Читать книгу Stadt ohne Licht - Ernst Meder - Страница 13

7. Kapitel

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Immer noch verwirrt trat Elisabeth aus der Bank, fühlte die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht, obwohl die Kälte von unten langsam an ihr nach oben kroch. Sie hatte nur einen Teil des Tagebuchs ihrer Mutter gelesen, trotzdem hatten die Erlebnisse ihrer Mutter sie berührt. Wenn sie jetzt zurückdachte, dann bedauerte sie so ablehnend reagiert zu haben, als sie alles aus der Vergangenheit hätte erfahren können. Wer war das Kind, das ihre Mutter damals unter ihrem Herzen getragen hat, gab es vielleicht noch einen Bruder oder eine Schwester von denen sie nichts wusste. Oder war das Kind gestorben, dass sie von diesem Leo Bernstein erwartete, war es eine Frühgeburt.

Plötzlich spürte sie eine Ungewissheit, die, je länger sie daran dachte, so unerträglich wurde, dass sie automatisch nach einem Taxi winkte. Eigentlich hätte sie diesen Weg zu der Wohnung von Hertha gut zu Fuß gehen können, sogar mit ihrer lädierten Hüfte. Nun aber zog sie es vor, schnellstmöglich an einen ruhigen Ort zu gelangen, an dem sie den Rest des Tagebuchs sowie die Notizen ohne Beobachtung lesen konnte.

Obwohl, wenn sie das Tagebuch und dieses Schreiben an ihre Tochter genauer in Augenschein nahm, so bestand zwischen beiden ein fließender Übergang. Manches hatte sie in ihr Tagebuch geschrieben, manches in diesem Schreiben an sie aufgeführt.

Sie suchte die Stelle, in dem Schreiben, an der sie durch den Bankangestellten unterbrochen wurde. Sie lächelte, als sie an seinen sorgenvollen Blick zurückdachte, was sollte denn schon in einem Tresorraum geschehen. Vielleicht hatte er gedacht, sie habe einen Herzinfarkt oder etwas Ähnliches erlitten, fiel ihr gerade noch zur Entschuldigung des Angestellten ein.

Noch mitgenommen von der Erzählung ihrer Mutter hatte sie ganz zu fragen vergessen, wer denn nun die Wette über die Öffnung gewonnen habe. Das hatte aber auch Zeit, sie würde ihn bei ihrem nächsten Besuch fragen, wer die glückliche Gewinnerin war. Sie hatte spontan, ohne es auch nur in Zweifel zu ziehen, an eine Frau gedacht, als sie daran dachte, wer sie am zutreffendsten eingeschätzt hatte.

Wir trafen uns immer am Dienstag und am Donnerstag oder wenn Heinrich verreisen musste auch häufiger. Wir liebten es uns zu berühren, versuchten auf diesem Weg die Augen vor der immer schlimmer werdenden Verfolgung zu verschließen. Leo hatte mir zu Beginn mehrfach erzählt, wie er, oder Freunde von ihm nur deshalb verfolgt, verprügelt oder auf andere Weise gedemütigt wurden, weil sie Juden waren. Zuerst ungläubig, dann erschrocken um dann mit Scham zu akzeptieren, dass all dies und Schlimmeres nur geschah, weil diese Deutschen einer anderen Glaubensgemeinschaft angehörten.

Wir haben versucht nicht daran zu denken, wenn wir uns trafen, wir lebten in einer eigenen Welt einer Traumwelt, wir lasen gemeinsam Romane oder Geschichten, die uns bewegten. Wir freuten uns über das Lachen des Anderen oder trauerten mit, wenn Tränen flossen. Und wir träumten von einem gemeinsamen Leben mit unserem Kind, welches sich inzwischen zu regen begann. Er legte sein Ohr auf meinen Bauch, versuchte auf jedes Geräusch zu lauschen. Er begann zu lachen wie ein kleiner Junge, wenn er ein Glucksen in meinem Bauch hörte, glaubte es sei von seiner Tochter. Ja Tochter, Leo war von Beginn an überzeugt, dass es nur eine Tochter werden konnte.

Heinrich war viel unterwegs zu der Zeit, schließlich sah er seine Hauptaufgabe darin, den Krieg vorzubereiten, der in diesem Jahr beginnen sollte. Leo und ich, wir hatten uns inzwischen ein gemeinsames zweites Zuhause eingerichtet, in dem wir jede freie Minute gemeinsam verbrachten. Leo hatte inzwischen begonnen Gegenstände, die ihm wichtig waren, mit in unsere Wohnung zu bringen.

Das, was er am meisten davon liebte, war seine Geige, die sich inzwischen in der dritten Generation im Besitz seiner Familie befand. Sein Urgroßvater hatte sie einst gekauft, da sein Großvater das Geigenspiel erlernen sollte. Das Talent seines Großvaters war jedoch nicht sonderlich stark ausgeprägt, sodass dieser nun seinen Vater damit quälte, um seinem Urgroßvater eine Freude zu bereiten.

Nach dem Tod seines Urgroßvaters bestand seine erste Handlung darin, die Geige in den Geigenkasten zu legen und diesen in der hintersten Ecke zu verstecken. Als sein Großvater nach der Geige fragte, wurde diese notgedrungen wieder aus der Ecke hervorgeholt, denn nun sollte sein Sohn Leo das Geigenspiel erlernen. Leo war nun der Erste in der Familie, der Freude daran hatte und diese Freude hörte man auch bei seinem Spiel.

Die letzten Jahre hatte er mit dem Spiel aufgehört, damit der Frieden in seiner Familie nicht gestört wurde. Als bei seinem Sohn immer häufiger epileptische Anfälle auftraten, hatte seine Frau sich immer mehr zurückgezogen, um sich ausschließlich um den Jungen zu kümmern. Sein Geigenspiel hätte diesen Frieden zu Hause nur gestört, ihre mühsam erkämpfte Balance ins Wanken gebracht.

Nun gab er für mich und unser ungeborenes Kind regelmäßig Violinkonzerte seiner Lieblingskomponisten. Es war der fünfte oder sechste Monat meiner Schwangerschaft, als er an einem Donnerstag ein dickes Buch mitbrachte, aus dem er mir vorlesen wollte. Er wirkte dabei so traurig, dass ich ihn fragte, weshalb er so traurig ist. Es ist die Geschichte unserer Liebe, auch wenn diese Geschichte bereits mehr als dreihundert Jahre alt ist. Es ist die Geschichte zweier Liebender, die wegen der Feindschaft ihrer Familien nicht zueinander kommen konnten.

Er las aus Romeo und Julia vor, verglich unsere Situation mit der der verfeindeten Familien Montague und Capulet, dann nannte er mich zärtlich seine Julia. Es muss die Hoffnung geben, dass dieses unmenschliche Regime nicht so lange existiert wie selbst beschworen, wie sonst sollte die Menschheit ein System wie dieses überleben.

Dann erzählte er mir von seiner Angst, alles zu verlieren was seine Familie über viele Generationen angesammelt, was seine Vorfahren sich erspart haben. Er hätte es am liebsten mir oder unserem Kind übertragen, aber aus bekannten Gründen war dies nicht möglich. Nach und nach erzählte er mir von seinem Plan, sprach von dem deutschen Schulfreund, der ihm über die Jahre in Freundschaft verbunden geblieben war. Er war der Einzige, der ihm in jener Nacht, als die Nationalsozialisten Synagogen niederbrannten und Juden verfolgten, geholfen hatte. Ihm vertraue er rückhaltlos, mit ihm habe er einen Plan entwickelt, wie er sein Eigentum schützen könne.

Mit ihm werde er einen Vertrag schließen in dem er ihm sein Eigentum, das im Wesentlichen aus dem Mietshaus bestehe, übertrage. Um diesen Vertrag nach außen wirksam werden zu lassen, würden sie so tun, als ob er das Haus von ihm gekauft hat. Zugleich werden sie einen zweiten Vertrag schließen, in dem festgehalten wird, dass die Übertragung nur pro forma erfolgt sei. Sein Freund habe keineswegs die Mittel um das Haus zu kaufen. Wenn der jetzige Spuk der Vergangenheit angehöre, werde das Haus wieder rückübertragen, sein Freund solle dafür reichlich entschädigt werden.

Diesen Plan verfolgte er mit einer Zielstrebigkeit, da er fürchtete, dass ihm sein Eigentum genommen wird, weil er Jude ist. Obwohl er kein gläubiger Jude war, hatte er unter den Verfügungen und Erlassen der Nationalsozialisten zu leiden, wurde verfolgt, bespuckt und geschlagen.

Alles, was er erleiden musste, hatte er versucht nicht in unsere Wohnung mitzubringen, hatte immer abgewunken, wenn ich ihn darauf ansprach. Trotzdem blieben mir die Spuren dieser Gewaltakte nicht verborgen, wenn er mit blauen Flecken, Kratzern am Körper oder auch größeren Wunden zu unseren Treffen kam. Ich versorgte seine Wunden, tröstete ihn wegen des zugefügten Unrechts. Meist weinte ich, wenn ich allein war, da er nicht wollte, dass darum geweint wird. Nachdem er meinen Vorschlag abgelehnt hatte, mit ihm wegzugehen, freute ich mich jedes Mal, wenn er unversehrt zu unseren Treffen kam.

Elisabeth legte die Seite auf den Stapel der bereits gelesenen Papiere, dann rieb sie mit den Handballen über ihre müden Augen. Inzwischen war es sogar bis in ihr Bewusstsein gedrungen, die ungeborene Tochter, von der ihre Mutter in ihrem Tagebuch schrieb, war sie. Ihr Geburtsdatum ließ keinen anderen Schluss zu. Was auch neu für sie war, ihr ursprünglicher Vater, an den sie keine Erinnerung hatte, da er nur wenige Tage zu Hause verbracht hatte, war nicht ihr Vater. Ihr Vater, oder besser ihr Erzeuger war, so entnahm sie aus den Unterlagen ihrer Mutter, dieser Leo Bernstein, dessen Name sie bis zum heutigen Tag noch nie gehört hatte.

Warum hatte ihre Mutter ihr nie von ihm erzählt, auch wenn sie eine Abneigung an die Geschichten aus der Vergangenheit hatte, so zählte sie dies nicht dazu. Natürlich hätte sie alles über ihren tatsächlichen Vater wissen wollen, statt ein paar Floskeln über ihren falschen Vater.

Dass dieser in den Kriegswirren der letzten Tage an einem Verkehrsunfall gestorben war, klang fast schon wie Ironie. Den gesamten Krieg ohne Verwundung, halt stopp, das wusste sie nicht, aber den Krieg ohne Kriegshandlung überlebt um dann bei einem Verkehrsunfall ums Leben zu kommen. Das wirkte ja fast wie ausgleichende Gerechtigkeit, sie korrigierte sich, das war nun auch zu voreilig, noch wusste sie zu wenig über ihn um urteilen zu können.

Müde starrte sie auf die noch nicht gelesenen Papiere, dazu kam noch das Tagebuch ihrer Mutter, das eigentlich erst nach dem Krieg weiter geführt wurde. Nun verstand sie, weshalb ihre Mutter versuchte das aufzuteilen, weshalb sie einen Teil in das Tagebuch, den anderen Teil auf diese losen Blätter geschrieben hatte. Während sich ihr Tagebuch in der einen Wohnung befand, hatte sie parallel dazu ein zweites Tagebuch für ihr ungeborenes Kind geschrieben.

Stadt ohne Licht

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