunst- und literaturgeschichtliche Untersuchungen haben figurale Vorstellungen auf ihrem Wege angetroffen und sich mit ihnen auseinandergesetzt. Ganz besonders gilt dies natürlich für die Kunstgeschichte auf dem Gebiete der mittelalterlichen IkonographieIkonographie und für die Literaturgeschichte auf dem des mittelalterlichen geistlichen DramasDramageistliches. Doch ist das Eigentümliche des Problems, wie es scheint, nicht erkannt worden; die figurale oder typologische oder realprophetische Struktur wird von anderen, allegorischenAllegorie oder symbolischen Darstellungsformen nicht scharf unterschieden. Ein Ansatz findet sich in der lehrreichen Dissertation von T. C. GoodeGoode, T. C. über Gonzalo de BerceoBerceo, G. de, El Sacrifcio de la Misa (Washington, The Catholic University of America, 1933) und eine klare Erkenntnis des Sachverhalts, jedoch ohne Bezug auf grundsätzliche Fragen, bietet H. PflaumPflaum, H., der schon in seiner Schrift über die religiöse Disputation in der europäischen Dichtung des Mittelalters (Genève-Firenze 1935) auf das FiguralproblemMittelalterFiguraldarstellung im MA gestoßen war; er hat letzthin (Romania LXIII, 519ff.) auf Grund seines richtigen Verständnisses von figure einige vom Herausgeber mißverstandene altfranzösische Verse richtig interpretiert und den Text wiederhergestellt. Vielleicht ist mir anderes entgangen;41 eine grundsätzliche Behandlung der Frage dürfte es jedenfalls noch nicht geben, und doch scheint sie mir für die Erfassung der uns so schwer zugänglichen Mischung von Wirklichkeitssinn und Spiritualität, die das europäische Mittelalter charakterisiert, unentbehrlich.42 Die FiguraldeutungMittelalterFiguraldarstellung im MA ist bei den meisten europäischen Völkern bis ins 18. Jahrhundert wirksam gewesen; man findet ihre Spuren nicht nur bei BossuetBossuet, J. B., was selbstverständlich ist, sondern noch Jahrzehnte später bei den geistlichen Autoren, die GroethuysenGroethuysen, B. in seinem Buche über die Entstehung des bürgerlichen Geistes in Frankreich zitiert.43 Eine klare Erkenntnis ihres Wesens und damit eine klare Scheidung von verwandten, aber anders strukturierten Formen würde im ganzen das Verständnis spätantiker und mittelalterlicher Dokumente schärfen und vertiefen und auch im einzelnen manche Rätsel lösen. Sollten die Themen, die auf den altchristlichen Sarkophagen und in den Katakomben so häufig wiederkehren, nicht Auferstehungsfiguren sein? Oder, um ein Beispiel aus dem großen und bedeutenden Werke Males anzuführen, sollte die Legende der Maria Aegyptiaca, deren Darstellungen im Museum von Toulouse er beschreibt (a. a. O. p. 240ff.), nicht eine Figur des aus Ägypten ziehenden Volkes Israel sein und folglich ebenso zu deuten, wie man im Mittelalter allgemein den Psalm In exitu Israel de Aegypto deutet?

Doch mit Einzelinterpretationen ist die Bedeutung der Figuralauffassung nicht erschöpft. Wie sie der Geschichtsdeutung des Mittelalters die allgemeine Grundlage gibt, ja wie sie vielfach auch in die Erfassung der einfachen Alltagswirklichkeit hineinspielt, wird keinem, der mittelalterliche Studien treibt, verborgen bleiben. Der ganze Analogismus, der in alle Gebiete mittelalterlicher Geistestätigkeit hineinreicht, ist aufs engste mit der FiguralstrukturMittelalterFiguraldarstellung im MA verknüpft; der Mensch selbst, als Ebenbild Gottes, gewinnt in der Trinitätsdeutung, von AugustinAugustinus de trinitate bis etwa zu Thomas STh 1, 45, 7 den Charakter einer figura trinitatis. Nicht ganz deutlich ist es mir, wie weit die ästhetischen Vorstellungen figural bestimmt sind – wie weit also das Kunstwerk als figura einer noch unerreichbaren Erfüllungswirklichkeit aufgefaßt wird. Die Frage der künstlerischen Naturnachahmung hat im Mittelalter nur wenig theoretisches Interesse erregt; dafür um so mehr die Vorstellung, daß der Künstler, gleichsam als Figur des Schöpfers Gott, ein im eigenen Geiste lebendes Urbild verwirklicht.44 Das sind, wie man sieht, Gedanken neuplatonischenPlaton Ursprungs. Über die Frage, wie weit nun aber dies Urbild und das aus ihm hervorgehende Kunstwerk Figuren einer in Gott erfüllten Wirklichkeit und Wahrheit sind, habe ich aus den mir hier zur Verfügung stehenden Texten – die wichtigsten Werke der Spezialliteratur fehlen – nichts eigentlich Entscheidendes gefunden. Doch will ich einige Stellen anführen, die mir zufällig zur Hand sind und die etwas in der gedachten Richtung andeuten. L. SchradeSchrade, L. zitiert in einem Aufsatz über die Darstellung der Töne an den Kapitellen der Abteikirche zu Cluny (Dt. Vierteljahrsschr. 7, S. 264) eine Erklärung, die Remigius von AuxerreRemigius v. Auxerre für das Wort imitari gibt: scilicet persequi, quia veram musicam non potest humana musica imitari. Dem liegt doch wohl die Vorstellung zugrunde, daß es sich bei der Kunstübung um die Nachahmung oder doch die schattenhafte Figurierung einer wahren, und zwar ebenfalls sinnlichen Wirklichkeit (der Musik der himmlischen Chöre) handelt. DanteDante rühmt im Purgatorio die dort von Gott selbst geschaffenen Kunstwerke, welche Beispiele von Tugenden und Lastern darstellen, wegen ihrer vollkommen erfüllten sinnlichen Wahrheit, gegenüber der die menschliche Kunst und sogar die Natur verblassen (Purg. 10 und 12); sein Anruf an Apoll (Par. 1) enthält die Verse:

O divina virtù, se mi ti presti

Tanto che l’ombra del beato regno

Segnata nel mio capo io manifesti!

Hier wird seine Dichtung als eine seinem Geiste eingezeichnete umbraumbra der Wahrheit charakterisiert, und seine Inspirationstheorie enthält zuweilen Äußerungen, die sich im gleichen Sinne erklären lassen. Das sind alles nur Andeutungen; eine Untersuchung, die das Verhältnis neuplatonischer und figuraler Motive in der mittelalterlichen Ästhetik zu klären versuchte, müßte auf breiterer Materialgrundlage aufbauen. Man wird aber aus diesen Ausführungen doch soviel entnommen haben, daß es sehr förderlich ist, die figurale Struktur grundsätzlich von anderen bildlichen Formen zu scheiden. Im groben kann man behaupten, daß die figurale Methode in Europa auf christliche, die allegorischeAllegorie auf heidnisch-antike Einflüsse zurückgeht, und daß auch die eine zumeist auf christliche, die andere eher auf antike Stoffe angewandt wird. Man wird sogar nichts Falsches sagen, wenn man die figurale AuffassungMittelalterFiguraldarstellung im MA als die überwiegend christlich-mittelalterliche bezeichnet, während die allegorische, die auf spätantike heidnische oder nicht innerlich christianisierte Autoren als Vorbilder zurückgreift, dann besonders hervorzutreten geneigt ist, wenn antike, heidnische oder doch stark weltliche Einflüsse erstarken. Doch sind solche Feststellungen zu allgemein und ungenau, da die Fülle der Erscheinungen, in denen sich während eines Jahrtausends die Kulturen durchdringen, solche einfachen Einteilungen nicht zuläßt. Schon sehr früh werden auch profane und heidnische Stoffe figural gedeutet; Gregor von ToursGregor v. Tours zum Beispiel benutzt die Siebenschläferlegende als Figur der Auferstehung, ganz ebenso wie sonst die Erweckung des Lazarus oder Jonas’ Errettung aus dem Walfisch in diesem Sinne gedeutet werden. Im hohen Mittelalter werden die Sybille, VergilVergil und die Gestalten der Aeneis, ja sogar Personen aus dem bretonischen Sagenkreise (z. B. Galaad in der Queste del Saint Graal) in die figurale Deutung einbezogen, und es entstehen die mannigfachsten Kreuzungen aus figuralenMittelalterFiguraldarstellung im MA, allegorischenAllegorie und symbolischen Formen. Alle diese Formen finden sich auch, auf antike so gut wie auf christliche Stoffe bezogen, in dem Werke, das die mittelalterliche Kultur abschließt und zusammenfaßt, der Göttlichen Komödie. Daß aber dabei grundsätzlich die figuralen Formen vorwiegen und für die gesamte Struktur des Gedichts entscheidend sind, will ich nun zu zeigen versuchen.

Am Fuße des Purgatorioberges treffen DanteDante und VergilVergil einen alten Mann von ehrfurchtgebietendem Aussehen, dessen Antlitz von den vier Sternen, die die Kardinaltugenden bedeuten, sonnengleich bestrahlt wird. Er fragt sie streng nach der Rechtmäßigkeit ihres Weges, und aus VergilsVergil respektvoller Antwort – er hat zunächst DanteDante veranlaßt, vor jenem niederzuknieen – geht hervor, daß es Cato von UticaCato v. Utica ist. Denn nachdem VergilVergil ihm seinen göttlichen Auftrag mitgeteilt hat, fährt er auf folgende Weise fort:

Or ti piaccia gradir la sua venuta;

Libertà va cercando ch’è si cara,

Come sa che per lei vita rifiuta.

Tu ’1 sai chè non ti fu per lei amara

In Utica la morte, ove lasciasti

La veste ch’al gran di sarà si chiara. (Purg. I, 70–75)

Alsdann beschwört er seine Gunst noch bei dem Andenken an seine einstige Gattin MarciaMarcia. Cato weist dies letztere mit unverminderter Strenge zurück; der Wunsch der donna del ciel (Beatrice) genüge: und er befiehlt, daß vor dem Aufstieg DantesDante Gesicht vom Höllenqualm gesäubert und er mit einem Schilfrohr gegürtet werde. Cato erscheint dann noch einmal, am Ende des zweiten Gesanges, wo er die eben am Fuße des Berges gelandeten Seelen, die sich selbst vergessend dem Gesange Casellas lauschen, mit strengen Worten an ihren Weg mahnt.

Cato von UticaCato v. Utica also ist es, den Gott hier zum Wächter am Fuße des Purgatorio bestellt hat: einen Heiden, einen Feind Cäsars, einen Selbstmörder. Das ist sehr erstaunlich, und schon die ältesten Kommentatoren, wie BenvenutoBenvenuto da Imola von Imola, haben sich darüber gewundert. Nur sehr wenige Heiden erwähnt DanteDante, die durch Christus aus der Hölle befreit wurden; und nun ist unter ihnen ein Feind Cäsars, dessen Bundesgenossen, die Cäsarmörder, neben Judas im Rachen Lucifers stecken, und der als Selbstmörder doch nicht weniger schuldig zu sein scheint als jene «Gewalttätigen gegen sich selbst», die für die gleiche Sünde im siebenten Höllenkreise auf das schrecklichste leiden. Das Rätsel löst sich durch die Worte VergilsVergil, der von DanteDante sagt, er suche Freiheit, die so teuer ist, wie du es wohl weißt, der für sie das Leben verschmäht hat. Die Geschichte Catos ist aus ihrem irdisch-politischen Zusammenhang herausgenommen, genau wie es die patristischen Erklärer des Alten TestamentsAltes Testament mit den einzelnen Geschichten Isaacs und Jacobs u. a. taten, und sie ist zur figura futurorum geworden. Cato ist eine figura, oder vielmehr der irdische Cato, der in Utica für die Freiheit dem Leben entsagte, war es, und der hier erscheinende Cato im Purgatorio ist die enthüllte oder erfüllte FigurMittelalterFiguraldarstellung im MA, die Wahrheit jenes figürlichen Vorgangs. Denn die politische und irdische Freiheit, für die er starb, ist nur umbra futurorum gewesen: eine Präfiguration jener christlichen Freiheit, als deren Hüter er hier bestellt ist und um derentwillen er auch hier jeder irdischen Versuchung widersteht; jener christlichen Freiheit von jedem bösen Triebe, die zur echten Herrschaft über sich selbst führt, eben jener, die zu erringen DanteDante mit dem Schilf der Demut gegürtet wird, bis er sie, auf dem Gipfel des Berges, wirklich errungen hat und von VergilVergil zum Herren über sich selbst gekrönt wird. Es ist die ewige Freiheit der Kinder Gottes, für die alles Irdische zu verschmähen ist; die Befreiung der Seele von der Knechtschaft der Sünde, als deren figura Catos freiwillige Wahl des Todes vor der politischen Knechtschaft hier eingeführt wird. Wie DanteDante dazukam, Cato für diese Rolle zu wählen, erklärt sich aus der gleichsam überparteilichen Stellung, die jener bei den römischen Schrifststellern als Idealbild von Tugend, Gerechtigkeit, Frömmigkeit und Freiheitsliebe besaß. DanteDante fand sein Lob gleichmäßig bei CiceroCicero, VergilVergil, LucanLukan, SenecaSeneca (Philosoph) und Valerius MaximusValerius Maximus; insbesondere das vergilische secretosque pios, his dantem iura Catonem (Aen. 8, 670), zumal bei einem Dichter des Imperiums, muß großen Eindruck auf ihn gemacht haben. Wie sehr er CatoCato v. Utica bewunderte, geht aus mehreren Stellen des Convivio hervor, und daß sein Freitod auf eine besondere Weise zu beurteilen sei, fand er schon bei CiceroCicero ausgesprochen, an einer Stelle, die er in der Monarchie (2, 5) zitiert,45 und zwar in dem für ihn so bedeutenden Zusammenhang der Beispiele römischer politischer Tugend; er will dort zeigen, daß die römische Herrschaft durch ihre Tugend rechtmäßig sei, daß sie dem Recht und der Freiheit der ganzen Menschheit diene; es ist das Kapitel, in dem der Satz steht: Romanum imperium de fonte nascitur pietatis.46

DanteDante glaubt an eine vorbestimmte Konkordanz zwischen der christlichen Heilsgeschichte und der römischen Weltmonarchie; es ist also gerade bei ihm nicht verwunderlich, daß er die FiguraldeutungFiguraldeutung auf einen heidnischen Römer anwendet – er nimmt seine SymboleSymbol, AllegorienAllegorie und Figuren auch sonst aus diesen beiden Welten ohne Unterschied. CatoCato v. Utica ist ohne Zweifel eine figura; nicht wie die Gestalten des RosenromansRosenroman eine Allegorie, sondern eine Figur in dem von uns beschriebenen Sinne, und zwar eine erfüllte, bereits Wahrheit gewordene Figur. Die Komödie ist eine Vision, die die figurale Wahrheit als schon erfüllt sieht und verkündet, und eben dies ist das Eigentümliche an ihr, daß sie die in der Vision geschaute Wahrheit ganz im Sinne der FiguraldeutungMittelalterFiguraldarstellung im MA auf eine genaue und konkrete Weise mit den irdisch-geschichtlichen Vorgängen verbindet. Die Gestalt Catos, als eines strengen, gerechten und frommen Mannes, der in einem bedeutenden Augenblick seines Geschicks und der providentiellen Weltgeschichte die Freiheit höher geachtet hat als das Leben, wird in ihrer vollen geschichtlichen und persönlichen Kraft erhalten; es wird daraus keine AllegorieAllegorie der Freiheit, sondern es bleibt Cato von Utica, so wie DanteDante ihn als persönlich-einmaligen Menschen sah; aber er wird aus der irdischen Vorläufigkeit, in der er die politische Freiheit als höchstes Gut ansah, wie die Juden die strenge Bewahrung des Gesetzes, herausgehoben in den Zustand endgültiger Erfüllung, wo es nicht mehr sich um irdische Werke der Bürgertugend oder des Gesetzes handelt, sondern um das ben dell’intelletto, das höchste Gut, die Freiheit der unsterblichen Seele im Anblick Gottes.

Versuchen wir das gleiche in einem etwas schwierigeren Falle. VergilVergil ist von fast allen alten Kommentatoren als AllegorieAllegorie der Vernunft gesehen worden – der menschlichen und natürlichen Vernunft, die zur rechten irdischen Ordnung führt, das heißt, nach DantesDante Auffassung, zur Weltmonarchie. Den alten Kommentatoren schien eine rein allegorische Deutung nicht anstößig, denn sie empfanden nicht, wie wir, einen Gegensatz zwischen Allegorie und echter Dichtung. Die modernen Interpreten haben sich vielfach dagegen gesträubt und auf das Dichterische, Menschliche, Persönliche der Gestalt VergilsVergil Wert gelegt, ohne doch das «Bedeutsame» daran leugnen und es einwandfrei mit dem Menschlichen in Übereinstimmung bringen zu können. Neuerdings hat sich, und zwar nicht nur für VergilVergil, von verschiedenen Seiten (etwa einerseits L. Valli, andererseits MandonnetMandonnet, P.) wieder eine starke Betonung des rein Allegorischen oder Symbolischen geltend gemacht, die den historischen Sinn als «positivistischPositivismus» oder «romantisch» auszuschalten bemüht ist. Aber hier ist kein Entweder-Oder zwischen geschichtlichem und verborgenem Sinn; es ist eines und das andere. Es ist die figurale StrukturMittelalterFiguraldarstellung im MA, die den geschichtlichen Vorgang bewahrt, indem sie ihn enthüllend deutet, und die ihn nur dadurch deuten kann, daß sie ihn bewahrt.

Der geschichtliche VergilVergil ist, in DantesDante Augen, zugleich Dichter und Führer. Er ist als Dichter ein Führer, weil in seinem Gedicht die politische Ordnung, die DanteDante als die vorbildliche, als die terrena Jerusalem47 ansieht, der allgemeine Frieden unter dem römischen Kaisertum, in der Unterweltsfahrt des gerechten Aeneas prophezeit und verherrlicht wird; weil darin die Gründung Roms, des vorbestimmten Sitzes von weltlicher und geistiger Gewalt, im Hinblick auf seine zukünftige Mission besungen wird. Er ist vor allem auch als Dichter ein Führer deshalb, weil alle späteren großen Dichter von seinem Werke entzündet und inspiriert wurden; das hebt DanteDante nicht nur für sich selbst hervor, sondern führt noch einen zweiten Dichter ein, StatiusStatius, um dasselbe auf die eindringlichste Weise zu bekunden: auch in der Begegnung mit SordelloSordello und vielleicht auch in dem vielumstrittenen Vers über Guido CavalcantiCavalcanti, G. (Inf. 10, 63) klingt das gleiche Motiv an. Sodann ist VergilVergil als Dichter ein Führer, weil er über seine zeitliche Prophezeiung hinaus auch die ewige überzeitliche Ordnung, das Erscheinen Christi, das mit der Erneuerung der zeitlichen Welt zusammenfiel, in der vierten Ekloge verkündet hat – freilich ohne die Bedeutung seiner eigenen Worte zu ahnen, aber doch so, daß die Nachfolgenden sich an diesem Lichte entzünden konnten. Er war ferner als Dichter ein Führer, weil er das Totenreich beschrieben hatte – also ein Führer ins Totenreich, der den Weg kennt. Aber nicht nur als Dichter, auch als Römer und als Mensch war er zur Führung bestimmt; nicht nur die schöne Rede, nicht nur hohe Weisheit stehen ihm zu Gebot, sondern eben die Eigenschaften, die zur Führung befähigen, die seinen Helden Aeneas und Rom überhaupt auszeichnen: iustitiaiustitia und pietaspietas. Die Fülle der irdischen Vollkommenheit, die zur Führung befähigt und bestimmt, bis dicht an die Grenze der Einsicht in die göttliche und ewige Vollkommenheit, ist für DanteDante schon im geschichtlichen VergilVergil verkörpert, und dieser ist ihm eine figura für die nun im Jenseits erfüllte Gestalt des Dichter-Propheten als Führer. Der geschichtliche VergilVergil wird «erfüllt» von dem Bewohner des limbo, dem Genossen der großen antiken Dichter, der auf Beatrices Wunsch DantesDante Führung übernimmt. So wie er einst, als Römer und Dichter, Aeneas nach göttlichem Ratschluß in die Unterwelt steigen ließ, damit er das Schicksal der römischen Welt erfahre, so wie sein Werk zum Führer der Nachlebenden wurde, so wird er nun von den himmlischen Gewalten zu einer nicht minder bedeutenden Führung aufgerufen: denn es ist nicht zu bezweifeln, daß DanteDante sich selbst in einer Mission sieht, die ebenso bedeutend ist wie die des Aeneas: er ist berufen, der Welt, die aus den Fugen ist, die rechte Ordnung zu verkünden, die ihm auf seinem Wege offenbart wird. Und VergilVergil ist berufen, ihm die wahre irdische Ordnung, deren Gesetze im Jenseits vollstreckt, deren Wesen dort erfüllt ist, zu zeigen und zu deuten – zugleich mit der Richtung auf ihr Ziel, die himmlische Gemeinschaft der Glückseligen, die er in seiner Dichtung geahnt hat – aber doch nicht bis in das Innere des Gottesreiches hinein, denn der Sinn seiner Ahnung ist ihm während seines irdischen Lebens nicht offenbart worden, und er ist ohne solche Erleuchtung als ein Ungläubiger gestorben; und so will Gott nicht, daß man durch ihn in sein Reich kommt; nur bis an die Schwelle des Reiches, nur bis zu jener Grenze, die seine gerechte und edle Dichtung zu erkennen vermochte, darf er DanteDante führen. «Du zuerst», so sagt StatiusStatius zu VergilVergil, «hast mir den Weg zum Parnaß und zu seinen Quellen gezeigt; und dann hast du mich, nächst Gott, erleuchtet. Du hast getan wie einer, der durch die Nacht geht und das Licht hinter sich trägt; sich selbst hilft er nicht, aber er belehrt die Nachkommenden. Durch dich ward ich Dichter, durch dich Christ.»48 Und so, wie er als irdische Gestalt und Wirkung StatiusStatius zum Heil geführt hat, so führt er nun, als erfüllte Figur, DanteDante: denn auch DanteDante hat von ihm den schönen Stil der Dichtung empfangen, durch ihn wird er vom ewigen Verderben gerettet und auf den Weg des Heils geleitet; und wie er einst StatiusStatius erleuchtete, ohne selbst das Licht, das er trägt und verkündet, zu sehen, so führt er jetzt DanteDante bis an die Schwelle des Lichts, von dem er nun zwar weiß, das er aber selbst nicht schauen darf.

VergilVergil ist also nicht die AllegorieAllegorie einer Eigenschaft oder Tugend oder Fähigkeit oder Kraft oder auch einer geschichtlichen Institution. Er ist weder die Vernunft noch die Dichtung noch das Kaisertum. Er ist VergilVergil selbst. Aber er ist es freilich nicht in der Weise, wie spätere Dichter eine menschliche Gestalt in ihrer innergeschichtlichen Verstrickung wiederzugeben versucht haben: etwa wie ShakespeareShakespeare, W. den CaesarCaesar oder SchillerSchiller, F. den WallensteinWallenstein, A. v.. Diese zeigen ihre geschichtlichen Gestalten in ihrem irdischen Leben selbst, sie lassen vor unseren Augen eine bedeutende Epoche jenes Lebens wiedererstehen und versuchen aus ihm selbst seinen Sinn zu deuten. Für DanteDante ist der Sinn eines jeden Lebens gedeutet, es hat seinen Ort in der providentiellen Weltgeschichte, die ihm in der Vision der Komödie gedeutet wird, nachdem sie in ihren allgemeinen Zügen schon in der jedem Christen zuteilgewordenen Offenbarung enthalten ist. So ist VergilVergil in der Komödie zwar der geschichtliche VergilVergil selbst, aber er ist es auch wieder nicht mehr; denn der geschichtliche ist nur figura der erfüllten Wahrheit, die das Gedicht offenbart, und diese Erfüllung ist mehr, ist wirklicher, ist bedeutender als die figura. Ganz anders als bei den modernen Dichtern ist bei DanteDante die Gestalt um so wirklicher, je vollständiger sie gedeutet, je genauer sie in den ewigen Heilsplan eingeordnet ist. Und ganz anders als bei den antiken Dichtern der Unterwelt, die das irdische Leben als wirkliches, das unterirdische als schattenhaftes gaben, ist bei ihm das Jenseits die echte Wirklichkeit, das Diesseits nur umbra futurorum – freilich aber ist die umbra die Praefiguration der jenseitigen Wirklichkeit und muß in ihr sich vollständig wiederfinden.

Denn was hier von CatoCato v. Utica und VergilVergil gesagt wurde, gilt von der Komödie im ganzen. Sie ist ganz und gar auf figuraler Anschauung gegründet. In meiner Untersuchung über DanteDante als Dichter der irdischen Welt (1929) habe ich zu zeigen versucht, daß DanteDante es in der Komödie unternommen hat, «die gesamte irdisch-historische Welt … als schon dem endgültigen Urteil Gottes unterworfen und somit an ihren eigentlichen, ihr nach dem göttlichen Urteil zukommenden Platz gestellt, als schon gerichtet vorzustellen, und zwar so, daß er die einzelnen Gestalten … nicht etwa ihres irdischen Charakters beraubt oder ihn abschwächt, sondern indem er die äußerste Steigerung ihres individuellen irdisch-historischen Wesens festhält und sie mit dem Endgeschick identifiziert» (S. 108). Für diese Auffassung, die schon bei HegelHegel, G. W. F. zu finden ist und auf der meine Interpretation der Komödie beruhte, fehlte mir damals die genaue geschichtliche Grundlage; sie ist in den einleitenden Kapiteln des Buches mehr geahnt als erkannt. Diese Grundlage glaube ich jetzt gefunden zu haben; es ist eben die FiguraldeutungFiguraldeutung der Wirklichkeit, die im europäischen Mittelalter, wenn auch in ständigem Kampf gegen reine spiritualistischeSpiritualismus und neuplatonischePlaton TendenzenNeuplatonismus, die Anschauung beherrschte: daß das irdische Leben zwar durchaus wirklich sei, von der Wirklichkeit jenes Fleisches, in das der Logos einging, aber in all seiner Wirklichkeit doch nur umbra und figura des Eigentlichen, Zukünftigen, Endgültigen und Wahren, welches, die Figur enthüllend und bewahrend, die wahre Wirklichkeit enthalten werde. Auf diese Art wird jedes irdische Geschehen nicht als eine endgültige, sich selbst genügende Wirklichkeit angesehen, auch nicht als Glied in einer Entwicklungskette, wo aus einem Ereignis oder aus dem Zusammenwirken mehrerer immer wieder neue Ereignisse entspringen, sondern es wird zunächst im unmittelbaren vertikalen Zusammenhang mit einer göttlichen Ordnung betrachtet, in der es enthalten ist und die selbst eines künftigen Tages geschehende Wirklichkeit sein wird; und somit ist das irdische Ereignis Realprophetie oder figura eines Teiles zukünftig geschehender, unmittelbar vollendet göttlicher Wirklichkeit. Diese aber ist nicht nur zukünftig, sondern in Gottes Auge und im Jenseits jederzeit gegenwärtig, so daß dort jederzeit, oder auch zeitlos, die enthüllte und wahre Wirklichkeit vorhanden ist. DantesDante Werk ist der Versuch einer zugleich dichterischen und systematischen Erfassung der gesamten Weltwirklichkeit in solchem Lichte. Dem in der irdischen Verwirrung vom Untergang Bedrohten, so ist der Rahmen der Vision, kommt die Gnade der himmlischen Kräfte zu Hilfe. Von früher Jugend an war er besonderer Gnade teilhaftig, weil er zu besonderer Aufgabe bestimmt war; früh schon hatte er in einem lebenden Wesen, in Beatrice – und hier spielen, wie so oft, Figuralstruktur und NeuplatonismusNeuplatonismusPlaton ineinander – die inkarnierte Offenbarung sehen dürfen, die ihn, wenn auch verhüllt, schon als Lebende durch den Gruß ihrer Augen und ihres Mundes und als Sterbende auf eine nicht ausgesprochene, geheimnisvolle Weise auszeichnete.49 Die Gestorbene und nun Selige, die für ihn die inkarnierte Offenbarung war, findet für den Verirrten die einzige Rettung, die es noch gibt; sie ist mittelbar, und im Paradiese unmittelbar, seine Führerin, die ihm die enthüllte Ordnung, die Wahrheit der irdischen Figuren zeigt. Was er in den drei Reichen sieht und lernt, ist wahre, konkrete Wirklichkeit, und zwar eben von der Art, daß darin die irdische figura enthalten und gedeutet ist; indem er, noch als Lebender, die erfüllte Wahrheit sieht, wird er selbst gerettet und zugleich fähig, der Welt das Gesehene zu verkünden und sie auf den rechten Weg zu weisen.

Die Einsicht in den figuralen CharakterAllegorie u. Figuration der Komödie bietet zwar gewiß keine allgemein gültige Verfahrensweise für die Deutung jeder strittigen Stelle, allein es lassen sich doch aus ihr einige Grundsätze für die Deutung herleiten. Man darf sicher sein, daß jede in dem Gedicht erscheinende geschichtliche oder mythologische Gestalt nur etwas bedeuten kann, was mit dem, was DanteDante von ihrer geschichtlichen oder mythischen Existenz wußte, in engstem Zusammenhang steht, und zwar in dem Zusammenhang von Erfüllung und Figur; man wird sich immer davor hüten müssen, ihr die irdisch-geschichtliche Existenz ganz abzusprechen und ihr eine nur begrifflich-allegorische Deutung zu geben. Das gilt insbesondere für Beatrice. Nachdem im 19. Jahrhundert die romantisch-realistische Auffassung den Menschen Beatrice allzusehr betont hatte und geneigt war, aus der Vita Nova etwas wie einen sentimentalen Roman zu machen, hat nun ein Rückschlag eingesetzt, und man bemüht sich, immer genauere theologische Begriffe zu finden, in denen sie ganz aufgehen soll. Allein auch hier ist kein Entweder-Oder. Der Litteralsinn oder die historische Wirklichkeit einer Gestalt steht bei DanteDante nicht im Widerspruch zu ihrer tieferen Bedeutung, sondern figuriert sie; die historische Wirklichkeit wird durch die tiefere Bedeutung nicht aufgehoben, sondern bestätigt und erfüllt. Die Beatrice der Vita Nova ist eine irdische Gestalt; wirklich erschien sie DanteDante, wirklich grüßte sie ihn, wirklich verweigerte sie ihm später den Gruß, verspottete ihn, klagte um eine tote Freundin und um den Vater, und wirklich starb sie. Freilich kann es sich bei dieser Wirklichkeit nur um eine Erlebniswirklichkeit DantesDante handeln – denn ein Dichter formt und verwandelt das ihm Geschehende in seinem Bewußtsein, und nur von dem, was in diesem Bewußtsein lebt, nicht von einer äußeren Wirklichkeit, ist auszugehen. Und ferner ist zu berücksichtigen, daß auch die irdische Beatrice für DanteDante vom ersten Tage ihres Erscheinens an ein vom Himmel gesandtes Wunder ist, eine Inkarnation göttlicher Wahrheit. Das Wirkliche ihrer irdischen Gestalt ist also nicht, wie bei VergilVergil oder Cato, bestimmten Daten einer geschichtlichen Überlieferung, sondern der eigenen Erfahrung entnommen, und diese Erfahrung zeigte ihm die irdische Beatrice als Wunder.50 Aber eine Inkarnation, ein Wunder sind wirklich geschehende Dinge; Wunder geschehen nur auf Erden, und Inkarnation ist Fleisch. Bei den modernen Forschern hat die Fremdartigkeit der mittelalterlichen Wirklichkeitsanschauung dahin geführt, daß sie Figuration und AllegorieFiguration u. AllegorieAllegorie u. Figuration nicht von einander scheiden und zumeist nur die letztere verstehen.51 Selbst ein so kluger theologischer Interpret wie MandonnetMandonnet, P. (a. a. O. S. 218/219) kennt nur zwei Möglichkeiten: entweder ist Beatrice eine bloße Allegorie (und dies ist seine Meinung), oder aber sie ist la petite Bice Portinari, worüber er sich lustig macht. Ganz abgesehen von der Verkennung des Wesens der dichterischen Wirklichkeit, die in solchem Urteil liegt, ist es vor allem erstaunlich, daß er zwischen Wirklichkeit und Bedeutsamkeit eine so tiefe Kluft sieht. Ist denn die terrena Jerusalem darum keine geschichtliche Wirklichkeit, weil sie figura aeternae Jerusalem ist?

In der Vita Nova ist also Beatrice ein lebender Mensch aus DantesDante Erfahrungswirklichkeit – wie sie ja auch in der Komödie kein intellectus separatus, kein Engel, sondern ein seliger Mensch ist, dem am Jüngsten Tag sein Leib auferstehen wird. Übrigens gibt es keinen theologischen Schulbegriff, der sie wirklich ganz umfaßte; manche Ereignisse der Vita Nova passen in keine Allegorie, und für die Komödie kommt noch die Schwierigkeit hinzu, sie gegen manche andere Gestalten des Paradiso, etwa die prüfenden Apostel oder den heiligen Bernhard, genau abzugrenzen. Das Besondere ihres Verhältnisses zu DanteDante läßt sich auf diese Art schon gar nicht befriedigend erfassen. Die älteren Erklärer haben in Beatrice meist die Theologie gesehen, die neueren sind viel genauer vorgegangen; allein dies führt zu Überspitzung und zu Irrtümern: selbst MandonnetMandonnet, P., der den sehr weiten, aus dem Gegensatz zu VergilVergil geschöpften Begriff ordre surnaturel auf sie anwendet, wird dann allzu spitzfindig in den Unterabteilungen, begeht Irrtümer52 und preßt die Begriffe. Was DanteDante ihr für eine Rolle zuschreibt, wird aus ihren Handlungen und den Bezeichnungen ihrer Person ganz deutlich. Sie ist Figur oder Inkarnation der Offenbarung (Inf. 2, 76 sola per cui l’umana specie eccede ogni contento da quel ciel che ha minor li cerchi sui. – Purg. 6, 45 che lume fia tra il vero e l’intelletto), welche die göttliche Gnade aus Liebe (Inf. 2, 72) dem Menschen sendet, ihn zu retten, und die ihm Führerin zur visio Dei wird. Daß es sich eben um eine Inkarnation der göttlichen Offenbarung handelt, nicht um die Offenbarung schlechthin, das vergißt Mandonnet zu sagen, obgleich er die entsprechenden Stellen aus der Vita Nova und aus Thomas zitiert, dabei auch die oben erwähnte Anrede o Donna di virtù, sola per cui usw. Die «übernatürliche Ordnung» als solche kann man so nicht anreden, sondern nur die inkarnierte Offenbarung derselben, also denjenigen Teil des göttlichen Heilsplans, welcher eben das Wunder ist, durch das die Menschen über alle anderen irdischen Geschöpfe erhoben sind. Beatrice ist Inkarnation, ist figura oder idolo Christi (ihre Augen spiegeln seine Doppelnatur, Purg. 31, 126) und also zugleich auch ein Mensch. Ihr Menschentum ist mit solchen Erklärungen natürlich keineswegs erschöpft; sie steht zu DanteDante in einer Beziehung, die sich durch dogmatische Betrachtungen nicht völlig ausdrücken läßt. Unsere Ausführungen sollen nur zeigen, daß die stets nützliche und unentbehrliche theologische Deutung uns durchaus nicht zwingt, die geschichtliche Wirklichkeit Beatrices aufzugeben – im Gegenteil.

Damit schließen wir für dies Mal unsere Untersuchung über figura. Ihre Absicht war zu zeigen, wie ein Wort aus seiner Bedeutungsentwicklung heraus in eine weltgeschichtliche Lage hineinwachsen kann und wie sich alsdann daraus Strukturen entwickeln, die für viele Jahrhunderte wirksam sind. Jene weltgeschichtliche Lage, die PaulusPaulus (Apostel) zur Heidenmission trieb, hat die FiguraldeutungFiguraldeutung ausgebildet und sie zu der Wirksamkeit vorbereitet, die sie in der Spätantike und im Mittelalter entfaltet.

Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe

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