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Malle und Ginkerl
ОглавлениеHart wie die Schulbänke waren in den 50er-Jahren auch die Zeiten. Bei vielen Häusern schaute die Not zum Fenster heraus. Auch waren im Schulalltag Backpfeifen, Tatzenstock und Ohren langziehen eine selbstverständliche Erziehungsmaßnahme. Kein Mensch regte sich darüber auf, schon gar nicht die Eltern. Im Gegenteil: Wurde man vom Lehrer abgestraft, setzte es zu Hause noch zusätzlich eine Bestrafung. Doch nicht alles war schlecht oder tat weh, wir Kinder von damals hatten auch viel Spaß, denn wir durften noch draußen im Wald und auf den Wiesen spielen und herumtollen. Jene Buben im Dorf, die kein Bandenmitglied (eng befreundete Buben) waren und selbst keine eigene Hütte im Wald besessen hatten, wurden von den anderen verspottet und eiskalt ausgegrenzt. In unserem Dorf herrschten zwei Bubenbanden, die Raubritter und die Indianer. Wir Raubritter waren die Größeren und behaupteten unser Territorium im Dorfwald. Die Indianer waren die Jüngeren und mussten sich mit dem Dorfanger begnügen. Trotz verbitterter Feindschaft gab es auch Gemeinsamkeiten wie zum Beispiel, dass Mädchen in keiner Bande Mitglied werden durften. Sie durften aber bei den offen ausgetragenen Bandenkriegen zuschauen und ihre Geschwister und Freunde anfeuern. Auch wenn’s im Sommer zum See ging, war man sich einig und alle Kinder vom Dorf gingen gemeinsam zum Baden.
Eines Tages zog eine neue Familie in unseren Ort. Vater hatte den Chefposten in der örtlichen Sparkasse bekommen, Mutter war Hausfrau und putzte nebenbei in der Schule. Mit ihnen kamen auch zwei neue Kinder zu uns, zwei Jungs. Mario, der Ältere, war ungefähr zehn Jahre alt und ein unheimlicher Lausbub, darum wurde er von seinen Eltern nur Malefizian25 gerufen. Der achtjährige Bruder war eine lange, dünne Bohnenstange, hieß Paul und hatte überhaupt kein Sitzleder. Für seine Eltern war er nur das Springinkerl33. Neu in unserem Dorf zu sein bedeutete fürs Erste totale Isolation von uns Dorfkindern, denn wer hier Einzug halten wollte, der musste sich erst beweisen. Alles klar, aber was bedeutete das für die zwei?
Die ersten Tage zogen sie alleine durchs Dorf und erkundeten alle Plätze. Da gab’s zum Beispiel den Dorfplatz, der anscheinend ein beliebter Treffpunkt für Alt und Jung war. Im Moment war gerade niemand vor Ort, so setzten sich die zwei Brüder dort auf eine Bank. Als Mario einen Schluck Wasser trinken wollte, bemerkte er, dass der Brunnen im Inneren stark verschmutzt war. Spontan meinte er zu seinem Bruder: „Komm, Paul, lass uns den Brunnen reinigen, vielleicht lassen uns dann die anderen Kinder hier mitspielen.“
Gesagt, getan. Also schlichen sie nach Hause und ließen dort eine Flasche Haarshampoo mitgehen. Wieder zurück am Brunnen, schüttete man einen ordentlichen Schluck davon ins Wasser. Ob sich die Schmutzränder lösten, konnten sie nicht mehr feststellen, denn sofort quoll eine Unmenge Schaum über den Brunnenrand und überflutete den ganzen Dorfplatz mit Seifenschaum. Springinkerl bekam es mit der Angst zu tun und sagte zu Malefizian: „He, bevor man uns hier erwischt, wäre es besser wir hauen ab.“
Nachkommende Passanten waren verwundert und schlugen sofort Alarm. Als später die Feuerwehr die Sache wieder in Ordnung gebracht hatte, fanden alle diesen Lausbubenstreich zum Lachen, aber nicht die Eltern, da kam so einiges auf die zwei Brüder zu. Auch wir anderen Kinder fanden die Aktion nicht so lustig, darum mussten Malefizian und Springinkerl weiterhin alleine durchs Dorf ziehen. Ein paar Tage später war ihnen immer noch recht langweilig. Da kamen sie auf die Idee, man könnte doch den verflixten Geldbörsentrick spielen. Flugs wurde eine alte Geldbörse an einen festen Zwirn gebunden und mitten auf den Bürgersteig gelegt. Selbst legte man sich hinter dem Thujenzaun auf die Lauer. Ging nicht lange und der erste vermeintliche Finder fiel auf den Trick herein. Der lachte noch über den Schabernack, aber schon beim nächsten Kandidaten, der darauf hereinfiel, hagelte es wüste Schelte. Als dann auch noch der Bürgermeister des Weges kam, war dieser von diesem Dummejungenstreich nicht gerade entzückt und zog den zwei Bengeln die Ohren lang. Dumm gelaufen, zudem langweilte dieser Spaß uns Kinder vom Dorf noch viel mehr als der Brunnenstreich.
Mit der Zeit wurden Malefizian und Springinkerl von der Langeweile regelrecht geplagt. Als sie an einem Samstag-abend auf dem Nachhauseweg an der örtlichen Kirche vorbeikamen, wollte Karl unbedingt das Gotteshaus von innen begutachten. Man war alleine, so konnten sich die zwei jeden Winkel dieser Kirche genauer anschauen. Als sie auf der Empore die Orgel entdeckten, hatte Malefizian eine Idee. Schwups organisierten sich die zwei Lausbuben das benötige Material und schon stand die Überraschung für die sonntägliche Messfeier parat. Als am nächsten Morgen die Orgel zum Einzug in die Kirche erklang, strömten plötzlich aus verschiedenen Orgelpfeifen eine Unmenge von Seifenblasen und tänzelten auf das Volk nieder. So einen Kircheneinzug gab’s im Dorf noch nie, im Gegenzug handelten sich Malefizian und Springinkerl zwei Wochen Hausarrest ein.
Bei uns Kindern im Dorf machte das schon etwas Eindruck, aber um endlich voll und ganz von uns akzeptiert zu werden, nahmen die zwei Brüder unseren Lehrer ins Visier. In der großen Pause schlichen sie sich zurück ins Klassenzimmer. Dort zersägte Paul den Tatzentsock und Mario schmierte den Stuhl des Pädagogen mit Honig ein. Es zeigte Wirkung, mit einer riesigen Wut im Bauch und einem hochroten Gesicht kassierte sich der Pädagoge die zwei Übeltäter: „Kommt her, ihr vermaledeiten Rotzfratzen, ihr verkommenen Figuren, euch werde ich noch Mores lehren.“ Vor uns Schülern zog der gestrenge Herr diesen Übeltätern den Hosenboden stramm. Mit dieser Züchtigung rächte er sich regelrecht an ihnen, zudem wollte er damit uns anderen Schülern erneut demonstrieren, dass sich Ungehorsam nicht lohnt. Gut, bei den Mädchen hat das sicher Eindruck hinterlassen, aber bei uns Buben standen die zwei „Helden des Tages“ ab sofort hoch im Kurs. Fazit; Mario durfte sich bei uns Raubrittern unterordnen und bekam den Spitznamen „Malle“ (Malefizian). Paul wurde heldenhaft bei dem Indianer mit dem Spitznamen „Ginkerl“ (Springinkerl) aufgenommen.
Zwischenzeitlich wurde es Sommer und die großen Schulferien hatten angefangen. An sonnigen Tagen verbrachten Malle und Ginkerl ihre Freizeit zusammen mit uns anderen Kindern am See. Wenn’s kein Badewetter gab, streiften sie zusammen mit ihren Bubenbanden durch Wald und Wiesen. Auch bauten sich die zwei Brüder ihr eigenes Refugium, eine Hütte im Wald. An einem wolkigen Tag, an dem es nicht regnete, saßen die zwei in ihrer Hütte und rauchten heimlich Zigaretten. Dabei grübelten sie darüber nach, was sie wohl mit dem angebrochenen Nachmittag anfangen könnten. Da meinte Paul: „Komm, Mario, lass uns drüben am Waldrand ein Feuer machen, wenn die anderen den Rauch sehen, kommen sie sicher gleich angebraust.“ Gesagt, getan, sogleich entfachte man am Waldrand ein Lagerfeuer. Der Rauch stieg auf und wie vermutet traf sich bald darauf die ganze Dorfjugend am Feuer. Natürlich wollte jeder von uns das Lagerfeuer nähren und warf einen Prügel in die Glut. Nicht lange und die Flammen loderten hoch hinaus, so hoch, dass die darüber hängenden Äste Feuer fingen. Sofort rannten wir Dorfkinder weg, nur Malle und Ginkerl blieben zurück und versuchten den Brand zu löschen. Nützte aber nichts, denn die stets höher lodernden Flammen wurden immer gefährlicher für sie. Diesmal schlugen sie freiwillig Alarm und erneut durfte die Feuerwehr wegen diesen zwei Lausbuben ausrücken. Glück im Unglück, denn noch bevor das Feuer auf den Wald übergriff, konnte es gelöscht werden. Diesmal setzte es nicht nur Hausarrest. Nebst einer Tracht Prügel wurden die beiden zusätzlich zum Strafdienst in der Gemeinde verdonnert. Wir anderen Kinder hatten Glück und kamen ungeschoren davon, aber nur weil die zwei Brüder uns nicht verpfiffen und die ganze Schuld auf sich genommen hatten.
Bevor die Ferien zu Ende gingen, bekam die Familie Besuch von Tante Frieda. Wie immer, wenn Besuch angesagt war, mussten die zwei Burschen zu Hause bleiben. Dann hieß es ordentlich am Tisch sitzen und wenn man was gefragt wurde, aufrichtig und deutlich antworten. Wenn Oma zu Besuch kam, schaute sie stets, dass die zwei Fägnäster7 schnellstens hinaus zum Spielen kommen. Nicht so Tante Frieda, die nutzte immer die Gelegenheit, um die zwei Neffen endlos auszufratscheln. Doch diesmal fand ihr Besuch an einem heißen Sommertag statt und die Familie setzte sich im Garten unter den Apfelbaum. Die Hitze machte Tante Frieda arg zu schaffen, darum hatte sie kein großes Interesse, die Buben länger auszufragen und die zwei Jungs durften spielen gehen. Die komische Tante ging ihnen nicht aus dem Kopf und sie dachten nach, wie man sie ein wenig veralbern könnte. Sogleich hatte Malle eine Lösung parat. Er schlich sich in Nachbars Hühnerstall und holte eine Ladung Hühnermist. Währenddessen kehrte Ginkerl zur Familie in den Garten zurück und verwickelte die Tante in ein kurzes Gespräch: „Tante, wie lange bleibst du beute bei uns?“
„Lieber Bub, mein Bus fährt um 18 Uhr vom Dorfplatz. Warum fragst du?“
„Nur so, damit wir rechtzeitig zurück sind, um uns von dir zu verabschieden.“
„Ach Margit, ihr habt wirklich zwei ganz liebe und nette Buben. Wenn ich nur auch Kinder hätte“, jammerte die Tante der Mutter vor.
Ginkerl wollte das folgende Gespräch nicht länger verfolgen und kehrte sogleich zu seinem Bruder zurück. Was aber niemand bemerkt hatte war, dass der Lausbub die Rouge-Dose der Tante aus der Handtasche geklaut hatte. Mit Vergnügen kratzten die zwei die restliche Paste aus der Dose, mischten diese mit Hühnermist und schmierten dann die neu entstandene Paste zurück in die Dose. Noch schnell den Wattepad obendrauf und schon war das Überraschungspaket für die heißgeliebte Tante fertig.
Wie versprochen erschienen die zwei zur Verabschiedung und man gab der Tante noch ein Küsschen mit auf den Weg. Dabei steckte Paul heimlich die Rouge-Dose zurück in ihre Handtasche. Endlich brach der Besuch auf. Unterwegs zum Dorfplatz blieb die Tante plötzlich stehen und puderte sich kurz ihr Gesicht, damit ja keine glänzenden Hautstellen ihren Teint verunzierten. Die Jungs beobachteten sie dabei genau, doch es kam keine Reaktion, keiner der beiden konnte das verstehen. Erst am nächsten Tag erreichte ein missbilligender Anruf die Eltern. Warum erst am nächsten Tag, ist die Tante vielleicht die ganze Zeit mit ihrer Duftwolke und den dunklen Flecken im Gesicht im Bus mitgefahren und hat es erst zu Hause bemerkt?
Egal, es änderte sowieso nichts daran, dass diese Aktion für die zwei erneut mit ein paar ordentlichen Backpfeifen und Hausarrest bis zum Schulbeginn endete. Mit dieser Aktion neigte sich auch dieser erlebnisreiche Sommer seinem Ende zu und auch für die zwei Lausbuben fing ein neues Schuljahr an. Malle kam ins Internat und besuchte dort das Gymnasium. Dies war ganz sicher der Hauptgrund dafür, dass sich für die Eltern von Mario und Paul das folgende Schuljahr weniger anstrengend gestaltete. Was schlussendlich aus den zwei Brüdern geworden ist, weiß in unserem Dorf niemand, denn schon zwei Jahre später war die Familie wieder weggezogen.