Читать книгу Oktobermeer - Erik Eriksson - Страница 14
5.
ОглавлениеDer Stau begann schon am Gaswerk. Rolf überlegte, was er am Vortag oder vielleicht auch an diesem Vormittag einem seiner Doktoranden, Anders Bohlin, telefonisch noch hatte sagen wollen. Er kam jedoch nicht darauf, und das störte ihn. Der Wagen vor ihm war ein alter Citroën, vielleicht ein Vorkriegsmodell, aber gut gepflegt, schwarz, chromglänzend, ein B11, das wusste er zufällig, da ein Jugendfreund den gleichen besessen hatte.
Als er im Kriechtempo über die kleine Brücke an der Wiese vor dem Lill-Jans-Wald fuhr, fiel ihm ein, dass er den Weißwein vergessen hatte. Den Rotwein hatte er dabei, aber die drei Flaschen Chablis lagen noch im Keller, wohin er sie zum Kühlen gebracht hatte. In das Reihenhaus nach Lidingö zurückzufahren, war jedoch ausgeschlossen. Der Citroën bog nach rechts in Richtung Fiskartorpet ab, stattdessen fuhr jetzt ein Volvo vor ihm, ein roter 240er mit Dachträger und Kindern auf dem Rücksitz, zwei kleinen Mädchen. Sie drückten ihre Nasen an die Rückscheibe, er lächelte ihnen zu, aber sie erwiderten das Lächeln nicht.
Da fiel ihm ein, was er Anders Bohlin am Vormittag hatte sagen wollen. Er konnte ihn auch von Fogdö aus anrufen und Bohlin darauf aufmerksam machen, dass er noch weitere Bestätigungen für die Werte finden müsse, die er in einer Versuchsreihe im Windkanal an der Technischen Hochschule herausarbeiten wollte. Sie hatten über eine amerikanische Studie gesprochen, die sich mit den Turbulenzproblemen von Hochgeschwindigkeitszügen befasste, die Zeit war vergangen, er hatte vergessen, das Windkanalproblem zu erwähnen.
Die Kinder in dem Wagen vor ihm hatten kurze helle Haare. Wenn er eigene Töchter gehabt hätte, hätte er sie gerne mit ähnlichen Frisuren gesehen. So etwas dachte er oft, wenn er Kinder sah: Wenn ich einen Sohn hätte, dann hätte er vielleicht so einen Nacken, so eine Nase, würde sich auf diese Art und Weise bewegen, die Hand heben, sich das Haar aus der Stirn streichen, wenn ich eine Tochter hätte, würde sie so ein Lächeln haben, so eine kleine Hand.
Nachdem er erfahren hatte, dass Helena und er keine Kinder würden bekommen können, hatte er begonnen, die Kinder zu beobachten, die ihm begegneten; die Hände waren besonders wichtig, bildete er sich ein, die Art zu schreiben, die Gabel zu halten, so etwas vererbte sich, das stellte er sich gerne vor, obwohl er eigentlich nicht daran glaubte.
Nach der Ampel an der Universität löste sich der Stau auf, es ging schneller voran, Reichsmuseum, Inverness, und neben den neuen Hochhäusern am Danderyd-Krankenhaus die graue Häuserreihe, die Mörby-Klinik, in der er als Kind wegen einer Bruchoperation gelegen hatte.
Er konnte sich immer noch an den stickigen Äthergeruch erinnern, an all das Weiß, das Echo der Stimmen zwischen den gekachelten Wänden, die blanken, rostfreien Bestecke in ovalen Schalen, an ein schmales, etwas in die Länge gezogenes Bild eines blutigen Magens auf dem zweiten Operationstisch im Raum: bald bist du an der Reihe, acht Jahre alt, warte nur ein wenig, bald ...
In Norrtälje tankte er und kaufte die Abendzeitungen. Es war halb zwei, das Wetter war trocken, leicht bewölkt, kühl, im Osten deutete sich eine Aufhellung in der Wolkendecke an.
Das Meer, dachte Rolf, heute Abend die Netze auslegen, morgen früh Sonne, schwacher Wind, früh raus mit dem Boot, die Netze einholen, zusammen mit Helena, nein, sie würde im Bett bleiben, aber Kaffeetrinken gemeinsam, wenn er zurück war.
Im Bett, dachte er, wieder ins Bett, die Bettwärme bei Helena, wieder einschlafen, einander lieben, vielleicht, es war eine Weile her, ja, einander lieben. Er würde gerne mit Helena schlafen wollen, vielleicht schon heute Abend. Aber morgens war es am besten, er konnte warten; wenn er mit ihr zusammen war, fiel es ihm nie schwer zu warten, es aufzuschieben. Die Sehnsucht nach ihr war schwerer zu ertragen, wenn sie nicht da war, das war manchmal schwierig.
Manchmal oder recht häufig? Er dachte an die Zeit, die vergangen war, zwei Wochen, vielleicht etwas länger. Vielleicht war sie es ja auch, die bestimmte, er verlor die Lust, wenn sie nicht wollte.
Manchmal?
Ja, er fand, dass es bisweilen vorkam, nicht sehr oft, aber immer häufiger. Er überlegte, wie er es auf Englisch sagen würde: Still more often?
Er las Aufsätze auf Englisch, schrieb, hielt Vorlesungen in englischer Sprache, beherrschte das wissenschaftliche technische Vokabular, jetzt jedoch wusste er nicht genau, was er zu seinem Englisch sprechenden, zuhörenden Gedanken-Ich sagen würde, zu seinem mitfühlenden Spiegel-Ich:
She is not interested the way she used to be, she doesn‘t want me so often any more.
Really, is that so?
Yes, I am afraid, that‘s my situation.
How often?
Not very often. Oh.
Er tat sich selbst leid, das gehörte zu dem Gedankenspiel, er übertrieb, ihr Liebesleben war so schlecht auch nicht, sie schliefen vielleicht nicht so oft miteinander, aber sie waren ja auch nicht mehr so jung.
Er war nicht jung, er war nicht besonders kräftig.
Oh, is that really so, too bad.
Ja, ja, neunundvierzig Jahre alt, wir wollen nicht übertreiben, vielleicht kein Jüngling mehr, aber doch auch noch kein alter Mann.
Und deine Frau, Helena, how old is she, the same age as you, or?
Der Altersunterschied betrug neun Jahre, manchmal nur acht, da er am Jahresende Geburtstag hatte und sie im März. Sie rückte näher, er entfernte sich, sie kam wieder näher. Und er war immer viel älter.
Sein Blutdruck war nicht ganz in Ordnung, ebenso sein Blutbild. In einem Monat würde er sich noch einmal untersuchen lassen, er machte sich darüber keine Gedanken, oder etwa doch?
Sie aßen gekochten Dorsch, tranken Rotwein, zuerst eine Flasche, dann noch eine halbe, einen guten Bordeaux. Rolf zog die schweren Weine vor, Helena nahm gerne Chianti, es war jedoch Rolfs Abend, sie hatte das Essen gekocht, er hatte gearbeitet, war mit dem Auto gefahren, er war müde.
Das war eine alte Abmachung zwischen ihnen. Wer bereitet heute das Essen zu, am Sonntag?
»Für morgen habe ich eine Überraschung«, sagte Rolf, »aber der Wein ist zuhause geblieben.«
»Wir haben ja einige Flaschen hier.«
»Es müsste aber Chablis sein.«
»Strindbergs Wein.«
»Hm, sollen wir aufstehen?«
Sie räumten die Teller weg, kochten Kaffee, nahmen die Tassen mit ins Wohnzimmer, ließen sich vor dem Kaminfeuer nieder, das Helena schon gegen zwei Uhr angefacht hatte. Rolf sagte, dass er vor Anbruch der Dunkelheit noch die Netze auslegen wolle. Helena sagte, sie würde ein wenig lesen.
Der Dieselmotor sprang sofort an. Es war ein alter Motor, den Rolf hatte in Stand setzen lassen, er war zuverlässig, stark und leicht zu bedienen. Das Boot war ein hölzerner Spitzkahn mit Kajüte, eichenen Spanten, grobem Steven; er würde eine neue Plane kaufen müssen, die alte war verblichen und wies einige kleine Löcher auf.
Zweihundert Meter vom Land entfernt legte Rolf zwei Netze aus, dort, wo es tiefer wurde und der Grund begann steil abzufallen. Er hoffte Dorsch zu fangen, vielleicht auch ein paar Barsche; in diesem Falle würde er ein anderes Essen zubereiten als das, was er geplant hatte.
Als er das Boot wieder vertäut hatte, blieb er am Strand stehen und schaute eine Weile auf das Meer hinaus. Die Wolken hatten sich fast aufgelöst, der Himmel im Osten zeigte große blaue Flecken.
Er atmete die Meeresluft ein, begann am Strand entlangzugehen, es war kühl, aber er fror nicht. Direkt am Wasser unter dem Tang lagen ein Stück Holz und ein Schuh. Rolf blieb stehen und sah sich nach einem weiteren Schuh um, obwohl er wusste, dass Schuhe am Strand immer einzelne Schuhe waren. Er beförderte den Schuh mit einem Tritt hinauf zum Strandhafer. Es war ein dünner Herrenschuh aus Leder, dunkelbraun, ziemlich abgetragen, die Vorderkappe wies einen länglichen Riss auf. Dort, wo der Schuh gelandet war, wuchsen einige Grasbüschel, die noch nicht verwelkt waren, neben dem Gras standen trockene Baldrianstängel.
An diesem Abend gingen sie früh zu Bett. Rolf war müde, Helena las noch weiter in ihrem Buch, einem Roman von Doris Lessing, den sie aus Pflichtgefühl begonnen hatte, der sie jedoch immer mehr fesselte.
Rolf hätte einschlafen können, aber er sah noch einige Unterlagen durch, Aufzeichnungen von Gesprächen mit seinen Doktoranden. Er las mit dem Stift in der Hand, das machte er immer so, egal, was er las, er schrieb ein paar Worte nieder, unterstrich etwas.
Dann fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, Anders Bohlin anzurufen. Er machte sich eine Notiz, legte sie auf den Papierhaufen auf dem Nachttisch, knipste die Leselampe aus.
Auch Helena machte auf ihrer Seite das Licht aus.
Um halb acht am nächsten Morgen legte er mit dem Boot an der Brücke an. Nur ein einziger Barsch war ins Netz gegangen, aber es war ein großes Exemplar, er plante schon das Abendessen. Durch die Wolkenfetzen im Südosten drängte sich ein Sonnenstrahl, über dem Land jedoch zogen sich dunkle Regenwolken zusammen, es sah nicht so aus, als ob sie einen Tag ohne Regen bekommen würden. Der Wind wehte aus Nordwesten. Rolf liebte Windstärken bis vier; wenn jedoch die dunklen Wolken über dem Land sich durchsetzen sollten, dann würde der Wind auffrischen.
Sie tranken ihren Kaffee im Bett. Helena war in der Küche gewesen und hatte ihn vorbereitet. Rolf hätte sie gerne mit einem Frühstückstablett überrascht, freute sich jedoch und fühlte sich willkommen, er hatte schon Jacke und Hose im Flur aufgehängt, jetzt zog er sich ganz aus und kroch nackt ins Bett.
»Was hast du gefangen?«, fragte Helena.
»Eine Überraschung für heute Abend, bist du mit deinem Kaffee fertig?«
»Ich habe gerade angefangen.«
Sie lächelte ihn an, stellte die Tasse auf den Nachttisch, hob die Decke hoch. Er legte sich neben sie, wartete zunächst ein wenig, näherte sich ihr langsam, zog ihr Nachthemd hoch, legte die Hand auf ihren Rücken, streichelte sie, drückte sein Gesicht an ihren Hals, rutschte ein wenig tiefer, erreichte ihre Brüste. Helena lag ganz still da, ließ ihn streicheln, wartete etwas, bis auch sie ihn streichelte. Dann drehte sie sich auf den Rücken, half ihm hineinzukommen. Er schaukelte mit kleinen Bewegungen, wurde schneller, atmete mit einem langen Seufzer aus und blieb still liegen.
Sie streichelte noch eine Weile seinen Kopf, das Haar, die Stirn, die Wangen. Sie bewegte sich nicht, und sie wusste nicht, ob er wach oder eingeschlafen war.
Es war ein Uhr; sie hatten im Radio Nachrichten gehört, machten zusammen einen Spaziergang. Zuerst gingen sie durch den Wald, hinunter zum Strand bis hin zu dem Sanddorn-Gestrüpp, dann wieder zurück.
»Dort liegt ein angeschwemmter Schuh«, sagte Rolf und zeigte darauf.
»Ja, tatsächlich.«
»Ich habe ihn vorhin schon gesehen, man fragt sich immer, woher sie kommen.«
»Von irgendeinem Schiff vielleicht.«
»Immer nur ein Schuh, nie ein ganzes Paar.«
Sie kehrten zum Haus zurück. Helena wusste oder glaubte zu wissen, wer diesen Schuh verloren hatte. Sie hatte einen ähnlichen Schuh in die Tüte gelegt, die sie für den Mann zurechtgemacht hatte. Wenn sie jetzt an ihn dachte, war er der russische Mann, nicht Michail; sie vermied seinen Namen.
Rolf fühlte sich ein wenig müde. Nachdem sie heimgekommen waren, streckte er sich auf der Couch im Wohnzimmer aus. Helena fragte, wie es ihm gehe, er sei wohl nicht krank?
»Nein, nur ein wenig müde, ich bin ja früh aufgestanden.«
»Du bist ein Morgenmensch.«
Sie wussten, dass sie einen unterschiedlichen Tagesrhythmus hatten. Helena las weiter in dem Roman von Doris Lessing; sie nahm an, Rolf wolle vielleicht ein wenig schlafen.
»Ist irgendjemand hier gewesen?«, fragte er nach einer Weile.
Helena war überrascht, jedoch eigentlich nicht erstaunt, sie hatte auf diese Frage gewartet. Nicht dass irgendwelche Spuren vorhanden waren, Rolf hatte nichts sehen können, hätte er ein Kleidungsstück vermisst, hätte er es gesagt, den Schuh konnte er nicht mit dem Mann, der ihn verloren hatte, in Verbindung bringen.
»Du meinst, ob ich hier auf dem Hof Besuch hatte?«
»Ja, genau.«
»Ein Mann hat gestern angeklopft, er hat jemanden gesucht, dessen Namen ich nicht kannte, dann ging er wieder.«
»Ein unbekannter Mann?«
»Ja, er war nicht von hier.«
»Ausländer?«
»Nein, er sprach Schwedisch.«
Rolf fragte nicht weiter, Helena wandte sich wieder ihrem Buch zu, konnte sich jedoch nicht konzentrieren. Es war, als ob sie jemanden zu schützen suchte, von dem sie nichts wusste.
Spät am Abend begann es zu regnen. Rolf fror ein wenig, er zog einen Flanellschlafanzug an, ehe er ins Bett ging. Sie hörten gleichzeitig auf zu lesen. Rolf streckte seinen Arm zu Helenas Bett hinüber, ergriff ihre Hand, hielt sie ein wenig fest, bis er merkte, dass sie sie zurückzog.
Helena lag recht lange noch wach. Sie hörte Rolfs ruhige Atemzüge und sie hörte, wie der Regen draußen auf das Fensterblech prasselte. Sie dachte, dass sie diesen Schuh holen würde, sobald Rolf wieder gefahren war.