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|71|3. Getreide, Brei und Brot
ОглавлениеDie Geschichte des Hungers war die Geschichte des Schicksals, die Geschichte des Salzes eine Mischung von Schicksal – Salzvorkommen – und Tätigkeit: Erschließung neuer Salzquellen. Die Geschichte von Brot und Brei hingegen ist eine Geschichte stetiger menschlicher Arbeit. Die Schilderung dieser in sich wandelbaren Arbeit wird die Geduld des Lesers auf harte Proben stellen, weil Langeweile sich kaum vermeiden läßt; und dennoch ist die Geschichte von Brei und Brot als unspektakulärer Teil der Geschichte der Arbeit darzustellen; denn Arbeit ist im Mittelalter, von dem Sinn der Mühe und der Qual geprägt, der Knechtstätigkeit – „arba“ heißt im Althochdeutschen der Knecht – zugeordnet, ist also Teil dessen, was heute unter „Gesellschaft“ verstanden wird.
Als um 1800 der Göttinger Philosoph Christoph Meiners sich mühte, über die Geschichte der Zivilisation eine Epochengliederung zu begründen,1 dachte er nicht daran, die bäuerliche Arbeit einzubeziehen; denn diese, so glaubten auch andere Gelehrte noch späterhin, sei über die Zeiten hinweg die gleiche geblieben. Weit reichte der Blick von Christoph Meiners, der sich selbst als „Lehrer der Weltweisheit“ titulierte; stupend war seine Belesenheit, imponierend die Vielfalt der von ihm behandelten Themen. Die Werke dieses zu seiner Zeit hochberühmten Göttinger Professors spiegeln den damaligen Reichtum der Göttinger Universitätsbibliothek wider (und deshalb sind sie immer noch lesenswert). Aber selbst der überaus fleißige und begierig die Ideen anderer aufgreifende Meiners fand hier nichts, was ihn zu einer Einbeziehung bäuerlicher Arbeit in seine Zivilisationsgeschichte hätte veranlassen können. Und dabei war damals die Landwirtschaft ein Modethema in der gelehrten Welt. Der „fanatisme agricole“ gehörte zur Spätaufklärung. Die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften stellte Preisaufgaben, die vielfach Themen der ökonomischen Verbesserung „auf dem Lande“ betrafen.2 Aber alle Reformvorschläge wurden „von oben“ gedacht, von Menschen, die der Armut steuern wollten. Teil dieser Bemühungen von Menschenfreunden war die ständige Klage, daß sich die Bauern, am Hergebrachten hängend, den Reformen verweigerten.
Im Gegensatz zu den Gelehrten der Neuzeit war den Mönchen der Karolingerzeit, die sich intensiv mit der Zeitbestimmung und der Gestaltung gültiger Kalender beschäftigen mußten, bewußt, wie eng ihr Leben mit der Abfolge bäuerlicher Arbeiten zusammenhing.3 Karolingische „Kalender“ illustrieren die Monate, die Abfolge der Zeit, indem sie die jeweils anfallenden Tätigkeiten auf den Höfen und in Feld und Flur darstellen.4 Von Januar bis in den März hinein finden die meisten Arbeiten unter den |72|Strohdächern statt. Im Januar geht es um das Dreschen, die Vorbereitung der Luzerneoder anderer Kleesamen, das Bündeln von Futterpflanzen und auf freiem Feld um die Errichtung der Misthaufen. Im immer noch kalten Februar muß häufiger das Haus mit seinem wärmenden Herdfeuer verlassen werden. Denn nach dem Auslesen und Reinigen der Saatkörner beginnt das Eggen. Im März sind zunächst die mittlerweile leeren Speicher von Ungeziefer und Mäusen zu befreien und die Frostschäden auszubessern, sodann Mistfuhren und erstes Ausbringen der Saaten zu beginnen. Im April erfolgt das Umpflügen der Brache, im Juni findet die Heuernte statt, und ein erneutes Pflügen der Brache ist jetzt unerläßlich. Von Juli bis August gilt es, angefangen mit dem Hafer, die Ernte einzubringen. Im Oktober muß der Winterweizen gesät werden. Die Winterkälte zwingt die Menschen in ihre Behausungen. Vorfreude und Freude bei bitterer Kälte. November und Dezember sind die Schlachtmonate.
Das „Stundenbuch“ des Herzogs von Berry bildet zum Beispiel in etwa die gleichen Arbeitsabläufe ab wie die Kalendarien ein halbes Jahrtausend zuvor, und noch die frühneuzeitlichen Bauernregeln gehen im wesentlichen von dem gleichen Rhythmus im Jahresverlauf aus5 – Belege für eine Traditionsgebundenheit bäuerlicher Arbeit? Aber die von der Natur gesetzten Rahmenbedingungen bäuerlichen Arbeitens schließen deren geschichtlichen Wandel nicht aus. Welch eine Leistung sollte es darstellen, daß bei äußerlich gleichbleibenden Arbeitsrhythmen sowohl die Ernährung einer wachsenden Bevölkerung weitgehend sichergestellt werden konnte als auch Anpassungen an neu erwachte Bedürfnisse erfolgen konnten. Effektvoller wären diese Zusammenhänge bei der Winzerarbeit oder bei der Bierherstellung nachzuweisen; aber das wichtigste Nahrungsmittel ist – unbeschadet des jedwede Ernährung voraussetzenden Salzes – das Getreide.
Zu erinnern ist daran, daß die Ernährungskosten mehr als Dreiviertel des Einkommens im Haushalt des gemeinen Mannes ausmachten. Und von diesen Kosten entfielen die meisten auf die Getreideprodukte für Brot und Brei.6 Getreide war für das Überleben der Menschen in Europa unverzichtbar. Der Pro-Kopf-Verbrauch an Getreideprodukten lag im Spätmittelalter, jener Zeit, aus der es erst verwertbare Nachrichten über den Konsum gibt, zwischen 170 und 255 kg im Jahr,7 wobei etwa 200 kg als Normalwert angesehen werden können.8 Dabei muß spätmittelalterlichen Backproben zufolge berücksichtigt werden, daß 100 kg Roggen nur 88 kg Brot und 100 kg Weizen lediglich 49 kg Brot ergaben.9 Nach modernen Vorstellungen war das Getreide im Mittelalter vergleichsweise teuer: 4 kg Brot, so die Faustregel, kosten soviel wie 1 kg Rindfleisch.10 Aber selbst das vergleichsweise billige Rindfleisch war für viele Menschen unerschwinglich. Ihr ökonomischer Spielraum ließ es nicht zu, noch einige Pfennige draufzulegen. Sie waren noch nicht einmal in der Lage, bei heraufziehender Kriegsgefahr den Geboten ihrer Stadträte zu folgen und Kornvorräte anzulegen.11
Die Geschichte des Hungers lehrte, festliche Tafelfreuden mit ihrem scheinbaren Überfluß als Kompensationen eines gefährdeten Alltags zu verstehen. Und in diesem Alltag waren Getreideprodukte die wichtigsten, die durch nichts zu ersetzenden Grundnahrungsmittel. Die Nahrungsbehelfe, zu der Menschen in Hungerzeiten greifen |73|mußten, bieten erschütternde Belege für die Unverzichtbarkeit des Getreides. Deswegen haben schon seit dem frühen Mittelalter die Chronisten immer wieder auffallende, seien es besonders niedrige, seien es besonders hohe Getreidepreise notiert.12 Die Erinnerung orientiert sich nicht an politischen Ereignissen, sondern an Jahren, in denen man satt wurde, und solchen, in denen man Not litt.13