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1. „DAVID“ MEDGYESSY GEGEN „GOLIATH“ ORBÁN UND DER AUFSTIEG DES FERENC GYURCSÁNY
ОглавлениеIn den Jahren 2002 bis 2009 haben zwei Regierungskoalitionen unter sozialistischer Führung Ungarn wirtschaftlich gegen die Wand gefahren. Begonnen hat die Wirtschaftsmisere des Landes mit dem völlig überraschenden Wahlsieg der Sozialisten im Jahr 2002 mit Péter Medgyessy als Spitzenkandidaten. Kaum jemand hätte es damals für möglich gehalten, dass der wenig charismatische und hölzern wirkende Banker Medgyessy eine Chance gegen Viktor Orbán hat, den jüngsten amtierenden Ministerpräsidenten in der Geschichte Ungarns und damaligen Sonnyboy der Europäischen Union. Nicht einmal Medgyessy selbst hat daran geglaubt.
Im Mai 2001 wird der damals 60-Jährige von der sozialistischen Partei Ungarns, kurz MSZP (Magyarországi Szocialista Párt), aus dem Hut gezaubert, als eine Art Verlegenheitslösung, und das weiß er auch. Der parteilose Medgyessy ist anfangs gar nicht so begeistert, als Spitzenkandidat für die Sozialisten in einen eher aussichtslos scheinenden Wahlkampf zu ziehen. Keiner der sozialistischen Parteigranden hat Lust, gegen den rhetorisch brillanten und charismatischen Viktor Orbán anzutreten, der noch dazu mit dem Amtsbonus in den Wahlkampf gestiegen ist, denn Orbán ist der amtierende Regierungschef einer bürgerlichen Dreiparteienkoalition.
Nach langem Hin und Her „opfert“ sich Péter Medgyessy schließlich doch. Die Partei und auch er selber setzen auf seine politische Erfahrung. Medgyessy war schon während der Wende und später auch unter der sozialistischen Regierung von Gyula Horn Finanzminister (1996). Das Kalkül vieler Sozialisten war damals: erst einmal Medgyessy in den Wahlkampf gegen Orbán schicken, ihn die Niederlage schlucken lassen, ihn dann abservieren und sich in der Opposition erneuern, um 2006 gestärkt den dann nach zwei Amtsperioden sicher schon müden Ministerpräsidenten Orbán vernichtend zu schlagen.
Doch es kommt anders: Zur Überraschung aller gewinnt der hölzern und steif agierende Péter Medgyessy die Parlamentswahl 2002 gegen den schier unbesiegbaren Viktor Orbán. Er gewinnt knapp, aber doch. Das Wahlduell endet mit 42,03 zu 41,11 Prozent für Medgyessy!
Das Geheimnis seines Wahlerfolges ist rasch erklärt: Medgyessy wirkt zwar hölzern, aber sympathisch. In einer Fernsehkonfrontation mit Orbán lobt er – zum blanken Entsetzen seiner Berater – die sozialen Errungenschaften der Orbán-Regierung (1998 – 2002) und er kündigt an, dass er diese im Falle eines Wahlsieges auch beibehalten wolle. Dieser entwaffnenden Demut hatte der kampfbereite Orbán nichts entgegenzusetzen.
Péter Medgyessy hat die Wahl auch deshalb gewonnen, weil er im Wahlkampf das Blaue vom Himmel versprochen hatte. Eine Verdoppelung der Gehälter im öffentlichen Dienst, eine Verdoppelung der Kinderbeihilfe zu Schulbeginn, eine kräftige Erhöhung der Gehälter im Bildungs- und Gesundheitswesen, Erhöhung der Studienbeihilfen um 30 Prozent, spürbare Erhöhung für Pensionisten, umfangreiche Steuersenkungen, wie etwa die Streichung der Steuer auf den Mindestlohn. Das Wahlversprechen Medgyessys lautete: Ausdehnung des Wohlstandes für alle. Und die Ungarn glaubten ihm, oder besser gesagt, wollten ihm nach den harten Jahren der Entbehrungen glauben. Wie der pensionierte Banker den „Wohlstand für alle“ zu finanzieren gedachte, hat Medgyessy nie gesagt.
Das in Europa einzigartige Wahlsystem in Ungarn (eine Parlamentswahl besteht aus zwei Wahlgängen) und die damit verbundene besondere Wahlarithmetik führten 2002 dazu, dass die MSZP, die sozialistische Partei mit ihrem Spitzenkandidaten Péter Medgyessy, 178 der 386 Mandate erhielt, obwohl Viktor Orbáns FIDESZ nach dem zweiten Wahlgang in Prozenten etwas besser abschnitt als die Sozialisten. FIDESZ schaffte mit 164 Mandaten lediglich Platz zwei.
Drittstärkste Kraft im Parlament wurde damals das bürgerliche Ungarische Demokratische Forum, kurz MDF (Magyar Demokrata Fórum), mit 24 Mandaten. Mit Ach und Krach und 20 Mandaten schaffte der linksliberale Bund der Freien Demokraten, kurz SZDSZ (Szabad Demokraták Szövetsége), den Einzug ins Parlament und diente sich sogleich den Sozialisten als Koalitionspartner an. Ein Angebot, das diese bereitwillig annahmen, denn eine andere Partei wäre ohnehin nicht in Frage gekommen.
Die Sozialisten kamen gemeinsam mit den Linksliberalen auf eine hauchdünne Mehrheit von 198 Mandaten, nur zehn Mandate mehr als die beiden bürgerlichen Oppositionsparteien FIDESZ und MDF zusammen.
Am 27. Mai 2002 wird Péter Medgyessy und seine Regierungskoalition angelobt. Seine linksliberale Regierung macht sich auch gleich ans Werk und begeht einen schweren Fehler nach dem anderen. Auf Punkt und Beistrich erfüllt der neue Regierungschef jedes einzelne seiner Wahlversprechen. Schön brav, eines nach dem anderen. Medgyessy lässt in Ungarn Milch und Honig fließen, so als gäbe es kein Morgen.
Und es folgt, was folgen muss und alle Ökonomen schon vor der Wahl prognostiziert hatten: der Sturz des Landes in die Schuldenfalle. Ein Jahr nach der von Medgyessy gewonnenen Wahl beträgt die Neuverschuldung Ungarns mehr als zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Ein Minus, von dem sich das Land bis heute nicht restlos erholt hat.
Während der frischgebackene Ministerpräsident Péter Medgyessy im Land großzügig Geld verteilt, das nicht verdient worden ist, sondern das er sich auf „den Märkten“ geholt, sprich: ausgeborgt hat, verhindert Viktor Orbán in der Folge der Wahlniederlage seine Demontage in der Partei. Gleich beim ersten FIDESZ-Kongress nach dem schmerzhaften Regierungswechsel sorgt Orbán für einen Statutenwechsel, der ihn vor einem innerparteilichen Machtverlust schützt. Er setzt eine Regelung durch, wonach der jeweilige Ex-Ministerpräsident, sofern er FIDESZ-Parteimitglied ist, automatisch für vier Jahre Angehöriger des Parteipräsidiums ist. Mit Hilfe dieser „Orbán-Klausel“ verhindert er, sich bei den nächsten Parteikongressen der Wiederwahl für das wichtigste Exekutivorgan der Partei stellen zu müssen. Diese geschickte Umgehung und Aushebelung demokratischer Prozesse zu seinen Gunsten pflegt Viktor Orbán noch heute, allerdings nicht mehr innerparteilich, sondern mittlerweile als Regierungschef im Staatsgefüge.
Um zu gewinnen, ändert er notfalls auch die Spielregeln während des Spiels. Der begeisterte Fußballfan Viktor Orbán kann sich innerparteilich an der Macht halten, er bleibt im Spiel. Der im Dress des „Big Spenders“ am „linken Flügel“ herumirrende Péter Medgyessy nicht.