Читать книгу Oktobermeer - Erik Eriksson - Страница 15
6.
ОглавлениеKurz vor halb sieben klingelte der Wecker. Rolf stellte ihn ab, er wusste, dass Helena tiefer schlief als er selbst. Er überlegte, ob er sich hinüber zu ihrem Bett begeben sollte, war schon auf dem Weg dorthin, änderte aber dann doch seine Meinung, er glaubte, sie wolle nicht gestört werden. Rolf wusste, dass er hätte fragen können, tat es jedoch nicht. Sie sprachen über alles Mögliche, selten jedoch darüber, über das sparsame Liebesleben, über die immer länger werdenden Perioden der Enthaltsamkeit in der Zeit, in der sie zusammen waren.
Aber der Samstagabend war schön gewesen, einer der allerbesten seit langer Zeit.
Nach dem Mittagessen hatte Rolf eine Vorlesung, er müsste spätestens um elf von hier aufbrechen, am besten etwas eher. Er dachte schon über die bevorstehenden Arbeiten nach. Helenas mangelnde Lust, ihr Desinteresse oder was es nun war, kümmerten ihn eigentlich nicht besonders, zumindest nicht im Moment.
Als er auf die Toilette ging, stellte er eine Art Gleichnis auf: Es ist, als ob ich ihr am Esstisch etwas anböte und sie lehnte ab.
Genauso ist es wohl logisch, dass sie mich manchmal zu sich lässt und manchmal nicht.
Ein Butterbrot?
Nein? Vielleicht ein Glas Milch?
Nun ja, man kann ja nicht immer hungrig sein.
So ungefähr vielleicht. Warum sollte er traurig sein, sie hatte im Augenblick keinen besonderen Appetit, etwas anderes war es nicht.
Er setzte sich auf die Toilette, um nicht zu spritzen, und er hörte das schwache Plätschern des Strahls, und er sah ein, dass er wahrscheinlich wieder Argumente vorbrachte, die von dem Problem ablenkten. Aber wenn diese Überlegungen ihm guttaten, warum nicht.
Zum Frühstück tranken sie Tee und aßen ein paar Butterbrote, lasen die Zeitungen, die Rolf aus dem Briefkasten geholt hatte, unterhielten sich ein wenig über die Woche, die vor ihnen lag: über Helenas Unterrichtsstunden, über Rolfs Vorlesungen, seine Doktoranden, über das Projekt, das er für das Verteidigungsministerium übernommen hatte, es war nicht geheim, erforderte jedoch eine gewisse Diskretion.
»Du musst mir sagen, was ich den Leuten erzählen darf«, sagte Helena.
»Ich berechne den Luftwiderstand bei Beschleunigung.«
»Raketen oder Bomben?«
»Nun ja, es handelt sich meist um Theorien, mathematische Formeln, um Arbeit mit den neuen Computern, ich werde diesen Auftrag in der Technischen Hochschule durchführen.«
»Aber darf man es normalen Leuten erzählen?«
»Das glaube ich schon.«
»Wenn man möchte, darf man es, ist es so?«
»Das klingt so missbilligend.«
»Nein, es ist ja deine Arbeit.«
Sie widmeten sich wieder den Zeitungen. Rolf wusste, dass Helena seine Arbeit für das Verteidigungsministerium nicht gefiel, er hatte schon früher einen ähnlichen Auftrag übernommen. Er wusste auch, dass sie mit niemandem darüber reden würde, nicht wegen der Geheimhaltung, sondern weil sie sich schämte. Er war jedoch kein Waffenkonstrukteur. Er war Hochschullehrer, in erster Linie ein ziviler Forscher, der international mit seinen Arbeiten über Turbulenzphänomene bei Körpern in Extremgeschwindigkeiten eine gewisse Aufmerksamkeit erregt hatte. Man wusste, wer Rolf G. Andersson war; in der MIT in Boston, in Kalifornien, in vielen anderen Universitäten weltweit, an denen die Forschung Fortschritte gemacht hatte, kannte man ihn.
Rolf jedoch konnte Helenas Aversion verstehen. Er würde niemals an der angewandten Waffenforschung teilnehmen, nie einen militärischen Auftrag annehmen, der mit der Herstellung effektiverer Waffen verbunden war. Die Arbeit für das Verteidigungsministerium betraf Grundlagenforschung, er benötigte ganz einfach die Mittel, und er konnte gleichzeitig seine Theorien entwickeln.
Er versuchte Helena das zu erklären. Vielleicht verstand sie ihn, er hoffte es.
Wenn jemand fragte, antwortete sie immer: mein Mann unterrichtet an der Technischen Hochschule, er ist Mathematiker, er beschäftigt sich mit den Winden, mit ihrer Geschwindigkeit, er versucht sie einzufangen, zu beschreiben.
Einmal hatte sie ihm ein paar Zeilen auf einer Postkarte geschrieben:
Du jagst den Wind,
umfängst ihn wie ein Kind,
fragst, warum die Lüfte sausen,
warum Sekunden und Minuten brausen,
durchs Universum und durchs Licht,
ein Wind ist alles, eine Ewigkeit ist nichts.
Damals waren sie ein Jahr verheiratet gewesen. Sie hatte sich auf einer Fortbildung in Göteborg befunden, er hatte gerade seinen Doktor gemacht, sie hatten sich das Reihenhaus auf Lidingö gekauft. Wie immer hatte sie ohne nachzudenken geschrieben; die Reime kamen einfach, sie hatte nichts geändert, es war so, wie es sich gerade ergab. Damals hatte sie seine Arbeit noch poetisch gefunden. Aber sie hatte immer noch Achtung vor seinem Wissen. Sie selbst hatte keine Probleme mit Worten, Zahlen jedoch fielen ihr schwer; so war es immer gewesen.
Ein Wind ist alles, eine Ewigkeit nichts, und jetzt arbeitete er für das Verteidigungsministerium, half auszurechnen, wie schnell eine Rakete auf ihr Ziel zusteuerte. Er sagte, das sei Grundlagenforschung. Sie wusste nicht genau, was sie glauben sollte.
Helena war keine Pazifistin, sie fand, dass Schweden eine gute Verteidigung brauche, sie wählte die Sozialdemokraten. Aber trotzdem.
Mitten am Tag zeigte sich die Sonne eine Weile. Rolf klappte die Sonnenblende an der Frontscheibe herunter, hielt die Hand über die Augen, blinzelte in die Sonne, bemerkte einen überfahrenen Dachs am Straßenrand und verminderte die Geschwindigkeit ein wenig.
Er hatte noch recht viel Zeit, er fuhr nicht gerne schnell, kam lieber zu spät, als die Straße entlangzurasen. Er dachte an Helena, an ihren flüchtigen Abschiedskuss, an ihre Hand auf seinem Arm, ihre Leichtigkeit, Eleganz, das helle schulterlange Haar, das er oft im Gegenlicht zu sehen meinte, wie einen Strahlenkranz um ihren Kopf. Sie hatten im Schatten vor der Veranda Abschied voneinander genommen, trotzdem erschien sie ihm jetzt sonnenbeschienen.
Als er an Älmsta vorbeifuhr, traten andere Bilder und Überlegungen in den Vordergrund, die Vorlesung, die Studenten, eine noch nicht abgeschlossene Berechnung, Zahlen, Kurven, die Ziegelwände der Technischen Hochschule, der Rasen vor dem Institutsgebäude.
Er parkte etwas zu nahe an einer Straßenkreuzung, aber es gab nirgendwo freie Plätze; er zögerte einen Augenblick, ließ den Wagen dann jedoch stehen. Im Allgemeinen ging es gut.
Im Flur vor dem Geschäftszimmer traf er eine Sekretärin, die ihm sagte, dass er Besuch habe, eine Englisch sprechende Dame, sie wartete vor seinem Dienstzimmer. Rolf nahm an, dass es eine der wenigen ausländischen Studentinnen sei. Er holte sich eine Tasse Kaffee; bis zu Beginn der Vorlesung hatte er noch zwanzig Minuten Zeit.
Als er mit der Kaffeetasse in der Hand um die Ecke des Flurs bog, erhob sich die wartende Frau und wandte sich ihm zu. Sie trug ein graublaues Tweedkostüm und hochhackige Schuhe, sie lachte ihn an. Es war Sarah Graffmann aus Boston, er hatte sie fünf Jahre lang nicht gesehen.
Sie verströmte einen sehr angenehmen Duft, er erinnerte ihn an Walderdbeeren. Als sie Rolf einen Kuss auf die Wange gab, stellte sie sich auf die Zehenspitzen.