Читать книгу Oktobermeer - Erik Eriksson - Страница 13
4.
ОглавлениеHelena bereitete Michail ein Bett im Gästezimmer im Erdgeschoss. Es war kühl, sie stellte eine elektrische Heizung an, ließ die Tür angelehnt, hängte seine nasse Kleidung zum Trocknen im Heizungskeller auf.
Nach einer halben Stunde horchte sie an der Tür, hörte seinen Atem, ging in die Küche zurück. Sie hatte noch eine gute Stunde Zeit, ehe sie aufbrechen musste. Jetzt wusste sie, was sie zu tun hatte. Sie bereute jetzt, dass sie Rolf nichts erzählt hatte, ein Schuldgefühl überkam sie, Unruhe, Unsicherheit. Sie wollte zum Telefon gehen, unterließ es dann jedoch, setzte sich an den Küchentisch, verspürte zum ersten Mal seit langem Lust auf eine Zigarette, sie hatte jedoch aufgehört zu rauchen. Dieser Entschluss war stärker als die Unruhe. Sie versuchte zusammenzufassen: Wenn der Mann, den sie in ihr Haus gelassen hatte, ein Flüchtling war, müsste er natürlich selber Kontakt mit der Polizei aufnehmen, sowjetische Flüchtlinge durften wohl in Schweden bleiben!?
Sie wusste es nicht genau. Vielleicht durften nur bestimmte politisch bekannt gewordene Menschen bleiben, vielleicht wurden normale, einfache Leute zurückgeschickt?
Der Mann war vielleicht überhaupt nicht vor der Unterdrückung in der Sowjetunion geflohen, sondern hatte sich mit einem unerträglichen Vorgesetzten auf dem Schiff überworfen?
In diesem Falle war er ja kein politischer Flüchtling. Vielleicht war er ein Verbrecher? Dann müsste sie selbst die Polizei anrufen.
Sie erinnerte sich daran, dass er über sich selbst gesagt hatte, dass er ein Fliehender sei. Das war nicht dasselbe wie ein Flüchtling. Helena nahm an, dass der Ausdruck dem seltsamen altertümlichen Wortschatz des Mannes zuzurechnen sei. Ein fliehender Mann aus einer anderen Zeit.
Sie dachte noch nicht an ihn als Michail. Er war der fremde Mann, den sie am Strand gefunden hatte. Sie entschloss sich, die Polizei nicht anzurufen. Stattdessen rief sie das Sekretariat der Schule an, bat, dem Kollegen, dem sie bei dem Schülergespräch hatte helfen wollen, etwas auszurichten: Sie sei krank, habe starke Kopfschmerzen, aber sie sei sicher, dass sie am Montag wieder gesund sein würde.
Als sie den Hörer aufgelegt hatte, überkam sie wieder das Schuldgefühl, jedoch nur kurz. Sie schüttelte es ab. Sie konnte den Mann ja schließlich nicht allein im Haus lassen.
Den Fliehenden? Sie dachte wieder über den Ausdruck nach und fragte sich, von wo oder wovor er eigentlich geflohen war. Entflohen? Das Wort hatte eine ganz andere Bedeutung. Ein fliehender Mann aus einer Zeit, die vergangen war?
Sie merkte, dass ihr Beruf sie einholte, sie bereitete eine Übung mit den Schülern vor, bat sie, ihre Gedanken über ein Wort aufzuschreiben, höchstens eine halbe Seite. Hier ist das Wort: Fliehender.
Wie ein fliehender Vogel von Osten her,
wie lodernde Flammen über das Meer,
wie Stimmen, verstummt, in Wellen verschwinden.
Sie konnte diese Reime nicht unterdrücken, sie kamen ihr so schnell in den Sinn, wenn sie in dieser Stimmung war. Manchmal waren sie gut, oft jedoch einfältig, aber immer kamen sie plötzlich, waren nicht durchdacht, und dann hatte sie sie auch schon wieder vergessen.
Es war vorgekommen, dass sie diese sich reimenden Zeilen auf kleine Zettel geschrieben hatte, aber sie hatte sie selten lange aufgehoben.
Michail schlief bis um halb fünf Uhr nachmittags. Helena hatte ein paar Mal an der Tür gehorcht, die ruhigen Atemzüge vernommen, einmal hatte er ein wenig im Schlaf gehustet.
Jetzt kam er plötzlich in das Wohnzimmer, bekleidet mit den Sachen, die Helena ihm geliehen hatte. Er hatte ganz schmale Augen, eine Wange war geschwollen, jedoch lächelte er Helena an.
»Guten Morgen«, sagte er.
»Nach-mit-tag«, sagte Helena langsam und betonte dabei jede Silbe.
»Wie lange habe ich geschlafen?«
»Ein paar Stunden, möchtest du etwas essen?«
»Zuerst muss ich einmal draußen vor das Haus gehen.«
»Es gibt eine Toilette, falls du das meinen solltest, das Bad befindet sich rechts neben dem Wohnzimmer, ich werde dir ein Handtuch geben.«
Michail gab keine Antwort; Helena ging vor ins Badezimmer, holte ein Badetuch aus einem Schrank, reichte es Michail, sagte, dass sie das Mittagessen vorbereiten wolle.
»Musst du dich rasieren?«
»Ich glaube, das sollte ich tun.«
»Du kannst einen von diesen Plastikrasierern nehmen; sie liegen hier, Seife und Shampoo liegen dort.«
Sie zeigte es ihm; Michail sah hin, sagte jedoch nichts. Als Helena hinausging, schloss er die Tür. Sie war gerade im Wohnzimmer, als ihr einfiel, dass sie vergessen hatte, ihm eine Zahnbürste zu geben. Sie klopfte, öffnete, ehe er hatte antworten können. Als sie hineinging, stand er mit bloßem Oberkörper da, hielt das Hemd in der Hand. Er hatte eine Narbe von der rechten Schulter bis hinunter auf die Brust. Er zog das Hemd etwas an sich, der lange Oberarmmuskel trat hervor, helle Haut vom Ellbogen an nach oben, hervortretende Sehnen am Handgelenk.
»Zahnbürste«, sagte Helena, »wenn du einen Augenblick wartest, hole ich dir eine neue aus dem Schrank.«
Als Michail in die Küche zurückkam, leuchtete die Schwellung über der Wange rot. Er hatte sich rasiert, vielleicht hatte die sorgfältige Rasur die Schürfwunde irritiert, jetzt waren zwei lange Hautrisse sichtbar, jedoch kein Blut.
»Zuerst bekommst du jetzt etwas Gemüsesuppe«, sagte Helena, »und dann gibt es gebratenen Lachs. Die Suppe ist von gestern, aber sie schmeckt recht gut, ich habe die Möhren und den Kohl selbst gezüchtet.«
»Man kann also auch hier etwas züchten?«
»Alle sollten etwas anbauen, das ist gut für die Seele.«
»An diesem kalten Meer.«
»Besonders hier.«
»Meine Großmutter hat viele Pflanzen angebaut.«
»Diejenige, die dich gelehrt hat, Schwedisch zu sprechen?«
»Ja, sie hat mir etwas beigebracht ... und auch einiges mehr ... wie man Kohl anbauen soll ... deshalb ist es eine Freude für mich ... eine Gärtnerin zu treffen ... auf dieser Seite der Ostsee.«
Er lachte. Helena dachte, dass das der längste Satz war, den er gesagt hatte, seitdem er gekommen war. Er sprach langsam, betonte jede Silbe, machte Pausen, drückte sich jedoch gut aus. Sie dachte wieder über den Ausdruck nach, sagte jedoch nichts.
»Gärt-ne-rin«, sagte sie laut.
Sie aßen. Er kaute langsam, ließ es sich schmecken, schien jeden Bissen zu genießen, jeden Löffel Suppe. Einige Male blickte er auf, sagte jedoch nichts.
Die Uhr im Wohnzimmer schlug sechs, draußen dämmerte es, es wehte ein schwacher Wind. Im Obergeschoss läutete das Telefon. Helena hatte den Apparat im Wohnzimmer abgestellt. Sie entschloss sich, nicht abzuheben. Sie sagte nichts zu Michail, er fragte nicht, nach acht Signalen hörte das Telefon auf zu klingeln. Hätte er gefragt, hätte sie keine Antwort gehabt, aber warum sollte er fragen? Sie dachte über die nicht gestellte Frage nach, während sie ihrem Gast mehr von dem Lachs anbot.
Er ergriff den Teller, ohne etwas zu sagen, aber er lächelte sie an; sie fand wieder, dass sein Lächeln schief wirkte. Zuerst hatte sie geglaubt, dass es vielleicht von der Schürfwunde an der Wange herrührte, jetzt jedoch merkte sie, dass er so ein Lächeln hatte, schnell, mit ungleich hochgezogenen Mundwinkeln. Die linke Seite war seine lächelnde Seite, während die rechte Seite fast bewegungslos blieb.
Eine frohe und eine traurige Seite, dachte sie. Er lächelt vielleicht so, wie er ist?
Nach dem Essen tranken sie Kaffee. Michail hatte Helena beim Abräumen geholfen, zweimal war er ans Fenster getreten und hatte hinausgeschaut, kurz und ein wenig angespannt. Helena hatte ihm den Rücken zugewandt, trotzdem hatte sie gemerkt, dass er auf der Hut war.
Als sie mit ihren Kaffeetassen wieder am Tisch saßen, schielte er erneut zum Fenster hin, und jetzt fragte sie, ob er vor irgendetwas Angst habe. Hatte er ein Geräusch gehört?
»Vielleicht ist jemand vorbeigegangen?«
»Hier kommt niemand vorbei.«
»Vielleicht doch.«
»Sucht dich jemand?«
»Wie ich dir gesagt habe, bin ich ein Fliehender.«
»Aber wir befinden uns in Schweden.«
»Auch hier kann mich jemand suchen.«
»Hier kannst du nicht bleiben, wohin willst du gehen?«
»Ich will weiter.«
»Ja, wohin ist ja deine Angelegenheit.«
Er nickte als Antwort und lächelte wieder, jetzt etwas breiter als vorher, und nun machten sich kleine Fältchen um seine Augen herum bemerkbar. Helena lächelte zurück, und sie dachte, dass es nicht peinlich war, ihm in die Augen zu schauen. Es kam vor, dass sie sich durch einen direkten Blick gestört fühlen konnte, dass sie auswich, hinunterschaute, aber diesem unbekannten Mann konnte sie direkt in die Augen schauen, ohne dass es ihr unangenehm war, und ihr wurde bewusst, dass das ungewöhnlich war.
Als das Telefon wieder läutete, stand sie vom Tisch auf und ging ins Obergeschoss, um zu antworten. Es war der Kollege, dem sie am Nachmittag bei den Schülergesprächen hatte helfen wollen.
»Wie geht es dir, du Arme«, wollte der Kollege wissen.
Helena antwortete mit schwacher Stimme, dass es ihr schon besser gehe, dass sie sich etwas zu essen machen wolle, dass es die Art von Kopfschmerzen war, die sie gelegentlich heimsuchten.
Der Kollege sagte, Helena solle es ruhig angehen lassen und versuchen, ordentlich zu schlafen. Sie waren sich darin einig, dass ein guter Gesundheitsschlaf gegen die meisten Beschwerden helfe.
Als Helena zurück in die Küche ging, dachte sie darüber nach, ob Michail wohl das Wort Gesundheitsschlaf verstehen würde, aber sie fragte ihn nicht. Sie bot ihm noch Kaffee an, aber er lehnte ab.
Er sagte, dass er bald gehen müsse. Vielleicht kannte er jemanden in Stockholm, der ihm für eine Weile helfen konnte, bis er etwas Dauerhaftes gefunden hatte?
»Gut, du nimmst den Bus nach Stockholm«, sagte Helena.
»Ich werde damit fahren.«
Er stand auf. Helena hatte den Eindruck, dass er sofort gehen wollte.
»Du kannst gerne eine der Jacken meines Mannes nehmen, außerdem brauchst du ja Schuhe.«
»Ich kann nichts dafür geben.«
»Das ist auch nicht nötig.«
»Ich würde gerne etwas dafür geben, aber ich habe nichts.«
»Denk nicht darüber nach.«
Er nickte, jetzt lächelte er jedoch nicht. Helena ging hinaus zum Kleiderschrank, der auf der Veranda neben dem Eingang stand, suchte eine Jacke heraus, von der sie wusste, dass Rolf sie schon lange nicht mehr getragen hatte, nahm auch ein Paar Stiefel mit, ging zurück in die Küche und forderte Michail auf, sie anzuprobieren.
Die Stiefel passten, die Jackenärmel waren etwas zu kurz, das Hemd schaute hervor.
»Ganz gut«, sagte Helena.
»Sehr gut.«
»Deine eigenen Sachen sind noch nicht ganz trocken, aber du kannst sie in einer Konsumtasche mitnehmen.«
»Konsum?«
»Eine kleine Tasche, die man beim Einkaufen in der Hand trägt, eine Tragetasche für Lebensmittel, aus Plastik.«
Er nickte. Helena war sich nicht ganz sicher, ob er sie verstanden hatte, aber das spielte ja im Augenblick keine Rolle. Sie waren einer Meinung. Der Gast war auf dem Weg, der Mann vom Meer, der Fliehende aus dem Osten, er hatte einen kurzen Besuch abgelegt und würde jetzt das Haus verlassen.
»In einer Stunde geht der Bus«, sagte Helena, »er fährt bis Norrtälje, dort musst du umsteigen, weißt du, wo Norrtälje liegt?«
»Das weiß ich, ich habe es mir auf der Karte genau angesehen, ehe ich aufgebrochen bin. Norrtälje liegt am Ende einer langen Bucht.«
»Das ist gut, du weißt Bescheid.«
»Die Karte zu verstehen, bedeutet für mich einen großen Schritt. Lange habe ich die Karte betrachtet, dann kannte ich mich aus, aber es ist eine lange Zeit vergangen.«
»Zwischen der Karte und dem Entschluss, meinst du?«
»Ja, die Zeit hatte darüber zu entscheiden.«
Helena suchte eine große blaue Plastiktasche ohne Aufschrift heraus, sie packte Michails fast trockene Sachen hinein, legte den einzelnen Schuh zu unterst, die gefalteten Hosen oben drauf. Er stand am Küchenfenster, es kam ihr so vor, als ob er wieder auf Schritte horchte.
»In einer Viertelstunde müssen wir losgehen«, sagte sie,
»ich begleite dich ein Stück.«
»Ich habe keine Uhr«, sagte er.
»Aber du musst Geld haben, du brauchst etwas für den Bus und vielleicht auch für Essen, wenn du ankommst, ich leihe dir zweihundert.«
Sie reichte ihm zwei Hunderter. Er zögerte, nahm die Scheine jedoch an, steckte sie in die Hosentasche.
»Vielleicht kann ich sie zurückgeben, vielleicht auch nicht.«
»Wir werden sehen, aber es spielt keine Rolle, ich komme zurecht.«
»Vielleicht kann ich es trotzdem zurückzahlen.«
Sie gingen hinaus. Helena ließ die Tür unverschlossen. Michail ging langsam über den Hof, er hatte die Hosenbeine in die Stiefelschäfte gesteckt, die Jacke war offen. Helena war drauf und dran ihm zu sagen, er solle sie zuknöpfen, das sehe ordentlicher aus, ließ es jedoch sein.
Michail setzte die Wollmütze auf, die Helena ihm gegeben hatte. Er steckte die rechte Hand in die Hosentasche. Sie gingen schweigend nebeneinander den Pfad entlang, es war dunkel, einmal streifte ihre Hand zufällig die seine.
»Da hinten ist die Haltestelle«, sagte Helena, »ich warte nicht, der Bus kommt jeden Augenblick.«
Er ergriff ihre ausgestreckte Hand, drückte sie leicht, ließ sie los, berührte mit ausgestreckten Fingern kurz ihre Schulter, wandte sich um und ging.
Helena ging zum Haus zurück, vernahm Motorengeräusche von der großen Straße her. Sie nahm an, dass es der Bus sei.