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Der Falke
ОглавлениеErst gegen Abend kehrte Winner in sein Haus zurück. Es dämmerte schon und wie auf Kommando wurde er von Cäsar mit Gebell begrüßt.
„Ja“, sagte Winner, „pass du nur gut auf mein Haus auf.“
Und auch jetzt meinte Winner eine ganz leichte Bewegung der Gardine im Nachbarhaus bemerkt zu haben. Er setzte sich noch ein bisschen auf die Terrasse, um die Abendluft zu genießen. Was gibt es doch für neugierige Leute, dachte er dabei. Stehen den ganzen Tag hinter dem Fenster um alles mitzubekommen, was im Nachbargarten passiert. Na gut, es kommt sicher nicht alle Tage vor, dass der Nachbar von der Polizei abgeholt wird. Aber sonst hatte er bisher doch nicht viel zu bieten gehabt, oder?
Winner öffnete noch eine Flasche von dem guten Lanzarotewein und genehmigte sich zwei Gläser. Warum auch nicht? Jetzt war er ein von der spanischen Polizei anerkannter Ganove mit Aufenthaltsgenehmigung auf Lanzarote. Was wollte er mehr? Unter dem Etikett würde ihn kein deutscher Kollege suchen. Und das war schließlich Sinn der ganzen Aktion.
Am nächsten Morgen war der Falke wieder da. Aber dieses Mal saß er nicht auf der hinteren Dachkante, sondern vorne am Rand oberhalb der Terrasse. Als er Winner erblickte, legte er sofort mit seinem Geschrei los. Scheint ihm geschmeckt zu haben, dachte Winner, ging an den Kühlschrank, schnitt sicherheitshalber gleich drei Stückchen vom Putenfleisch ab und begann mit der Fütterung. Der Falke reagierte sofort. Winner warf das Fleisch hoch, der Falke stürzte sich vom Dach und griff sich die vermeintliche „Beute“ im Flug. Ich werde ihn „Otto“ nennen, dachte Winner. Und bevor er das zweite Stück hochwarf rief er: „Otto!“
Winner erinnerte sich an seine Zeit in Deutschland, als er junge Kollegen ausgebildet und ihnen dabei das Beispiel vom „Falken“ erzählt hatte. Und er wusste, dass sie ihn deshalb hinter seinem Rücken den „Falken“ nannten. Na ja, ein Schimpfwort war es ja gerade nicht, eher ein Kompliment, wenn man als Kriminalkommissar mit einem Falken verglichen wurde. Und während er Otto beim Fressen zusah dachte er darüber nach, wie es wäre, wenn man tatsächlich so lautlos wie ein Falke über seiner Beute schweben könnte. Ja, ein Hubschrauber konnte zwar wie ein Rötelfalke auf der Stelle schweben, aber nur unter Entwicklung einer enormen Lautstärke. Und das würde jede Observation unmöglich machen.
Als er das dritte Stück Fleisch hochwarf rief er: „Zugriff!“ Und Otto stürzte sich sofort auf seine Beute.
Nach dem Frühstück war er mit dem Fahrrad im Barranca de Tenegüime unterwegs. So nennt sich ein einsames unbewohntes Gebiet im Hinterland von Guatiza.
Plötzlich bemerkte er im Vorbeifahren einen Schriftzug auf der Asphaltstraße. Er fuhr zurück, hielt an und besah sich die Schrift, konnte sie aber nicht entziffern. Es waren keine lateinischen Buchstaben, aber auch keine griechischen oder kyrillischen. Am ehesten erinnerte es an arabische Schriftzeichen. Vielleicht war es aber auch gar keine Schrift, sondern nur ein Symbol oder ein Hinweis. Linker Hand führte ein Feldweg aus Lavaschotter ins Gelände. Er mochte diese Wege nicht. Sie waren schwer zu befahren und wenn man im Gefälle bremsen musste, kam man leicht ins Rutschen und konnte stützen. Aber jetzt war sein Interesse geweckt und er bog ab. Zunächst geschah gar nichts. Der Weg schlängelte sich schier endlos durch das Gelände. Hier wuchs kaum etwas. Gerade mal ein paar Flechten auf den Steinen, oder kleine Wolfsmilchbüsche und Steinbrechgewächse.
Aber dann fielen ihm ein paar größere Bäume auf, die abseits in einem kleinen Tal standen. Das war sehr ungewöhnlich für diese ansonsten recht trostlose Gegend.
Er stellte sein Rad ab und folgte einem schmalen Fußweg. Als er näher kam, sah er, dass sich unter den Bäumen ein kleines Haus duckte. Es war im Grunde ein viereckiger Kasten mit einem flachen Dach und einem angebauten Wasserspeicher, so wie man sie auf Lanzarote häufig außerhalb der Orte in den unbebauten Gebieten findet. Die Bäume waren groß und schienen schon einige Jahre alt zu sein. Auf Lanzarote werden Palmen und Drachenbäume gerne rund um alleinstehende Häuser gepflanzt. Einerseits schützen sie vor dem Wind, der meist heftig aus nördlicher Richtung weht, und andererseits geben sie Schatten gegen die starke Sonneneinstrahlung.
Das Haus war anscheinend schon lange nicht mehr bewohnt. Die zwei Fenster waren mit Brettern zugenagelt und die ehemalige Eingangstür war durch ein eisernes verrostetes Garagentor ersetzt worden. Daneben war an der weißen Wand das gleiche eigenartige Schriftzeichen zu erkennen, das Winner oben auf der Straße gesehen hatte. Er bemühte noch einmal sein photographisches Gedächtnis und prägte sich die Schrift ein. So war er in der Lage, später dieses Bild erneut aus seinem Gedächtnis abzurufen. Diese Fähigkeit hatte ihm früher bei seinen Ermittlungen sehr oft geholfen. Aber in letzter Zeit fiel es ihm immer schwerer. Heute wollte er es noch einmal wissen.
Wer mochte früher hier in dieser Wildnis gewohnt haben? Ein Bauer sicher nicht, denn für landwirtschaftlichen Anbau eignete sich die Gegend ganz und gar nicht. Vielleicht ein Hirte, der mit seinen Schafen und Ziegen durch die Wildnis gestreift ist, dachte er. Oder ein Einsiedler, ein Eremit, der sich bewusst hierher in die Einöde zurückgezogen hatte.
Winner zog es vor dem Weg nicht weiter zu folgen. Er wendete und erreichte nach wenigen Minuten wieder die Straße. Und tatsächlich: das Zeichen auf dem Asphalt stimmte genau mit dem Zeichen an der Hauswand überein. Es konnte so etwas wie eine Hausnummer sein. Aber für wen? Sicher nicht für den Briefträger, dachte Winner amüsiert. Aber vielleicht für den Tankwagen, der in Notfällen die einsamen Häuser mit Trinkwasser versorgte. Oder für neugierige Touristen oder als Versteck für Kriminalkommissare auf der Flucht, dachte er und lachte in sich hinein.
Quiz 4: Was hat Kommissar Winner entdeckt?
a) Das Bilderversteck?
b) Das Versteck eines Geheimbundes?
c) Nur ein altes Haus?
Kreuzen Sie jetzt an!
Mit solchen Gedanken beschäftigt erreichte er den Supermarkt in Guatiza. Er musste ein paar Vorräte auffrischen, vor allem Trinkwasser und ein paar Lebensmittel für das Frühstück, etwas Obst und zwei Flaschen Rotwein. „Ach ja“, dachte er dann, „und natürlich frisches Putenfleisch für Otto.“
Am Nachmittag wollte er eine neue Fahrstrecke erkunden. Er interessierte sich für das große weiße Gebäude, das er neulich von Guatiza aus am Hang der Famaraberge gesehen hatte. Er fuhr durch die Kakteenfelder, am Kaktusgarten „Jardin de Cactus“ vorbei, bog kurz vor der Eukalyptusallee rechts ab, fuhr durch die „Albahaca“ und die „Adormilera“ und orientierte sich dann Richtung Berge. Aber der letzte Anstieg war zu steil. Er stieg ab und schob das Rad. Auf halbem Weg hörte er ein Motorengeräusch. Es kam von oberhalb, also ihm entgegen. Als er mit dem Fahrrad die Kurve erreicht hatte, sah er den Wagen kommen. Es war ein schwerer Geländewagen, der auf der abschüssigen Straße viel zu schnell unterwegs war. Das kann nicht gutgehen, dachte er, stellte das Fahrrad ab und brachte sich selbst in Sicherheit, in dem er über die Leitplanke sprang. Und das war Rettung im letzten Moment, denn als der Wagen scharf abbremste, verlor der Fahrer in der Kurve die Kontrolle über den Wagen. Er schleuderte, das Heck brach aus und traf das Fahrrad und die Leitplanke genau an der Stelle, an der er eben noch gestanden hatte.
Dem Fahrer konnte der Unfall nicht unbemerkt geblieben sein. Doch der Wagen fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit weiter nach Guatiza.
Winner brauchte ein paar Minuten, um sich von dem Schreck zu erholen. War der Fahrer betrunken oder hatte er auf der abschüssigen Straße einfach nur die Kontrolle über das Fahrzeug verloren? Warum hatte er nicht angehalten? Immerhin war es Sachbeschädigung und sein Verhalten konnte durchaus als Fahrerflucht ausgelegt werden. Winner durfte gar nicht daran denken, was womöglich passiert wäre, wenn er noch neben dem Fahrrad gestanden hätte.
Er wusste nicht warum, aber in dem Moment kam ihm die eigenartige Geschichte mit dem herabstürzenden Balken in der Ruine in den Sinn. War er zum zweiten Mal haarscharf einem Unfall entgangen? War beides nur ein Zufall gewesen? Aber an Zufälle glaubte er eigentlich schon lange nicht mehr. Er verscheuchte die Gedanken und besah sich das Fahrrad. Es war zum Glück nicht viel passiert: Der Lenker war verdreht, das Vorderrad hatte eine leichte Acht und das Schutzblech hing nur noch an einer Schraube. Aber fahrbereit war es anscheinend noch, wenn auch nur eingeschränkt.
Er schob es den restlichen Berg hinauf und lehnte es an die Natursteinmauer vor dem weißen Gebäude, das er besuchen wollte. Es war ein großer viereckiger Bau mit hohen Mauern und einer breiten Eingangstreppe. Über dem Portal glänzte ein großes goldenes Kreuz und das schmiedeeiserne Eingangstor stand offen. Als er hineingegangen war sah er sofort, um welches sakrale Gebäude es sich hier handelte: Es war ein Friedhof, oder, wie man hier sagt, ein
„Cementerio“. Wegen des steinigen Bodens hatte man hier wohl diese Art der Bestattung gewählt. Es waren Grabeskammern, in die man die Särge schob und die Öffnung dann wieder verschloss. An den Wänden rundherum waren weiße Marmorplatten mit den Namen der Verstorbenen eingelassen. Winner fiel auf, dass, im Gegensatz zu Grabsteinen auf deutschen Friedhöfen, kein Geburtsdatum der dort beerdigten Person eingraviert war, sondern nur das Alter und der Todestag. Und es fiel ihm weiterhin auf, dass die meisten der Toten erst in hohem Alter verstorben waren und dass es wohl auch so etwas wie Familiengruften gab, denn auf manchen Tafeln waren mehrere Namen verzeichnet. Rechts und links neben den Grabplatten waren kleine gläserne Gefäße angebracht, in denen meist bunte vergilbte Plastikblumen steckten.
Im hinteren Bereich des Friedhofs arbeitete ein Mann an einer leeren Grabkammer. Er kehrte offensichtlich etwas zusammen und warf es dann mit dem Kehrblech in einen Müllsack. Winner zuckte innerlich zusammen und dachte: Er wird doch wohl nicht…? Aber es war nur Laub und ein paar vergilbte Plastikblumen.
Winner grüßte auf Spanisch und bekam als Antwort einen Redeschwall, von dem er so gut wie gar nichts verstand. Ja, so sind sie, die Spanier, dachte er. Man sagt nur freundlich „Buenas dias“ und schon legen sie los, in der Annahme, dass ihr Gegenüber der spanischen Sprache mächtig ist. Winner hatte wenigstens so viel herausgehört, dass der Mann furchtbar in Eile war, weil heute noch eine Grablegung stattfinden sollte. Also verabschiedete er sich und fuhr auf seinem klappernden Fahrrad hinunter nach Guatiza.