Читать книгу Stadt ohne Licht - Ernst Meder - Страница 10

4. Kapitel

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Sie lag in dem Bett und haderte mit ihrem Schicksal. Wie konnte man nur so dumm sein, nach all den Einbrüchen die Wohnungstüre nur einfach zuzuziehen. Natürlich hatte sie schon von diesen einschlägig bekannten Gaunern gelesen, die einfach mit einer Scheckkarte oder einem selbst gebogenen Haken die Türe öffnen konnten.

Alle die schönen Pläne, die sich ausgemalt hatte, wie sie dem Jungen hatte helfen wollen, aus dem Gefängnis entlassen zu werden. Er war zu Unrecht eingesperrt worden, nur weil er einer alten Frau geholfen hatte, ohne darauf zu achten, ob ihm etwas geschieht. Alles zunichtegemacht durch ihre Unachtsamkeit.

Jetzt überlegte sie verzweifelt, was hatte ihre Mutter ihr zu erzählen versucht, was hatte sie damit gemeint, als sie sagte „aber Kind dass ist doch Deine Vergangenheit, die kann Dir doch nicht gleichgültig sein“.

Sie hatte ihr ziemlich eindeutig zu verstehen gegeben, dass sie im Hier und Jetzt lebe und von ihrer andauernden Rückkehr in die Vergangenheit nichts wissen wolle. Sie solle sie ein für alle Mal nicht mehr damit belästigen. Außerdem könne sie solange in der Vergangenheit leben, wie sie wolle, wenn sie damit in Ruhe gelassen werde.

Ihre Mutter hatte sie nur traurig angesehen, wenn Du in ferner Zukunft etwas darüber wissen möchtest, wo Deine Wurzeln liegen, dann kannst Du lesen was ich für Dich aufgeschrieben habe.

Dieser Disput war der Letzte, den sie über die Vergangenheit geführt hatten, danach fiel nie wieder ein Wort darüber. Nun war sie in der Situation, dass sie gerne etwas über die Vergangenheit gewusst hätte, vor allem den Zusammenhang mit diesem Vohberg.

Der Hass, mit dem ihre Mutter von dem damals vierzig- bis fünfzigjährigen Mann gesprochen hatte, musste so weit in der Vergangenheit liegen, dass sie sich nicht an ihn erinnern konnte. Seit dem Zeitpunkt an dem sie zu denken in der Lage war, hatte ihre Mutter nichts mit diesem Mann zu tun gehabt. Er war also kein ehemaliger Liebhaber, der sie verlassen hatte und den sie deshalb mit ihrer Wut verfolgte.

Die Grübelei schien endlich zu etwas zu führen, was tief vergraben in ihrer Erinnerung verborgen war. Dieses Brüten erinnerte sie an Geschichten, die sie über Ausgrabungen gelesen hatte. Wie diese Vertreter der Wissenschaft, die sich ausschließlich mit der Vergangenheit befassten, diese Spuren durch archäologische oder paläontologische Freilegung verfolgten. Wie Archäologen Schichten von Erde oder Steinen beseitigten, um endlich zu dem gesuchten Artefakt zu gelangen.

Genau so fühlte sie sich jetzt, sie versuchte die Schichten, die sich im Laufe der Jahre über die Erinnerungen gelegt hatten, Schicht für Schicht zu beseitigen. Es war wichtig mit der Vorsicht eines Archäologen vorzugehen, um nicht etwas zu zerstören, was den Zusammenhang der wiedergefundenen Erinnerungen trüben konnte.

Jetzt war es zu spät sich Vorwürfe zu machen, dass sie sich nicht mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen wollte. Damals hatte sie sich jedoch nur für die Gegenwart interessiert. Das hatte sie auch versucht ihrer Mutter zu erklären, die Vergangenheit ist doch vorbei, nichts was ich tue, kann sie ändern. Die Zukunft ist noch nicht da, um sie zu ändern, müsste man sich in der Zukunft befinden. Wenn man sich jedoch in der Zukunft befände, wäre man in der Gegenwart.

Ihre Mutter hatte sich geweigert ihren, wie sie immer sagte, verqueren Gedankengängen zu folgen. Sie behauptete immer, nur wer seine Wurzeln kennt, kann seine Zukunft beeinflussen. Hier begann die Diskussion aufs Neue, es war ihnen nie gelungen, Konsens bei der Auseinandersetzung zu erzielen.

Auf der Suche nach dem Vergessenen hatte sie eine Spur entdeckt, sie hatte sich an etwas erinnert, was ihre Mutter über Vohberg gesagt hatte. Auch wenn es nur Schlagworte waren, so waren diese doch bezeichnend für ihr Verhältnis zu ihm. Sie hatte ihn einen Dieb und Mörder genannt, hatte allerdings nie ausgeführt, weshalb sie der Meinung war, dass er ein Dieb und Mörder war.

Langsam kamen in ihren Erinnerungen diverse Gesprächsfetzen oder vereinzelte Aussagen zum Vorschein, an die sie sich nicht erinnern konnte, sie bewusst gehört zu haben. Es hatte genau an jenem Tag begonnen, als sie Johann im Gefängnis besuchte, als er so verloren vor ihr gesessen hatte. Dann dieser ungläubige Ausdruck in seinem Gesicht, als er das aussprach, was sie bisher erfolgreich verdrängt hatte. Als er zu der Erkenntnis gelangt war, dass die Einbrüche und der Überfall ausschließlich mit ihr zu tun hatten.

Dieser Vorwurf war es, der dazu geführt hatte, dass sie begann, sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen. Es war sein Gesichtsausdruck, der sie antrieb in ihrer Vergangenheit zu wühlen, obwohl sie sich nie dafür interessiert hatte. Irgendwann war es in ihr Bewusstsein gedrungen, wie Nadelstiche die mit immer größer werdender Intensität auf sie einstachen.

Es ging nicht um ihre Vergangenheit, es ging um die Vergangenheit ihrer Mutter. Weshalb sie so sicher war, dass es um ihre Mutter ging, das war ziemlich einfach, ihr Vater war in den letzten Kriegstagen bei einem Unfall ums Leben gekommen. Das war das Einzige, was sie über ihren Vater wusste, ihre Mutter hatte sich immer geweigert, über ihren Vater zu reden.

Weshalb eigentlich, jetzt wo diese Fragen entstanden, war niemand mehr da um ihre Fragen zu beantworten. Hatte sie ihn totgeschwiegen, weil er einer jener Kriegsverbrecher war, über die man nach dem Krieg den Mantel des Vergessens ausgebreitet hatte. Er hatte an diesem Krieg teilgenommen, wo und in welcher Funktion er beteiligt war, darüber wurde geschwiegen.

Sie hatte angenommen, dass es, wie in anderen Familien auch, dieses seltsame Schweigen gegeben hatte. So als hätte es ein kollektives Schweigegelübde unter den Schuldigen, oder selbst ernannten Unschuldigen gegeben. Die Abwehr bei unangenehmen Fragen war immer gleich, „man wolle endlich vergessen“, oder „es liegt schon so lange zurück“, und wenn all dies nicht half, „auch die Anderen haben Verbrechen begangen“. Damit hatte man sich reingewaschen, neben dem kollektiven Schweigegelübde gab es dann ein kollektives Verdrängen.

Auch ihre Mutter hatte ähnlich reagiert, sie hatte sich geweigert, über bestimmte Dinge zu reden. Wenn sie etwas zu der Vergangenheit sagen sollte, dann nur, wenn sie die Themen bestimmen konnte, über die gesprochen werden sollte. Vielleicht war dies einer der Gründe, weshalb sie sich geweigert hatte, mit ihrer Mutter über die Vergangenheit zu reden.

Es machte sie von Tag zu Tag trauriger, als sie feststellte, dass die Fragmente aus ihrer Erinnerung zu keinem Ergebnis führten, welche diese unsägliche Haft von Johann beendete. Gegen den Rat ihres Arztes und trotz ihrer Beschwerden fuhr sie nach den Weihnachtsfeiertagen nach Kiel. Sie würde sich bei ihrer Freundin einquartieren, mit ihr in das neue Jahr feiern und in den ersten Tagen des neuen Jahres zur Bank gehen.

Sie ärgerte sich über ihre Dummheit, das Bankschließfach nicht aufgelöst zu haben, als sie ihren Lebensmittelpunkt nach Berlin verlegte. Aber sie hatte es schlichtweg vergessen. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie deren Unterlagen, mit nach Kiel genommen. Um nicht täglich mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden, hatte sie es in einem Schließfach untergebracht. Sie wollte diese Objekte ihres permanenten Streits mit ihrer Mutter nicht in ihrer Nähe haben.

Das Schließfach war günstig, die Gebühr wurde einmal im Jahr direkt ihrem Konto belastet, sodass mit der Zeit die Abbuchung als normaler Vorgang wahrgenommen wurde. Die Ursache der Abbuchung, das Schließfach, geriet hingegen immer mehr in Vergessenheit. Dies war auch die Ursache dafür, dass sie das Schließfach da beließ, wo sie mehr als zwanzig Jahre ihres Lebens verbracht hatte.

Sie hatte gerne in dieser Stadt gelebt, hatte Freundschaften geschlossen und ihren späteren Ehemann an der Schule kennengelernt. Sie hatte aber auch in dieser Stadt ihren Ehemann verloren, als dieser nach einer Krebserkrankung starb. Dies war auch einer der Gründe, weshalb sie wieder in ihre Heimatstadt zurückgegangen war.

Einer der Gründe, die ihre enge Beziehung mit ihrem Mann begründete lag bestimmt darin, dass sie beide keine weitere Familie hatten. Wir begründen eine neue Ära, mit uns beginnt eine neue Generation. Dazu war es bedauerlicherweise nie gekommen, da irgendjemand nicht wollte, dass sie ein Kind bekommen konnte. Auch damals war man traurig, wenn man sich ein Kind wünschte, aber es nicht zu einer Schwangerschaft kam. Im Gegensatz zu heute, wo durch künstliche Befruchtung, oder wie der medizinische Eingriff genannt wurde, assistierte Reproduktion häufig der Kinderwunsch erfüllt wird, war es damals nicht möglich.

Der Bankangestellte blickte ungläubig auf die alte Dame, die vor ihm stand, »sie wollen zu dem Schließfach sechsundzwanzigvierundvierzig«.

»Was ist daran so verwunderlich«, Elisabeth verstand nicht, weshalb der Bankangestellte sie so anblickte, warum sein Gesichtsausdruck so aussah, als würde er einen Geist sehen.

Er räusperte sich, »Verzeihung gnädige Frau, bitte entschuldigen Sie meine Verwunderung«, er zögerte, »es ist dieses Schließfach«.

»Was soll mit diesem Schließfach sein«, Elisabeth, der die Schmerzen in ihrer Hüfte immer noch zusetzten, wurde langsam ungeduldig.

»Ich bitte nochmals um Entschuldigung, aber«, er beugte sich leicht vor, »um dieses Schließfach rankten sich bereits die wildesten Gerüchte. Als ich vor fünfundzwanzig Jahren hier in der Bank mit meiner Ausbildung begann, war man bereits etwas verwundert, dass seit mehr als fünfzehn Jahren niemand an dem Schließfach war. Nachdem jedes Jahr die Gebühr Ihrem Konto belastet wurde, Sie jedoch nie in der Bank erschienen um etwas zu entnehmen oder etwas einzulegen wurden die Gerüchte immer abenteuerlicher«.

Dann flüsterte er noch leiser, »inzwischen gibt es schon Wetten unter Kollegen, wie lange das Schließfach sechsundzwanzigvierundvierzig nicht geöffnet wird«.

»Woher wollen Sie wissen, dass ich nicht doch während der Zeit an meinem Schließfach war und etwas entnommen habe«.

»Das ist unmöglich, natürlich wird jeder Besuch an einem der Schließfächer protokolliert, damit kann man sehr genau feststellen, wie häufig jemand sein Schließfach aufsucht. Es ist nur verwunderlich, dass jemand mehr als vierzig Jahre sein Schließfach nicht aufsucht«.

»Darf ich denn jetzt endlich zu meinem Schließfach oder soll ich wieder vierzig Jahre warten«.

Auf dem Weg zum Aufzug bemerkte Elisabeth noch Handzeichen des Angestellten zu seinen Kollegen, als er sich unbeobachtet fühlte. Sehr wahrscheinlich wurde bereits eine Liste der Wetteinsätze hervorgeholt, um zu überprüfen, wer die Wette gewonnen hatte.

Nachdem die Prozedur des Aufschließens abgeschlossen war und die Aufbewahrungsbox auf einem Tisch abgestellt war, verabschiedete sich der junge Mann.

»Bitte lassen Sie sich Zeit, wenn Sie fertig sind, drücken sie auf diesen Knopf, dann komme ich, oder ein Kollege um die Box wieder zurückzustellen«.

Sie saß allein vor der Box, legte ihre Hand auf Griff dann zögerte sie, was befand sich darin, was hatte sie vor mehr als vierzig Jahren in dieses Fach gelegt. Sie wusste noch, dass sie die gesammelten Werke ihrer Mutter genommen hatte und in einer Mappe verstaut hatte. Außerdem wusste sie nur noch zu gut, dass sie sich damals geweigert hatte, diese Unterlagen zu sichten. Weder als sie die Unterlagen an sich genommen noch als sie die Unterlagen in das Schließfach legte, hatte sie etwas davon gelesen.

Trotzdem erinnerte sie sich noch an die Farbe des Tagesbuchs ihrer Mutter, welches diese immer wie ein Heiligtum in einem abschließbaren Fach verstaut hatte. Es war hellbraun, hatte diesen etwas groben Leinenumschlag, der an der Vorderseite bereits durch das häufige Öffnen etwas dunkler geworden war.

Nachdem ihre Mutter ihr Tagebuch so vor allen Personen geschützt hatte, wäre es ihr wie ein Vertrauensbruch vorgekommen, hätte sie unmittelbar nach dem Tod ihrer Mutter deren geheime Gedanken gelesen.

Auch als sie die Unterlagen nach Kiel mitgenommen hatte, war sie nur einmal kurz versucht, in die Unterlagen zu sehen. Sie wusste selbst nicht, weshalb sie erneut zögerte, vielleicht war noch nicht genug Zeit verstrichen, sie hätte es nicht sagen können. Auch da fühlte es sich noch so an, als wäre das Lesen fremder Geheimnisse ein Missbrauch des Vertrauens.

Vorsichtig, als würde jemand oder etwas aus der Box entweichen, hob sie den Deckel an und stellte erleichtert fest, dass offensichtlich alles unverändert vor ihr lag. Verwundert stellte sie fest, dass sich auf einigen dieser olivgrünen Schnellhefter noch ein Hakenkreuz im Kreis befand. Über dem Kreis war mit ausgebreiteten Flügeln ein Adler oder Geier. Schnell blätterte sie die Schnellhefter, Papiere sowie das alte Schulheft durch, bis sie auf das Tagebuch ihrer Mutter stieß.

Sie versuchte alle Emotionen beiseitezuschieben, als sie danach griff, es unter den anderen Papieren hervorzog und vor sich auf den Tisch legte. Nun würde es geschehen, nun würde sie die Geheimnisse lüften, die ihre Mutter über Jahrzehnte vor ihr verborgen hatte.

Langsam schlug sie die Umschlagseite auf, als sie auch schon ein Gefühl in ihrem Nacken spürte, so als stände ihre Mutter hinter ihr, um missbilligend ihr Tun zu beobachten. Vorsichtig wendete sie ihren Kopf, bemerkte, dass sie immer noch allein war, und begann zu lesen.

Tagebuch Hildegard Wilhelm, Beginn Erster Januar neunzehnhundertsechsunddreißig stand da als Überschrift auf der dritten Seite des Buches. Diesen Namen hatte sie später durchgestrichen und durch den Namen ersetzt, den sie durch die Heirat angenommen hatte. Bereits auf der ersten Seite fand sie einen Hinweis auf ihre Kunst des Verdrängens. Sie hatte schon vor langem vergessen, dass der Geburtsname ihrer Mutter Wilhelm gelautet hatte, den Allerweltsnamen Müller hatte sie erst mit ihrer Heirat angenommen.

Elisabeth blätterte auf die nächsten Seiten, wobei sie die Einträge überflog, die ihrer Mutter damals wichtig erschienen. Ihre erste heimliche Liebe zu einem Kurt, die nicht erwidert wurde, die Verabredung mit einer Freundin zu einem Ausflug. Dann ein Hinweis, dass ein Schulkamerad nicht mehr in ihre Klasse durfte, weil er Jude war. Das war der erste und einzige Eintrag, den ihre Mutter über diese Ausgrenzung geschrieben hatte. Wahrscheinlich fühlte sie sich zu dem Jungen hingezogen, wollte es aber noch nicht einmal ihrem Tagebuch anvertrauen.

Einige Seiten und einige Liebeleien später der erste emotionale Aufschrei „Ich habe mich verliebt“ stand da, dann folgte von Herzchen umkreist der Name „Heinrich“. Ein Blick auf das Datum zeigte, dieses große umwälzende Ereignis geschah bei einem Badeausflug am achten August neunzehnhundertsiebenunddreißig. Die Beschreibung dieses Ereignisses hatte mit der Realität wahrscheinlich wenig zu tun, denn aus jedem Wort war das Gefühl des Verliebt seins zu spüren.

Er hatte sie am Wannsee angesprochen, sich zackig mit seinem Namen vorgestellt und sie zu einer abendlichen Tanzveranstaltung eingeladen. Er sah so schneidig aus in seiner Uniform, stand wortwörtlich da zu lesen. Es folgten noch einige schwärmerische Adjektive, die alle nur durch eine rosa Brille zu erklären waren.

Auch auf den späteren Seiten erschien immer wieder dieser Name „Heinrich“, wenn auch mit weniger Empathie. Dafür wurde bewundernd über seine Beförderungen geschrieben, die neuen Tätigkeiten, über die er nicht reden durfte.

Langsam blätterte Elisabeth über die nächsten Seiten, las Nichtigkeiten über unterschiedlichste Unternehmungen, bis der nächste euphorische Ausbruch erschien. Am einunddreißigsten Dezember stellte er die längst erhoffte Frage. „Willst Du mich heiraten“, hatte er beim Anstoßen der Sektgläser gefragt. Sie war ihm jubelnd um den Hals gefallen und hatte unzählige Male mit Ja geantwortet. Das neue Jahr beginnt wunderbar, er hat mir gesagt, dass er mich am zwanzigsten April, dem Geburtstag unseres Führers, heiraten möchte.

Auch noch mehrere Einträge später war die Aufregung in den Einträgen spürbar, sie hatte es geschafft, ihre große Liebe hatte sie gefragt, er wollte sie heiraten. Die Aufregung während der Vorbereitung bis zu jenem Mittwoch, der ihr Glück vor aller Welt besiegeln würde.

Es folgten Notizen über die Feierlichkeiten, das Trinkgelage einiger Gäste sowie die enttäuschende Hochzeitsnacht. Ich hatte mich für ihn aufbewahrt, stand da mit zittriger Schrift, so als ob die Erinnerung sie daran immer noch immer aufregte. Während der Feier hatte er bereits zu viel getrunken und mit dem Buch des Führers geprahlt, welches alle Hochzeitspaare erhielten, die an seinem Geburtstag heirateten.

Ich war zuerst im Badezimmer, hatte mich vorbereitet, Zähne geputzt, extra noch einmal gewaschen, dann bin ich im Unterrock zurück ins Zimmer. Während Heinrich im Badezimmer war, habe ich meinen Unterrock ausgezogen, bin unter die Bettdecke geschlüpft und hatte nur noch meinen Schlüpfer und BH an. Als er aus dem Bad kam, hat er so komisch schief gegrinst, sodass ich mich gefragt habe, was er damit ausdrücken möchte. War er verlegen oder fühlte er sich mir überlegen, ich wusste es nicht, ich kannte ihn noch nicht so gut.

Er hat mir wehgetan, hat ungeschickt am Verschluss des BHs gefummelt, bis ich ihn geöffnet habe. Während ich noch mit dem BH beschäftigt war, hat er mir den Schlüpfer ziemlich heftig ausgezogen. Noch ehe ich wusste, was nun geschehen würde, spürte ich diesen Schmerz, von dem ich dachte, er zerreißt mich. Als der Schmerz langsam nachließ, begann er heftig zu schnaufen, ließ sich auf mich fallen. Dann drehte er sich um und schlief sofort ein.

Mein erster Gedanke war, wegen dieser schmerzhaften Prozedur wollen alle heiraten. Wenn der Schmerz nachgelassen hat, beginnt der Bauch zu wachsen danach kommt die nächste schmerzhafte Prozedur, die Geburt. Mein liebes Tagebuch, ich kann mir nicht vorstellen, dass die Frauen, die mich zur Hochzeit beglückwünschten, diese Schmerzen gemeint haben. Ich habe mich in den Schlaf geweint, morgen werde ich Mutter fragen, ob es wirklich so schmerzhaft sein muss.

Elisabeth traute ihren Augen nicht, sie konnte sich nicht vorstellen, dass damals nicht vorher ein Gespräch stattgefunden hat, wo Frauen auf den Schmerz der Defloration hingewiesen wurden. Den Ablauf des Geschlechtsverkehrs empfand sie als erniedrigend, Mitleid mit ihrer Mutter kam auf. War sie das Ergebnis dieses Aktes, dann beruhigte sie sich, nein das konnte nicht sein, die Schwangerschaft beim Menschen betrug nur neun Monate und nicht wie beim Elefanten fast zwei Jahre.

Weitere Enttäuschungen folgten, auch wenn die Schmerzen irgendwann verschwanden. Trotzdem klagte ihre Mutter ihrem Tagebuch ihr Leid über diese unbefriedigende Form der Vereinigung. Ihn schien es nicht sonderlich zu stören, er hatte im Gegenteil das Gefühl, das er seinen ehelichen Pflichten in ausreichender Form nachkam, nun solle sie ihm gefälligst einen Sohn schenken.

Elisabeth blätterte weiter, es war deprimierend, wie konnte ihre Mutter dies nur so lange aushalten, vor allem, war sie das Produkt einer derartigen erniedrigenden Vereinigung. Eine Eintragung ließ sie unwillkürlich innehalten. Ein neuer Name tauchte unvermittelt auf, ohne dass er vorher je erwähnt wurde. Der neue Name war Leo, wie Elisabeth durch eine schnelle Überprüfung feststellte, war der Name bei den Folgeeinträgen allgegenwärtig.

Dann die Erkenntnis ihrer Mutter in dem Tagebuch, „ich habe mich geirrt, ich liebe Heinrich nicht, habe ihn nie geliebt“. Es war ein Gartenfest in dem Innenhof des Mietshauses direkt neben unserer Wohnung. Meine Freundin Helga nahm mich mit, da Heinrich bei einer Veranstaltung seiner Partei war. Alle Bewohner des Hauses haben sich im Innenhof versammelt und gefeiert, als ich ihn gesehen habe.

Ich fragte Helga, wer das ist, da sagte sie schon „Finger weg“ das ist Leo Bernstein, er ist Jude und er ist verheiratet. Ich beobachtete ihn unauffällig, blickte zu der großen schlanken Gestalt, die sich in ihrem eleganten Anzug von den anderen Gästen abhob. Er hatte ein schönes Gesicht mit dunklen Augen und dunklen Haaren, trotzdem war um seinen Mund ein trauriger Zug, der mein Mitgefühl mit ihm weckte.

Natürlich hatte ich mitbekommen, wie mit Juden umgegangen wurde, obwohl er hier im Innenhof von den Leuten akzeptiert wurde. Wahrscheinlich lag es daran, dass ihm das Haus gehörte, im dem sie wohnten. Es waren immer nur kurze Gespräche, die er mit ihnen führte, während er von einem zum nächsten ging.

Dann kam er zu mir, Sie habe ich noch nie hier gesehen, die Stimme klang so warm so angenehm, dass mir ein Schauder über den Rücken lief. Ich habe wohl etwas gestottert und bin rot geworden als ich ihm gesagt habe, dass ich im Nachbarhaus wohne und von einer Freundin mitgebracht wurde. Er lächelte mich an, es ist schön, Sie zu sehen. Dann ging er weiter und streifte mich im Vorbeigehen. Er war bereits bei dem nächsten Mieter, als ich etwas Ungewohntes in meiner rechten Hand fühlte. Es fühlte sich an wie ein Stück Papier, das wie zufällig in meiner Hand gelandet war.

Ich verabschiedete mich ziemlich bald, indem ich Kopfschmerzen vortäuschte, um nach Hause zu gehen. Da ich mich in dem Innenhof beobachtet fühlte, habe ich das Papier nur umklammert, ohne nachzusehen, was es damit auf sich hatte. Als ich sicher war, dass niemand mich beobachtete, habe ich den zusammengefalteten Zettel auseinandergefaltet, um zu lesen, was da stand.

Wenn Sie das Gleiche fühlen wie ich, rufen Sie mich an, stand auf dem Zettel mit einer Telefonnummer und Zeiten, an welchen er erreichbar war. Zuerst wollte ich das Papier zerreißen und wegwerfen. Ein Gefühl, dass das ein Fehler sein könnte, hinderte mich, also versteckte ich ihn in meinem Tagebuch.

Elisabeth fand einen Hinweis auf die Geschichte ihres Lebens, die sie auf mehreren Seiten hinten in das Tagebuch gelegt hatte.

Die nächsten Tage vergingen, ohne dass ich diese Nachricht vergessen konnte, trotzdem ließ ich diese unberührt in meinem Tagebuch. Meine Gedanken kreisten immer mehr um diesen geheimnisvollen Mann, während mein Heinrich sehr selten zu Hause ist.

In der folgenden Woche eröffnete Heinrich mir, dass er von Dienstag bis Sonntag in München sein muss, bei einer Veranstaltung seiner Partei.

Am Mittwoch rief ich an, seine Stimme am Telefon überraschte mich, selbstbewusst und stark klang sie, wo war die Wärme geblieben. Leo, Leo Bernstein fragte ich noch zögernd, als ich wieder die Wärme in seiner Stimme hörte. Die schöne Unbekannte sagte er zu mir, ich freue mich, dass Sie mich anrufen. Ich war bereits traurig, als Sie sich nicht gemeldet haben.

Ich, ich zögerte, ich bin verheiratet, sagte ich dann, einfach so, ohne nachzudenken, ob es zu dem passte, was er gesagt hatte. Ich weiß, ich möchte Sie trotzdem gerne sehen. Er musste mich nicht überreden, ich wollte es auch. Wir verabredeten uns an einem Haus in der Nähe der Friedrichstraße, zu dem ich mit der S-Bahn fahren konnte. Er beschrieb mir, in welcher Wohnung er auf mich warten würde.

Nach dem Telefonat saß ich auf dem Stuhl, fühlte mich als wäre ich zwischen zwei Mühlsteine geraten und der nächste Schritt, den ich machte, entschied über mein weiteres Leben. Natürlich ist mir bewusst, dass das, was ich vorhabe, verboten ist. Das heißt, ich weiß weder was ich vorhabe, noch was mich erwartet. Ist es das Verbot, das ihn und mich beeinflusste, wir spielten beide mit dem Feuer. Er bestimmt noch mehr als ich, während man mich nach der Scheidung nur beschimpfen und ächten würde, spielte er mit seinem Leben.

Leise, fast ängstlich klopfte ich an die Wohnungstüre, als diese auch schon aufgerissen wurde. Schnell zog er mich in die Wohnung, dann lag ich bereits in seinen Armen. Er küsste mich so zärtlich, wie ich noch nie geküsst worden war. Mein ganzer Körper war plötzlich mit Gänsehaut überzogen, alle Härchen standen wie elektrisiert davon ab.

Dann glitt sein Mund über mein Gesicht zu meinem Hals, dabei öffnete er langsam meine Bluse, unter der ich nur einen Büstenhalter trug. Während sein Mund langsam zu meinen Brüsten glitt, löste sich der BH wie von selbst. Als er meine Brüste endlich erreichte, waren diese bereits entblößt, warteten aufgerichtet auf seine Lippen. Mein Körper vibrierte, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte, alles drängte zu ihm, wollte nicht, dass er aufhörte.

Er lachte leise auf, strahlte mich an, dann flüsterte er mir ins Ohr, ich habe mir vieles erträumt und vorgestellt, wie unser erstes Zusammentreffen sein würde. Er pustete mir leicht ins Ohr, was mich erneut erschauern ließ, aber es hat alles übertroffen. So etwas kann man sich nicht vorstellen, kann man nicht träumen, da man nicht wusste, dass solche Gefühle existieren.

Ich wollte nicht reden, wollte nur dieses Gefühl von eben wieder, das Vibrieren meines Körpers, während seine Lippen ihn liebkosen. Das unbeschreibliche Gefühl, als wir ineinander vereint und verschwitzt auf dem Bett lagen und uns aneinander klammerten. An diesem Tag das fühlte ich, wurde der Samen für ein neues Leben in mich gepflanzt.

Als ich es aussprach, hat er mich angelächelt, noch enger an sich gezogen und gesagt, ich freue mich auf unser Kind, dann liefen ihm plötzlich Tränen über sein Gesicht. Als er sagte, auch wenn es nie unser Kind sein darf, wusste ich, weshalb er traurig war.

Wir trafen uns in dieser Woche jeden Tag in dieser Wohnung, für die ich inzwischen einen Schlüssel besaß. Wir redeten über unsere Ehen, auch er war verheiratet und hatte bereits einen Sohn. Da dieser Sohn behindert war, hatte sich seine Frau geweigert die Ehe weiter zu vollziehen, er durfte nicht mehr zu ihr ins Bett. Wir redeten über unsere Zukunft, die es nie geben würde, unser gemeinsames Kind, das nie unser Kind sein durfte.

Wir trafen uns, so oft es ging, immer wenn er oder ich mich frei machen konnten, trafen wir uns in der Wohnung und liebten uns. Er erzählte mir wie sehr er mich begehrte, als er mich zum ersten Mal gesehen hat und er war begierig zu wissen, was ich gefühlt habe. Inzwischen weiß ich was ich an jenem Tag im Innenhof gefühlt habe, es war die viel beschworene Liebe auf den ersten Blick.

Als Heinrich am Montag zurückkam, hab ich ihn verführt, habe ihm vorgemacht, dass heute ein fruchtbarer Tag sei, wenn er einen Sohn will. Als er sich von mir runter gerollt hat und zu schnarchen begann, bin ich in das Badezimmer gegangen und habe versucht, alles herauszuwaschen. Ich wollte nicht, dass sich sein Samen mit dem Samen der Liebe vermischt.

Ein paar Wochen später erhielt ich die Bestätigung dessen, was ich bereits wusste, ich war schwanger. Ich sagte es dem richtigen Vater zuerst, erzählte ihm, nachdem wir uns geliebt haben, dass sein Kind in mir wächst. Er hatte Tränen in den Augen, dieses Mal jedoch Tränen der Freude. Heinrich erzählte ich ein paar Tage später von meiner Schwangerschaft, er hielt es für selbstverständlich. Er sagte, deshalb habe ich es aufgeschrieben, eine deutsche Frau hat ihrem Führer und ihrem deutschen Mann einen Sohn zu schenken.

Elisabeth blickte überrascht auf, als sie eine bekannte Stimme vernahm. »Frau Schlüter ist bei Ihnen alles in Ordnung«.

Ja, verwirrt blickte sie auf das vor ihr liegende Buch, auf die losen Blätter dann zu dem Bankangestellten, der die Box aus dem Schließfach entnommen hatte.

»Ich habe mir Sorgen gemacht, Sie sind bereits seit drei Stunden hier unten, kann ich Ihnen einen Kaffee oder ein Wasser bringen«.

Etwas ruckartig wischte sie sich über die Stirn, »nein danke, ich habe nur eine Bitte, könnten sie die Box wieder ins Schießfach stellen, das hier werde ich mitnehmen«. Damit zeigte sie auf die Papiere, die sie gerade gelesen hatte, den Rest wollte sie heute nicht mitnehmen.


Stadt ohne Licht

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