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Der arme Schinder

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Der Friedhof in einem ländlichen Dorf reihte sich im Halbkreis um die Dorfkirche. Jede Familie aus dem Dorf besaß auf diesem Gottesacker ihr Familiengrab. Jedoch besagt ein altes Gesetz, das Ungetaufte nicht in diesen Familiengräbern beerdigt, sondern im hintersten Winkel, auf einem kleinen Platz beigesetzt werden müssen. Dieser Platz wird von den Gläubigen im Dorf als Unschuldigen-Acker bezeichnet.

Einst wurde dem Schinder30 Joan Büchser ein Kindlein geboren, das keine großen Chancen zu überleben hatte. Joan ließ sofort nach dem Pfarrer rufen, doch dieser weilte im Wirtshaus und trank erst seine Zeche aus. Er kam zu spät. Seinetwegen musste der Schinder sein Kindlein, weil ungetauft, auf dem Unschuldigen-Acker begraben. Dieses obskure Verhalten ließ in ihm einen mächtigen Zorn auf den Pfaffen hochkommen. Gleich nach der Beisetzung wollte er Hochwürden zur Rede stellen, jedoch jagte jener den wütenden Gesellen aus dem Pfarrhaus.

Am darauffolgenden Sonntag versammelte sich die Gemeinde in der Kirche zur Messfeier, der auch Joan mitsamt seiner Familie beiwohnte. Bei der Predigt sprach der Pfarrer über die angespannte Stimmung im Ort. „Frieden ist eine Gabe Gottes und wer den Frieden mit Absicht vertreibt, der sät Uneinigkeit. Auch Mangel an Hochachtung führt leicht zu sündigen Zankereien, die jegliche Ehrerbietung vermissen lassen. Menschen, die wegen missverstandener kirchlicher Pflichten zur Uneinigkeit aufrufen, sind Leugner der ehrfürchtigen Gottesdienerschaft. Um die Einigkeit mit seinen Mitmenschen und der gehobenen Geistlichkeit zu erhalten, ist es jedermanns religiöse Pflicht, jegliche Uneinigkeit im Keim zu ersticken und zum Zeichen der Wiedervereinigung die Hand zu reichen.“

Diese Predigt beeindruckte die Gläubigen zutiefst, aber am meisten fühlte sich Joan angesprochen. Wie nach jeder Messe verabschiedete sich der Pfarrer am Kirchenportal persönlich von seinen Schäfchen. Joan wollte die Gelegenheit nutzen und Hochwürden als Zeichen der Vergebung die Hand reichen, doch als der Schinder auf den Priester zuging, machte dieser kehrt und verschwand hinter der Kirchenmauer. Die ganze Gemeinde hatte es gesehen, aber keiner traute sich was zu sagen. Man könnte ja den Zorn der Geistlichkeit zu spüren bekommen.

Am nächsten Tag versuchte Joan, seine Geistlichkeit abends im Dorfgasthaus anzutreffen, aber dieser ahnte, dass der lästige Schinder ihn dort abfangen könnte und blieb vorsichtshalber der Gaststätte fern. Im Zorn auf den Pfarrer und in voller Enttäuschung trank Joan ein paar Bier zu viel und machte sich unverrichteter Dinge wieder auf den Heimweg. Um Zeit zu sparen, nahm er den kürzeren Weg über den Friedhof. Kaum war er am Grab seines Kindlein vorbeigelaufen, rief ihn eine Stimme zu: „Vater, lass gut sein, der Herr da oben erteilt stets jedermann seine gerechte Strafe.“

Der Schinder traute seinen Ohren nicht, aber als er dann noch sein Neugeborenes auf dem Grabkreuz sitzen sah, fiel er direkt vor Ort in eine tiefe Ohnmacht. Zu allem Unglück war es seine Geistlichkeit, die Joan frühmorgens auf dem Friedhof liegend fand. Zuerst wollte er einfach an ihm vorübergehen, weil er dachte, dass der Schinder hier nur seinen Rausch ausschlief. Als er jedoch bemerkte, dass der Büchser sich nicht mehr bewegte, alarmierte er dennoch den Mesmer, der sogleich dem armen Mann half und ihn aus seinem Tiefschlaf holte.

Joan gab nicht auf, auch an den darauffolgenden Abenden besuchte er das Wirtshaus, aber kein Pfarrer war unter den Gästen zu finden, wie auch sein Neugeborenes ihm nicht mehr erschien. Seine Wut auf den Kirchendiener wurde immer größer, bis ihm eines Tages die Idee kam, er könnte ja um Mitternacht auf dem Friedhof alle Toten aufwecken und mit ihnen ins Pfarrhaus ziehen, um dort seine Geistlichkeit aus dem Schlaf heraus für seine Untat an den Pranger zu stellen. Gesagt, getan: Um Mitternacht stellte er sich mitten auf den Friedhof und rief die Toten bei ihren Namen. Nichts rührte sich, ob er wollte oder nicht musste er unverrichteter Dinge wieder abziehen. Wenn nicht heute, dann eben morgen, sagte er sich und versuchte es in den kommenden Nächten erneut. Immer wieder stellte er sich mitten auf den Gottesacker und rief alle Toten beim Namen, aber auch an den folgenden Tagen öffnete sich keines der Gräber. Es wollte einfach nicht so funktionieren, wie es sich der Schinder erdacht hatte, zudem blieb sein nächtliches Treiben auf dem Friedhof nicht ganz unbeobachtet. Hinter seinem Rücken brodelte bereits die Gerüchteküche und überall erzählte man sich, dass sich der Büchser Joan des Nachts auf dem Friedhof herumtriebe. Solch eine Bloßstellung konnte auch der Schinder nicht einfach überhören und ob er wollte oder nicht, musste er fortan sein nächtliches Treiben auf dem Friedhof unterlassen. Schmerzlich gestand er sich ein, dass ihn die vielen Gebete und Anrufungen der Toten nicht zum Ziel gebracht hatten, was tiefe Verzweiflung in ihm aufkommen ließ. Es konnte doch nicht sein, nur weil dieser Pfaff seine Schuld nicht eingestand, dass er deswegen sein Kindlein nicht vom Unschuldigen-Acker ins Familiengrab umbetten konnte. Joan war so unglücklich, dass er bereits über einen Pakt mit dem Teufel nachdachte.

Der Schinder zog sich immer mehr aus der Öffentlichkeit zurück, wurde auch in den Gaststätten nicht mehr angetroffen. Voller Trauer und Hass lebte er mitsamt seiner Familie einsam auf seinem Hof. Die Geistlichkeit hingegen sah mit Freuden, dass die Wirtshausbesuche seines Widersachers in letzter Zeit der Vergangenheit angehörten, was ihm sehr gelegen kam. Die Tage zogen durchs Land und der Kirchenmann genoss allabendlich seine Wirtshausbesuche. Wieder mal hatte er zu tief ins Glas geschaut und stand erst zu später Stunde vom Stammtisch auf. Volltrunken torkelte er in Richtung Ausgang und beim Hinausschwanken lallte er vor sich hin: „Sch schönen Aaaa Abbbeeennnnd, ach schsch drauf“, und winkte mit der rechten Hand den anderen Gästen abwertend zu. Schon nach den ersten Schritten an der frischen Luft überfiel ihn ein totales Blackout.

Als er später aus seinem Rausch aufwachte, fand er sich festgebunden am Brunnen des Unschuldigen-Ackers wieder. Da ihm so einiges an Erinnerung der letzten Stunden fehlte, wusste er nicht, wie ihm geschehen war und rief flehend um Hilfe. Doch keiner im Dorf konnte oder wollte ihn hören. Erst am frühen Morgen entdeckten ein paar Frühaufsteher den Trunkenbold auf dem Friedhof. Der Pfarrer schämte sich vor den ihn verhöhnenden Dorfbewohnern, denn während sie ihn aus seiner misslichen Lage befreiten, trugen alle ein hämisches Grinsen im Gesicht.

Nach dieser Geschichte wollte und konnte den Kirchenmann niemand mehr ernst nehmen, weswegen er auch vom Bischof in eine andere Pfarrei strafversetzt wurde. Der Schinder triumphierte über seinen Sieg, doch der Kummer und der innerliche Zorn, weil er sein Kindlein noch immer nicht ins Familiengrab umbetten konnte, hatten ihn bereits so krank werden lassen, dass er bald darauf starb.

Langsam kehrte im Dorf wieder etwas Ruhe ein und der neue Dorfpfarrer war sehr bestrebt, zwischen Kirche und den Gläubigen wieder Eintracht einkehren zu lassen. Mit viel Feingefühl belehrte er die Witwe des Schinders eines Besseren, worauf auch sie wieder Frieden mit der Kirche schloss. Als Wiedergutmachung für die Ärgernisse, die sie mit seinem geistigen Vorgänger erfahren musste, taufte er posthum ihr ungetauftes Kindlein. So konnte sie es doch noch vom Unschuldigen-Acker zu ihrem Mann ins Familiengrab umbetten.

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