Читать книгу Oktobermeer - Erik Eriksson - Страница 10
ОглавлениеWie ein fliehender Vogel
1.
Im Laufe des Nachmittags war der steife Wind etwas abgeflaut, und Michail war klar geworden, dass er das, was er vorhatte, bald ausführen musste, in den nächsten Stunden schon. Auf jeden Fall vor Mitternacht.
Obwohl das Schiff wegen des schlechten Wetters in Landnähe vor Anker lag, waren die Wellen noch hoch. Es waren kurze Wellen mit weißen Kronen, und wenn sie gegen die rostige Schiffsseite schlugen, klang es laut und durchdringend. Michail beugte sich über die Reling, blickte hinunter auf das Wasser und horchte. Er mochte die scharfen Laute nicht, er konnte sie nicht richtig wiedererkennen, und genau das schien ihm ein wenig Unheil verkündend. Vieles von dem, auf das er sich jetzt einlassen würde, war unbekannt, die Wellen jedoch sollten ihm nicht fremd sein.
Das Meer war dunkelgrau, ein leichter Nebel lag über den Inseln und Schären, die Schiffsseiten waren braungefleckt durch Rost und darauf gekleisterte Farbe, das Wasser vom Deck war von vorn nach achtern gelaufen und bildete ein Muster von verschwommenen Linien gegen eine Hintergrundfarbe, die einmal hellgrau gewesen war.
Das ganze Schiff war hässlich, heruntergekommen, wenn es einer skandinavischen Reederei gehört hätte, wäre es vermutlich ausgemustert und verschrottet worden. Die Maschine war schlecht, viel zu schwach für die Ostsee. Eigentlich war sie ein Binnenschiff, die Volgobalt Nr. 143, gebaut 1952 in Leningrad, der Geburtsstadt Michails.
Ihm war klar, dass er diese Stadt wahrscheinlich lange nicht wiedersehen würde. Aber er hatte seinen Entschluss gefasst, er wartete auf die Dunkelheit und auf die Stunde, wo er allein an Deck sein würde. Er hatte Wache zwischen acht und zwölf Uhr, er arbeitete als Matrose.
Er war angespannt, nicht direkt ängstlich, aber sehr konzentriert. Er blieb noch eine Weile dort stehen, an die Reling gelehnt, er versuchte zu spucken, aber sein Mund war zu trocken. Er räusperte sich ein paar Mal, es gelang ihm, genügend Spucke zu sammeln, um ein wenig Schleim herauszubekommen. Er folgte dem weißen Klumpen mit den Blicken, sah, wie er sich im Wind auflöste, ehe er das Wasser erreichte.
Aber die Wellen waren vermutlich nicht das größte Problem. Die Kälte könnte schlimmer sein, die niedrige Wassertemperatur. Man befand sich in der zweiten Oktoberwoche, das Schiff lag vor der schwedischen Küste, im Åländischen Meer, zweihundert Meter vom Land entfernt, zwischen Fogdö und Singö.
Die Volgobalt Nr. 143 war mit Holz für die Herstellung von Zellstoff auf dem Weg nach Norden gewesen. Die Besatzung hatte diese Reise schon oft gemacht, von Ladoga aus zu einer der Papierfabriken an der schwedischen Norrlandküste. Dieses Mal hatten sie schon im Finnischen Meerbusen starken Gegenwind bekommen, aber da es Nordwind gewesen war, waren sie vorangekommen und in Landnähe auf der finnischen Seite gefahren. Als sie hinaus auf das Åländische Meer gelangten, wurde es schlimmer. Dort hatte der Wind an Stärke zugenommen und war auf West gedreht, als sie den Understen-Leuchtturm sahen, hatte er Sturmstärke erreicht. Das war für die Volgobalt Nr. 143 zu viel gewesen. Der Bordfunker war vom Kapitän angewiesen worden, von der schwedischen Küstenwache die Erlaubnis einzuholen, im Windschutz in Landnähe vor Anker gehen zu dürfen.
Es war ihnen ein Platz angewiesen worden. Sie waren sicher, dass sie von der schwedischen Radarüberwachung beobachtet wurden, vielleicht auch von einer Wachmannschaft an Land.
Daran hatte Michail schon gedacht. Er nahm jedoch an, dass der Radar ihn nicht entdecken könne, da er hinter den Wellenkämmen verborgen sein müsste. Und wenn er dann erst an Land gelangt war, würde er den Wachen schon entgehen können. Kein vernünftiger Mensch versuchte, in dem kalten Wasser an Land zu schwimmen, bei dem Wellengang, so spät am Abend. Die Wachen, sofern es welche gab, erwarteten keinen schwimmenden Menschen, ihre Wachsamkeit war sicher nicht besonders groß.
Er argumentierte auf diese Weise mit sich selbst, ging die Risiken noch einmal durch. Ihm war bewusst, dass er seinen Plan auf Vermutungen aufgebaut hatte, er kannte die Küste kaum, zu der er bald auf dem Weg sein würde. Aber das waren nun einmal die Voraussetzungen: unangemeldet anzukommen, unter großen Strapazen, um der Glaubwürdigkeit willen.
Es war halb fünf, er hatte Kaffee getrunken, ein Stück trockenes Brot gegessen. Um acht sollte er seine Spätwache antreten. Die erste Stunde hatte er unter Deck zu arbeiten, ihm war aufgetragen worden, Öl mit einer Handpumpe aus einem feststehenden Tank in einen Bottich zu pumpen, aber ab neun Uhr sollte er sich oben an Deck aufhalten und Ausschau halten, der Kapitän hatte es so haben wollen.
Zwischen neun und zehn sollte es also geschehen. Jetzt konnte er nur warten, die Wellen und den Wind beobachten, lauschen, sich vor der Besatzung wie immer verhalten, die alte Ausgabe einer Zeitung lesen, versuchen sich ein wenig auszuruhen.
Es war kurz nach sieben, als er die Regentropfen an den Scheiben der Achtermesse bemerkte.
Es war ein leichter Regen, trotzdem prasselten die Tropfen gegen die Fenster, denn es war recht windig. Zuerst konnte er nicht einschätzen, ob der Regen gut für ihn war.
Vielleicht gehen die Wachen nicht nach draußen, dachte er dann, falls es überhaupt Wachen gibt. Und es wird schwieriger für sie, mich zu sehen, wenn es welche gibt und wenn sie hinausgehen. Vielleicht ließen sie bei diesem Wetter noch nicht einmal die Hunde nach draußen. Er entschied sich dafür, dass er den Regen auf seiner Seite hatte.