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Höhepunkt: Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)

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47 Jahre nach seinem Vater macht sich Johann Wolfgang im Alter von 37 Jahren auf den Weg nach Italien, drei Jahre vor der Französischen Revolution. Wie er Italien bereist, macht einen Paradigmenwechsel deutlich. Es geht ihm nicht mehr nur um eine Erweiterung seines Wissens, die Bildung seiner Persönlichkeit steht im Zentrum. Es ist der Sprung von der rational geprägten Aufklärung zur skeptischen Spätaufklärung, die sich bewusst ist, dass in jedem Erkenntnisvorgang die Persönlichkeit des Erkennenden von ausschlaggebender Bedeutung ist. Das äußerlich Gegebene erfährt erst in seiner Beziehung zum Inneren seinen eigentlichen Wert. Wo Johann Caspar das Handwerkliche eines Kunstwerks lobt und den kommerziellen Wert als Nachweis künstlerischer Qualität anführt, da versucht sein Sohn in allem eine Beziehung zu Natur, Gesellschaft und Kunst herzustellen. Das ist der große Dreiklang, der sich ihm zu einer Ganzheit zusammenfügt. In der Beobachtung vor allem der organischen Natur spürt er dem Geheimnis des Lebens nach. In Venedig notiert er unter dem 9. Oktober 1786:

„Ich wende mich mit meiner Erzählung nochmals ans Meer, dort habe ich heute die Wirtschaft der Seeschnecken, Patellen und Taschenkrebse gesehen und mich herzlich darüber gefreut. Was ist doch ein Lebendiges für ein köstliches, herrliches Ding! Wie abgemessen zu seinem Zustande, wie wahr, wie seiend!“ (S. 93)

Es ist ein zärtlich-liebevoller Blick, mit dem er der Natur begegnet. Über das Individuelle hinaus richtet sich sein Erkenntnisdrang auf den größeren Zusammenhang. Dafür steht seine Idee einer „Urpflanze“, die er zu finden hofft. Beeindruckt von der Blütenpracht in Sizilien schreibt er:

„Im Angesicht so vielerlei neuen und erneuten Gebildes fiel mir die alte Grille wieder ein, ob ich nicht unter dieser Schar die Urpflanze entdecken könnte. Eine solche muß es denn doch geben! Woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht nach einem Muster gebildet wären?“ (Palermo, 17. April 1787; S. 266)


Abb. 4: Johann Wolfgang von Goethe im 30. Lebensjahr. Zeichnung von Georg Oswald May (1779)

In der Folgezeit wandelt sich seine Vorstellung, dass es eine reale Urpflanze geben müsse, aber in die Einsicht, dass die Urpflanze nur als Idee existiert:

„Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt, die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen.“ (S.324)

Zur Natur gehört für ihn auch der Mensch. Er ist das am höchsten und am differenziertesten entwickelte Lebewesen. In seinen Versuchen, seine malerischen Fähigkeiten zu vervollkommnen, steht die Wahrnehmung des menschlichen Körpers ganz obenan. Während seines zweiten Romaufenthaltes schreibt er:

„Am menschlichen Körper wird fleißig fortgezeichnet ... Das Interesse an der menschlichen Gestalt hebt nun alles andere auf. Ich fühle es wohl und wendete mich immer davon weg, wie man sich von der blendenden Sonne wegwendet, auch ist alles vergebens, was man außer Rom darüber studieren will. ... Ich bin nun recht im Studio der Menschengestalt, welche das non plus ultra alles menschlichen Wissens und Tun ist.“ (S. 476 f)

In der Begegnung mit der Kunst der Antike fallen nun Natur- und Kunstbetrachtung zusammen: „Jetzt seh’ ich, jetzt genieß’ ich erst das Höchste, was uns vom Altertum übrigblieb: die Statuen.“ (S. 477)

Der Mensch ist ihm neben seiner Natürlichkeit, seiner Individualität aber auch zugleich ein gesellschaftliches Wesen, das er als Volk wahrnimmt und beschreibt. Seine detaillierte und analytische Beschreibung des römischen Karnevals ist förmlich eine naturhafte Choreographie des Volkes, seiner Bewegungen und Rituale.

In der Kunst schließlich findet der Mensch, der schöpferische Mensch, seine höchste Ausdrucksform, in ihm und durch ihn findet die Natur ihre letzte Ausformung. In der künstlerischen Form erfüllt sich das Leben. Indem Mensch, Natur und Kunst zusammenfallen, leuchtet ihm ahnend die religiöse Dimension auf:

„Leider ist die Anzahl der Kunstwerke der ersten Klasse gar zu klein. Wenn man aber auch diese sieht, so hat man nichts zu wünschen, als sie recht zu erkennen und dann in Friede hinzufahren. Diese hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen, da ist die Notwendigkeit, da ist Gott.“ (S. 395)

Johann Wolfgang wendet sich bei seinem Italienaufenthalt nach außen, zur Natur, Gesellschaft und zur Kunst. Er erlebt das alles als Äußerungsformen des Lebens, als schöpferische Kraft, die er auch in sich selbst spürt. Diese Bewegung führt ihn zu sich selbst zurück, zu seinem Inneren. Natur- und Kunsterkenntnis entfalten die Persönlichkeit, sind Persönlichkeitsbildung. Der Künstler findet hierin seine Bestimmung und Erfüllung.

Johann Wolfgang wächst in einem Haus auf, zu dem die Liebe zu Italien einfach dazugehörte. Sein Vater hatte entsprechende Souvenirs mitgebracht, unter anderem das Modell einer venezianischen Gondel. In „Dichtung und Wahrheit“ schreibt Johann Wolfgang:

„Innerhalb des Hauses zog meinen Blick am meisten eine Reihe römischer Prospekte auf sich, mit welchen der Vater einen Vorsaal ausgeschmückt hatte ... Hier sah ich täglich die Piazza del Popolo, das Coliseo, den Petersplatz, die Peterskirche von außen und innen, die Engelsburg und so manches andere. Diese Gestalten drückten sich tief bei mir ein, und der sonst sehr lakonische Vater hatte wohl manchmal die Gefälligkeit, eine Beschreibung des Gegenstandes vernehmen zu lassen. Seine Vorliebe für die italienische Sprache und für alles, was sich auf jenes Land bezieht, war sehr ausgesprochen.“ (S. 14)

Anders als sein Vater und sein Sohn, die ganz offiziell nach Italien reisen, bricht Johann Wolfgang heimlich am 3. September 1786 nach Italien auf: „Früh um drei Uhr stahl ich mich aus Karlsbad, weil man mich sonst nicht fortgelassen hätte.“ (S. 9) In diesem heimlichen Aufbruch wird auch deutlich, dass er eben nicht als bekannter Schriftsteller oder Weimarer Minister reisen will. Dazu legt er sich auch noch ein Inkognito zu: „Filippo Miller, Tedesco, Pittore“.

Die meisten Reisenden im 18. Jahrhundert nehmen den Weg, den auch Johann Wolfgang genommen hat – über den Brenner. Seit tausenden von Jahren ist er eine der bevorzugten Pässe über den Alpenhauptkamm. Das liegt an seiner relativ niedrigen Passhöhe von lediglich 1375 Metern. In der Jungsteinzeit sind unsere Vorfahren über den Brenner gezogen, in der Bronzezeit waren es die Illyrer und später natürlich auch die Römer. Aber erst im 3. nachchristlichen Jahrhundert wurde der Brenner für sie wirklich wichtig, nachdem unter Kaiser Septimius Severus der Weg über den Pass zu einer Fahrstraße ausgebaut worden war. Apropos Ausbau: Von 1774 bis 1777 hatte Kaiserin Maria Theresia die Passstraße deutlich ausbauen lassen, so dass Johann Wolfgang neun Jahre später einigermaßen komfortabel nach Italien einreisen konnte. Von Karlsbad aus geht es über Eger, das Stift Waldsassen (eine Zisterzienserabtei in der Oberpfalz), Regensburg, München, Benediktbeuren, Seefeld, Innsbruck zum Brenner. Gerne würde er noch am Abend des 8. September 1786 das Posthaus auf dem Brenner zeichnen, es will ihm aber nicht recht gelingen. Der Wirt des Posthauses fragt ihn sodann, ob er nicht gleich weiterreisen wolle:

„... es sei Mondschein und der beste Weg, und ob ich wohl wußte, daß er die Pferde morgen früh zum Einfahren des Grummets brauchte und bis dahin gern wieder zu Hause hätte, sein Rat also eigennützig war, so nahm ich ihn doch, weil er mit meinem inneren Triebe übereinstimmte, als gut an. Die Sonne ließ sich wieder blicken, die Luft war leidlich; ich packte ein, und um sieben Uhr fuhr ich weg. ... Der Postillon schlief ein, und die Pferde liefen den schnellsten Trab bergunter auf dem bekannten Wege fort; kamen sie an ein eben Fleck, so ging es desto langsamer. Der Führer wachte auf und trieb wieder an, und so kam ich sehr geschwind, zwischen hohen Felsen, an dem reißenden Etschfluß hinunter.“ (S. 23)

Er erreicht Sterzing und Brixen.

„Die Postillons fuhren, daß einem Sehen und Hören verging, und so leid es mir tat, diese herrlichen Gegenden mit der entsetzlichsten Schnelle und bei Nacht wie im Fluge zu durchreisen, so freuete es mich doch innerlich, daß ein günstiger Wind hinter mir herblies und mich meinen Wünschen zujagte.“ (ebd.)

Bevor er Bozen – und etwas später Trient – erreicht, begegnet ihm eine Frau mit Birnen und Pfirsichen – Italien!

1790 bricht er dann noch einmal, allerdings nur für einige Monate, nach Italien auf. Er überprüft und ergänzt seine Erfahrungen aus dem ersten Italienaufenthalt, sein Italienbild wird insgesamt nüchterner und skeptischer.


Abb. 5: Goethe in Italien. Zeichnung von Philipp Hackert (1787)

Mit der Kutsche durch Italien

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