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Erster Tag

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Kommissar Stefan Winner saß auf der Terrasse unter dem großen Gummibaum und blinzelte in die Sonne. Ja, so wollte er es: Kein Handy klingelte, kein Polizeifunk plärrte, kein Kollege nervte mit dummen Fragen und auch der Chef kam nicht vorbei um nach dem neusten Stand der Ermittlungen zu fragen.

Er gab sich ganz diesem angenehmen Gefühl hin. Nur wenige Geräusche erreichten sein Ohr. Die Autos auf der Hauptstraße machten allerdings einen außergewöhnlichen Lärm. Während man in Deutschland an Flüsterasphalt arbeitete fuhr man hier auf Lanzarote zwischen Guatiza und Mala auf einer Straße, die so aussah, als habe man vergessen die obere feine Asphaltschicht aufzutragen. Aber das war für Winner kein echtes Problem. Die Hauptstraße, die zwischen Guatiza und Arriette durch Mala führte war weit entfernt und das Geräusch, das trotz Nordwind zu ihm herüberdrang, klang eher wie fernes Meeresrauschen. Etwas anderes waren die Hunde. Spanier schienen Hunde zu lieben. Fast jedes Haus hatte einen oder zwei, meist so kleine Kläffer und oft eigenartige Promenadenmischungen. Irgendwo im Ort kläffte immer ein Hund, dachte Winner, daran werde ich mich wohl gewöhnen müssen.

Während Winner seinen heißen Kaffee schlürfte dachte er darüber nach, wie es überhaupt dazu gekommen war, dass er jetzt hier saß. Litt er unter einem Burn-out? War es die Midlife-Crisis oder war er schlicht und ergreifend nur überarbeitet gewesen, dass ihm der letzte Fall so entglitten war? Drei ungeklärte Fälle lagen auf seinem Schreibtisch und vom vierten hatte sein Chef ihn abgezogen, weil alles schiefgelaufen war, was nur hatte schieflaufen können.

Der Polizeiarzt hatte ihm geraten mal Urlaub zu machen. „Bis zu Ihrer Pensionierung müssen Sie schon noch ein paar Jahre durchhalten“, hatte er gesagt. Und sein Hausarzt hatte ergänzt „Am besten, Sie fliegen irgendwo hin, wo Sie keiner kennt und keiner weiß, wo Sie wohnen. Und lassen Sie ja Ihr Handy daheim. Sonst rufen garantiert ihre Kollegen dauernd an und wollen irgendetwas wissen.“

Wie soll das denn gehen hatte er sich gefragt. Spätestens bei der Passkontrolle am Flughafen würde er erkannt werden. Und wenn er unter seinem Namen ein Hotelzimmer buchte, dann wäre sein Aufenthalt durch seine Kollegen leicht auszumachen. Darum fasste er einen verrückten Plan: Er hatte vor kurzem einen Ganoven verhaftet, eigentlich war es nur ein kleiner Fisch. Er war als Strohmann für einen schwerreichen Kunstliebhaber aufgetreten und hatte alle möglichen Antiquitäten aufgekauft, vor allem alte Bilder und Gemälde. Sie hatten ihn schon lange in Verdacht gehabt, bei der Gelegenheit Geld zu waschen, aber sie hatten ihm nichts nachweisen können. Doch dann war er aufgeflogen, weil er bei einer Auktion für eine altes Gemälde eine größere Summe in bar bezahlt hatte. Bei der Überprüfung der Scheine durch die Beamten des Betrugsdezernats hatte sich herausgestellt, dass einige Scheine gefälscht waren, also Blüten. Die waren zwar gut gemacht, aber trotzdem entdeckt worden. Bei seiner Festnahme und der anschließenden Hausdurchsuchung hatte man außer weiterem Falschgeld auch noch drei gefälschte Personalausweise auf die Namen Ronny Berg, Dominik Krause und Sebastian Sommer gefunden. Auch diese Fälschungen waren gut gemacht und kaum zu erkennen. Die Kollegen hatten schon gescherzt und gesagt: „Winner, das könnte glatt dein Bruder sein, aber eben ohne Bart. Und das Alter kommt auch hin. Lass dir deinen Bart abnehmen und dann hast du drei neue Identitäten.“

Daran hatte er sich erinnert als er über seine „Flucht“ nachdachte. Und er hatte entschieden, sich nicht den Bart abnehmen zu lassen. Gerade der Bart konnte noch ein paar Unterschiede vertuschen. Er hatte sich für den Ausweis mit dem Namen Sebastian Sommer entschieden, weil der seiner Meinung nach noch in keiner Fahndung aufgetaucht war.

Hauptkommissar Winner war vor Jahren in der Schulung junger Kollegen eingesetzt worden. Dieser Tatsache hatte er den Spitznamen „Falke“ zu verdanken, da er in seinen Vorlesungen gerne Falken als Beispiele benutzte.

„Sie müssen wie ein Falke sein“, sagte er z. B. „hoch über den Dingen schweben, dabei immer das Ganze sehen, mit scharfen Augen alles genau beobachten, jede, und sei es auch nur die kleinste Bewegung oder Veränderung sofort registrieren und in die Ermittlungen einfließen lassen. Und Sie brauchen viel Geduld. Beobachten Sie mal, wenn Sie Gelegenheit dazu haben, wie lange ein Falke über seiner Beute schwebt. Er wartet auf die günstigste Gelegenheit. Jeder Fehlversuch könnte das endgültige Ende seiner Observation sein. Und dann, im richtigen Moment, stößt er zu, aus großer Höhe, mit unvorstellbarer Geschwindigkeit. Zugriff! – Na ja, auch bei einem Falken ist nicht jeder Zugriff von Erfolg gekrönt. Seien Sie deshalb nicht zu sehr enttäuscht, wenn mal etwas misslingt. Überlegen Sie stattdessen, was Sie falsch gemacht haben und versuchen Sie es beim nächsten Mal besser zu machen.“

Jetzt, da er den falschen Ausweis in der Hand hielt, wusste er, dass alles schnell gehen musste. Der „echte“ Sebastian Sommer saß in Untersuchungshaft. Und das konnte lange dauern. Man wollte ja eigentlich gar nicht ihn, sondern den reichen Magnaten, der ihn nur benutzte und hinter dem man den Kopf einer Fälscherbande vermutete.

Winner erinnerte sich an einen alten Bekannten, einen Holländer, Jan de Fries. Dem hatte er mal den Sohn zurückgebracht, der ausgerissen war und ihm zufällig in die Hände fiel. Damals hatte Jan der Fries gesagt: „Wenn du mal Urlaub machen willst – ich habe ein Haus auf Lanzarote. Das steht meistens leer. Also, wenn du mal richtich utspannen willst, dann sachst du Bescheid.“

(Wie es sich bei Holländer so anhört, wenn sie versuchen Hochdeutsch zu reden.)

Winner griff zum Telefon und rief an. Jan de Fries zierte sich nicht lange und sagte: „Na klar, alter Junge, natürlik kannst du das Haus haben. Es ist cherade nicht bewohnt. Du cheest einfach zu Ramona und holst dir den Schlüssel. Sie wohnt chleich nebenan und kümmert sich ein bischen um das Haus, wenn niemand darin wohnt. Sie lüftet ab und zu mal und chießt die Planten. Ich ruf sie an, dann weiß sie chleich Bescheid. Also viel Spaß und chute Erholung.“

Winner hatte nur einen kleinen Koffer gepackt. Nicht mehr als das, was man eben so braucht, wenn man ein paar Tage Urlaub machen will. Und da es auf Lanzarote immer schön warm sein soll, brauchte er ja auch keinen dicken Pullover mitzunehmen. Um sein Inkognito nicht zu gefährden, aber auch, um sich im Zweifelsfall ausweisen zu können, hatte er seinen Führerschein, seinen Dienstausweis und seine Krankenkarte in das Futter seiner Jacke eingenäht. Dann hatte er im Internet ein Last - Minute - Angebot für einen Flug und einen Urlaub auf Lanzarote gebucht: Zehn Tage in einem Hotel in Costa Teguise für 499 Euro. Das fand er in Ordnung. Und das Hotel würde ihn kaum suchen lassen, wenn er dort einfach nicht erschien. Bei den Tausenden an Gästen würden sie einen Einzelnen wohl noch nicht einmal vermissen – dachte er. Schließlich war das Zimmer bezahlt. Und das war sicher die Hauptsache.

Schon am nächsten Tag um elf Uhr ging der Flug. Er hatte sich nicht großartig abgemeldet, sondern nur einen Zettel auf dem Schreibtisch hinterlassen auf dem stand: Bin unterwegs. Und das war ja noch nicht einmal gelogen. Bis seine Kollegen dahinterkommen würden, dass er sie ausgetrickst hatte, war er sicher schon weit weg und nicht mehr erreichbar.

Bei der Gepäckkontrolle gab es keine Probleme. Nur bei der Passkontrolle meinte der Beamte nach längerer Betrachtung des Ausweises und der dazugehörigen Person: „Sie müssen mal ein neues Foto für Ihren Ausweis machen lassen.“

„Ja, oder meinen Bart abrasieren“, antwortete er scherzhaft.

„Genau“, sagte der Beamte und nickte.

„Ich verspreche, dass ich mich darum kümmern werde“, sagte Winner und passiere die Kontrollstelle.

Vier Stunden später schwebte Winner bereits im Landeanflug über Lanzarote.

Aus der Vogelperspektive bot die Insel ein überwältigendes Bild. Wenn die vielen kleinen weißen Häuser nicht wären, könnte man meinen auf dem Mond zu landen, so zerklüftet und eintönig sah das Land aus. Braun war die beherrschende Farbe. Ein Aschekegel reihte sich an den anderen und dazwischen gähnten die leeren Trichter der erloschenen Vulkane. Kaum etwas Grünes war zu sehen, stattdessen spiegelte sich die Sonne in den türkisfarbenen Swimmingpools der Ferienhäuser und der Touristenanlagen. Von einem Swimmingpool hatte Jan de Fries nichts gesagt, oder?

Winner erinnerte sich gerade an eine der Nachbarinseln: Teneriffa. Dort hatte er vor Jahren einmal vier Wochen im Rahmen eines Amtshilfeersuchens bei der Polizei gearbeitet. Es ging damals um deutsche Touristen, die mehrere krumme Dinger gedreht hatten. Bei den Verhören hatten sie sich in solche sprachlichen Spitzfindigkeiten geflüchtet, dass selbst ein guter Dolmetscher an seine Grenzen gekommen war. Aus dieser Zeit stammten auch Winners bescheidene Kenntnisse der spanischen Sprache. Er hatte zwar schon als junger Mann einen Spanisch-Grundkurs bei der Volkshochschule absolviert, aber das war lange her und es war nicht mehr sehr viel davon hängen geblieben. Er kannte ein paar der gängigen Redewendungen und einige Sätze, die zum Einkaufen reichten oder um in einem Restaurant die Speisekarte zu lesen und das Essen zu bestellen. Aber es machte ihm Spaß, in einem Restaurant oder an einer Bar anscheinend unbeteiligt neben anderen Gästen zu sitzen und zu lauschen. Immerhin reichte sein Sprachverständnis dann oft dazu aus, wenigstens zu verstehen, worum es in deren Gespräch ging.

Eine „Unsitte“ der Spanier konnte er allerdings überhaupt nicht leiden, nämlich dass sie seiner Meinung nach viel zu schnell sprachen und dann oft auch noch die Endungen der Wörter verschluckten. Manchmal konnte man den Eindruck haben, dass ein Satz aus einem einzigen sehr langen Wort bestand. Außer, wenn sie das Wort „pero“ – also „aber“ – einschoben. Dann machten sie immer eine kurze oder etwas längere Pause, um nachzudenken oder um Luft zu holen und dann mit unverminderter Geschwindigkeit fortzufahren. Der spanische Kollege auf Teneriffa hatte damals gesagt: „Meinst du, dass es uns mit der deutschen Sprache anders ergeht?“

Die Kontrolle am Flughafen Lanzarote war eigentlich ziemlich unproblematisch. Man ging einfach zwischen zwei Schaltern hindurch und dann war man auf der Insel. Gelegentlich wurde zwar ein Fluggast gefragt, ob er etwas zu verzollen habe, aber kontrolliert wurde selten.

Als Winner den Schalter bereits passiert hatte wurde er von einem Beamten der Polizei angesprochen: „Bitte, folgen Sie mir“, sagte er auf Deutsch und führte Winner in einen kleinen Nebenraum.

Was war das? Lag es an seinem kleinen Gepäck? So reist doch kein echter Urlauber. War er aufgeflogen oder war er nur zufällig die Nummer soundso, die routinemäßig kontrolliert wurde?

Bei ihm wurde eine Leibesvisitation durchgeführt und sein Koffer wurde einmal aus- und wieder eingepackt. Dann sagte der Beamte: „Entschuldigen Sie bitte die Störung“, und Winner durfte gehen.

Draußen machte er sich allerdings noch einige Gedanken. War man ihm auf der Spur oder war es nur eine Stichprobenkontrolle, die ihn zufällig getroffen hatte? Oder war der kleine Ganove aus Deutschland, dessen Identität er benutzte, hier doch bekannt? Oder war alles doch nur reiner Zufall? Aber als Kriminalhauptkommissar mit etlichen Dienstjahren auf dem Buckel hatte er es sich eigentlich abgewöhnt an Zufälle zu glauben.

Er kaufte sich am Flughafen einen deutschen Reiseführer für Lanzarote und stellte fest, dass man den Ort Mala mit einem öffentlichen Bus erreichen kann. Den nahm er dann auch, denn er wollte sicher gehen, dass man seine Spur nicht über die Taxizentrale verfolgen konnte.

Frau mit rotem Hut

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