Читать книгу Tagträumereien - Ernst Luger - Страница 10
Ein ungebetener Gast
ОглавлениеJedes Jahr, wenn der Brand (Destillation) des Traubenschnapses abgeschlossen ist, lädt der Winzer traditionell alle Helfer zu einem Hoagascht15 im eigenen Haus ein. Aber nicht nur die Erntehelfer, auch Freunde, Nachbarn und die örtliche Prominenz sind stets gern gesehene Gäste im Haus der Winzerfamilie. Zur Unterhaltung der Besucher spielt wieder die Hausmusik der Familie auf, die wie schon alle Jahre zuvor das Publikum voll begeistern wird. Die große Stube ist bereits gut besetzt und in der Küche wird noch fleißig gewerkelt. Es ist ja kein Geheimnis, dass in diesem Haus nur Gutes aus Küche und Keller aufgetischt wird. Zudem ist es seit vielen Jahren Brauch, dass nach dem Brand die traditionelle Treberwurst36 serviert wird. Auch heuer wurde dafür extra ein Schwein, die sogenannte Hoagaschtsau, geopfert.
Wenn so viele Menschen zusammenkommen, gesellt sich auch gerne mal ein ungebetener Gast unter die Besucher. Heute könnte dies der hagere, schmuddelig gekleidete Typ sein, der es bis jetzt nicht geschafft hat, seine schäbige Mütze abzunehmen. Dieser Ungustl41 versucht gerade mit seiner Sitznachbarin ins Gespräch zu kommen. Die Betroffene, die Mutter des Winzers, ist schon weit über die 90, aber noch sehr rüstig und nimmt noch immer gerne am Alltag teil. „Wer sind oh Sie?“, fragt der illustre Gast neugierig die Greisin.
„Ich bin die Elsa vom Winzerhof hier, und wer bist du, ich habe dich hier noch nie gesehen?“
„Ja, ja, dass möchten immer alle wissen und wenn ich mich dann vorstelle, schaut jeder, dass er so schnell wie möglich aus meinem Aktionsradius verschwindet.“
„Soso, du willst mir also nicht sagen, wer du bist. Hier aber kennt jeder jeden, also verlangt es wohl der Anstand, dass auch du dich vorstellst.“
„Ja, wenn’s so ist, mich kennen die meisten nur unter dem Pseudonym Sensenmann oder auch Tod. Heute bin ich hier, um einen von euch abzuholen. Leider weiß ich noch nicht wer diesmal der oder die Auserwählte sein wird.“
„Dacht mir schon, dass du mir bekannt vorkommst, ich habe dich ja schon oft in meinen Träumen gesehen. Da ich hier wohl die älteste anwesende Person bin, bist du sicher gekommen, um mich abzuholen?“
„Nein, gute Frau, wie schon gesagt, weiß ich noch nicht, wer heute so in mein Beuteschema passt. Ich dachte mir, wenn ich mit den Leuten etwas ins Gespräch komme, dann fällt mir vielleicht der Entscheid etwas leichter.“
Gerade in dem Moment unterbricht ein musikalischer Einsatz der Hauskapelle das Gespräch mit der alten Winzerin. Alle lauschen mit Genuss den taktreichen Klängen, nur der Tod wartet ungeduldig die nächste musikalische Pause ab. Sogleich wendet er sich einem anderen Gast zu. Jener scheint auch schon etwas betagter zu sein, trotzdem muss er eine gewichtige Rolle im hiesigen Dorfleben innehaben. „Hallo guter Mann, wer sind Sie?“
„Und wer sind Sie, wenn Sie nicht einmal den Bürgermeister von hier kennen? Sie müssen wirklich von weither angereist sein.“
„Wie man’s nimmt“, meinte der Sensenmann. „Für die einen komme ich aus einer anderen Welt, den anderen bin ich stets zu nahe. Es jedem recht zu machen ist wohl eine unmögliche Sache, nicht?“
„Wer dich so ansieht, der könnte meinen, dass du die Nächte auf einer Parkbank verbringst. Jedoch wenn ich dein blasses, knochiges Gesicht betrachte und deiner leisen Stimme folge, könnte man meinen, du seiest der Tod?“
„Da schau her, das erste Menschlein, das mich erkennt. Ich muss dir wirklich Respekt zollen.“ Und schon spielt die Kapelle ihr nächstens Stückchen. Wiederum steht der Tod auf und wechselt seinen Platz. Neben ihm sitzt nun ein junger Bursche, der begeistert der Musik folgt. In der darauffolgenden Pause spricht ihn der Sensenmann an: „Hallo, du scheinst ein begeisterter Musiker zu sein, kommst du von hier?“
„Ja, ich bin der Sohn des Winzers und studiere Musik und Weinbau in Wien. Leider reicht meine Zeit nicht, um in dieser Hauskapelle regelmäßig mitzuspielen.“
„Was, zu wenig Zeit? Wenn man so jung ist wie du, dann hat man doch alle Zeit der Welt, nicht?“
„Studium, Mitarbeit auf dem Hof, Freundin und meine Berg- und Kletterleidenschaft nehmen mich so in Anspruch, dass mir zu wenig Zeit zum Musizieren bleibt.“ Mit dieser Aussage hat der Tod genug über den Jungen erfahren und wendet sich der Frau auf der anderen Seite zu. Sie verfolgt die musikalischen Darbietungen mit einem verbitterten Gesicht. „Hallo, meine schöne Frau, warum so verbittert?“
„Ich bin nicht verbittert, was glauben Sie denn. Was ist das für eine Art, jemanden mit solchen Worten in ein Gespräch verwickeln zu wollen. Meine Sorgen gehen wohl niemanden was an, oder? Mein innerlicher Ärger hat nichts mit dem hier zu tun. Zudem, wer sind Sie eigentlich, ich beobachte Sie schon eine Zeitlang, wie Sie den Gästen hier die Wörter aus der Nase ziehen?“
„Warum fragt mich gleich jeder, wer ich eigentlich bin? Bin ich so fremd, hinterlasse ich so einen unwürdigen oder andersartigen Eindruck bei den Leuten? Zudem ziehe ich bestimmt niemandem etwas aus der Nase, ich will nur die Gäste hier etwas besser kennenlernen.“
„Nein, Sie sind nicht andersartig, aber Sie machen auf mich eher einen nicht so sympathischen Eindruck, wie als ob Sie gleich jedermann zum Mitgehen überreden möchten.“
„Da liegen Sie gar nicht so falsch“, meint der Sensenmann und beendet abrupt dies schiefgelaufene Gespräch. Erneut wechselt er seinen Platz und spricht den Lehrer der Dorfschule an: „Hallo, Sie scheinen echt Freude an der musizierenden Jungend zu haben.“
„Ja, das waren alles meine Schüler und ich habe ihnen die ersten Takte beigebracht. Heute spielen sie in dieser Kapelle mit und jeder von ihnen ist ein Teil des Erfolgs. Schön zu erleben, wenn eigene Arbeit so in einen Erfolg einfließt.“
„Ich nehme an, dass Sie hier im Dorf der Lehrer sind. Eigentlich sollten Sie in Jubelstimmung sein, warum klingen Ihre Worte dennoch so traurig?“
„Ich fühle mich krank und auch mein Arzt ist mit meiner Gesundheit gar nicht zufrieden. Doch warum fragen Sie mich das, wer sind Sie und woher kommen Sie?“
„Nun denn, so schlimm kann es wohl noch nicht sein, ansonsten wären Sie heute nicht hier. Aber ich werde es dann sehen, denn ich bin derjenige, der Sie abholt, wenn Ihre Krankheit Sie besiegt hat.“
„Sie sind also der Tod. Sie habe ich mir ganz anders vorgestellt. Jetzt, wo ich ein Gesicht zu Ihrem vorauseilenden Ruf habe, weiß ich, dass ich Sie noch lange nicht brauchen werde.“
Dem Lehrer reicht’s, er steht auf und wechselt seinen Platz. Trotz des kleinen Schocks strahlt er jetzt plötzlich viel mehr Lebensfreude aus. Zwischenzeitlich hat sich der Sensenmann mit dem Arzt in ein Gespräch von Mann zu Mann eingelassen, weil jener stets versucht, sein alkoholisches Problem vor den Gästen zu verbergen. Etwas später verwickelt er noch den Herrn Pfarrer in eine amoralische Debatte, die die zwei bis an den Rand ihrer Beherrschung treibt. Nicht lange und Hochwürden verlässt die gute Stube und zieht sich in die Küche zurück, wo bereits die Treberwurst zum Servieren bereitsteht.
Das Bemerkenswerte bei allen diesen Gesprächen ist, dass der Sensenmann jedem einzelnem Gesprächspartner gleich so vertraut scheint, dass einer nach dem anderen ihm bereitwillig seine verborgensten Geheimnisse ausplaudert. Nichtsdestotrotz nimmt der bunte Abend seinen Lauf und während die allseits erwartete Treberwurst serviert wird, spielt die Musikkappelle für die begeisterte Gästeschar ein Gustostückerl nach dem anderen auf.
Alles hat ein Ende, auch der Hoagascht beim Winzer. Es ist schon spät geworden und bevor sich die Besucher auf ihren Heimweg machen, loben sie noch die Gastgeberfamilie aufs Höchste. Jeder Gast bekommt noch ein Schnapserl mit auf den Heimweg und schon schwärmen die Gäste in alle Richtungen aus. Auch der Sensenmann macht sich auf den Weg, jedoch nicht alleine. Aber wer schreitet an seiner Seite?