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Brot und Backen – verborgene Vorgänge der Verfassungsbildung
ОглавлениеDer verbotene „Fürkauf“ – Regelungsversuche des Marktgeschehens unter den Gesetzen des Fernhandels mit Getreide – Die Hanse und ihr Getreidehandel – Verfassungsgeschichtliche Konsequenzen der städtischen Statuten – Die unterschätzte Bedeutung des „Unterkäufels“ – Brotlaubenzwang und Brotbänke: Renten, Eigentum und Kontrolle – Obrigkeitliche Brotschau und Preisordnungen – Weisheit obrigkeitlicher Maßnahmen: das Pfennigbrot – Die obrigkeitlich regulierte Marktwirtschaft und die populistischen Bäckerstrafen – Die wichtigste Begründung für eine provozierende Überschrift: die handlungsleitende und traditionsstiftende Sorge der Herrschaft für den gemeinen Nutz – Städtische Kornhäuser und die Anfänge einer sozialpolitischen Verantwortung der Herrschaft
Die Überschrift wird auch den langmütigsten Leser irritieren, der mir bisher in dem Bemühen gefolgt ist, geschichtliche Zusammenhänge am Beispiel des Essens und Trinkens besser zu verstehen. Schließlich ist oft genug nachgewiesen, daß ein an sich richtiger Gedanke durch Übertreibung an Überzeugungskraft verliert. Und dennoch wage ich zu behaupten: Die in der Überschrift benannte historische Konsequenz gilt für die Geschichte des mittelalterlichen Essens und Trinkens allgemein; daß ich sie zunächst |90|am Beispiel des Brotes darstelle, hängt mit dessen zentraler Bedeutung für die Ernährung zusammen. Die Beweisführung könnte über die Geschichte des Brauens noch stringenter ausfallen, aber das Backen ist für das alltägliche Leben das Primäre. Deswegen sei schon jetzt die These zu beweisen versucht, daß die Verfassungsgeschichte, wenn sie nicht die Ernährungsgeschichte einbezieht, in der Gefahr einer von juristischen Normen abgeleiteten Konstruktion steht.
Ausgegangen sei von einem einfachen Sachverhalt. Als das Fürstentum des 16. Jahrhunderts den Schlüssel zur territorialen Staatlichkeit, das Gesetz, entdeckte,167 nutzte es die Erfahrungen der spätmittelalterlichen Stadt; in dieser war mit den Statuten des Rates vorbereitet, was von der frühneuzeitlichen Gesetzgebung weitergeführt wurde.168 Alle Definitionen der landesväterlichen Obrigkeit in der frühen Neuzeit sind (mit Ausnahme der Religionsfrage) Weiterführungen des Gedankens vom gemeinen Nutzen, wie er in den spätmittelalterlichen Städten entwickelt worden war. Dabei hatte der Versuch, das Marktgeschehen zu regeln, eine zentrale, friedensstiftende Aufgabe gehabt. Niemand soll das Getreide in spekulativer Absicht, dem sogenannten „Fürkauf“ („Vorkauf“), vom Halm aufkaufen und auf den städtischen Markt bringen.169 Fürkaufsverbot als Wirtschaftsprinzip? Das hieße, den spätmittelalterlichen Stadträten Weltfremdheit zu unterstellen. Schließlich konnte ihnen gar nicht entgehen, daß diese Gebote dauernd unterlaufen wurden.170 Der reiche Augsburger Burkard Zink zum Beispiel investiert 1443, als alle Welt von bevorstehenden Kriegen redet, zehn Prozent seines Vermögens in den Kauf von Lebensmitteln und erhofft stattlichen Gewinn in den zu erwartenden Teuerungszeiten.171 In einer Stadt wie Augsburg gelingt es selbst in der frühen Neuzeit dem Rat nicht, das Verbot der „Fürkaufs“ allgemein durchzusetzen.172 Ebensowenig wie im deutschen Süden ist dies auch im Norden der Fall. Die Getreideteuerung im ausgehenden 15. Jahrhundert nutzten Hamburger Kaufleute zu lukrativen Spekulationsgeschäften.173
Den welterfahrenen Ratsherren waren natürlich die Bedingungen des Fernhandels bekannt, die das Fürkaufsverbot relativierten.174 Schließlich waren es ja diese Ratsherren selbst, die in Teuerungszeiten in fernen Regionen Getreide aufkauften, um die heimischen Marktpreise zu regulieren. Bis hin zu den Bestimmungen der Reichspolizeiordnungen des 16. Jahrhunderts steht der „Fürkauf“ im Mittelpunkt der Wuchergesetzgebung und damit die Getreidepreise.175 Und auch der Monopolienstreit um 1520 dreht sich um das Zentralproblem der Ernährung.176 Auch aus der Perspektive von Kleinhändlern erscheint es zunächst als weltfremd, einen Zwischenhandel zu unterbinden, den etwa in Oberdeutschland die Pfragner oder in der Schweiz die Hodler wahrnahmen,177 um von den Mehlhändlern, den Melbern oder Melwern, zu schweigen.178
Die Stadträte beherrschten die politische Kunst des „Einigermaßen“, jene Kunst, die dann entsteht, wenn die direkten Machtinstrumente fehlen, wenn ein Rat sich nur auf den größtmöglichen Konsens in der Stadtöffentlichkeit stützen kann. Ob kleine Grempler, ob mächtige Handelsherren die Grenzen des Fürkaufsverbots aufzeigten, angesichts der zentralen Bedeutung der Versorgung mit Nahrungsmitteln griffen die obrigkeitlichen |91|Gebote durchaus. Der reiche Burkard Zink mochte spekulieren und damit die Zeit, den eigentlichen Spekulationsfaktor, nutzen; der gemeine Mann hingegen konnte dies nicht. Und eben in seinem Interesse waren die Marktordnungen erlassen worden. Im Grunde verhält es sich so wie bei den modernen Steuern. Vor allem die Großen können die Freiräume nutzen, die wirtschaftliche Regelungen lassen müssen, in Normalfällen aber greifen die entsprechenden Gesetze. Dabei mag das Rechtsprinzip beim Fürkauf zunächst dazu dienen, unser in der Überschrift gegebenes Versprechen einzulösen, verfassungsgeschichtliche Konsequenzen aus der Geschichte der Getreidenahrung abzuleiten. Jedoch kann dieses Versprechen auch von den alltäglichen und wirksamen Regelungen des Marktgeschehens her erfüllt werden. Der geregelte Alltag: Käufe und Verkäufe sollten nach dem Willen der Stadträte auf dem Markt geschehen.179 Nur dadurch können die vorgesehenen Kontrollmechanismen greifen, die Übervorteilungen und damit der Gefahr von Unfrieden vorbeugen wollen. Deshalb muß beim Verkauf des Getreides auf dem Markt der „Unterkäufel“, der „Fruchtmesser“180 oder „Kornmüdder“ bemüht werden, der im Namen des Rates bei dem Geschäft die Einhaltung der obrigkeitlich gesetzten Regeln bei Preisen und Qualität überwacht.181 Das erfordert, wie schon bei dem vergleichbaren Amt des Salzmessers zu erkennen war, eine hohe Qualifikation. Auch Frauen können dieses städtische Amt wahrnehmen;182 sie haben es von ihren Männern gelernt und führen deren Aufgaben als Witwen weiter – der gleiche Vorgang wie bei den „Haalpflegerinnen“ in Schwäbisch Hall.
Der Regulierung des Getreidehandels, den Ordnungen des Marktgeschehens entspricht die Aufsicht über das Bäckerhandwerk, die wirksamste Seite städtischer Wirtschaftspolitik.183 Brotlaubenzwang: Jeder Bäcker muß in den städtischen Brotlauben oder Brotbänken seine Ware feilhalten, wo Brotbeschauer, Brotschätzer im Namen der Obrigkeit die Qualität überwachen.184 Nürnberger Satzungen des 14. Jahrhunderts verpflichten die Bäcker, Semmel nur „in der stat brothause bei den flaischbenken gelegen“ zu verkaufen und nirgendwo anders.185 Den Satzungen der großen Reichsstadt entsprechen die der Mittelstädte. Im görzischen Lienz zum Beispiel fordert das Stadtrecht, daß zu jeder Zeit Brot, und zwar „semel, waizenes und rokenes“, vorrätig sein und auf der städtischen Brotbank verkauft werden muß.186 Der Bäcker muß auf den Brotbänken oder Brotlauben im Besitz eines Tisches sein, für den er Abgaben zu entrichten hat.187
Im spätmittelalterlichen Marktgeschehen werden nicht allein die Unterschiede zwischen Arm und Reich austariert, sondern auch diejenigen zwischen alten Rechten und neuen Verantwortungen. Brotbänke: Nicht immer fallen die entsprechenden Abgaben der Stadt zu. Denn ebenso wie die Fleischbänke gehen die Bänke in den Brotlauben auf die herrschaftlichen Wurzeln der Stadtentstehung zurück. In Frankfurt sind noch bis in das Spätmittelalter hinein die aus diesen Zwängen herrührenden Abgaben eine sichere Rente der Oberschicht.188 Rente, jedoch nicht mehr Verantwortung – eine Entsprechung zur Vermarktungsgeschichte des Salzes. Die Verantwortung liegt nunmehr beim Rat. Er verfügt Kontrollmaßnahmen, er erläßt Vorschriften aus seiner Verantwortung |92|für die Allgemeinheit, für den gemeinen Nutzen.189 Typisch für die obrigkeitlichen Reglementierungen sind die Frankfurter Ratssatzungen, die zwischen 1349 und 1352 Vorschriften über Brotbeschau, Brottaxen und die Schweinehaltung der Bäcker formulieren, was 1377 mit der Tendenz noch strengerer Ratsaufsicht sogar verschärft wird.190 Als in Frankfurt 1438 eine städtische Mehlwaage mit vereidigten Bediensteten eingerichtet wird,191 dient dies vor allem der Kontrolle der Bäcker.
Die Kontrollmaßnahmen mochten dem Bäcker lästig erscheinen. Wirklich seufzen mußte er über die vom Rat gesetzten Höchstpreise,192 deren Einhaltung mit der Brotbeschau verbunden war.193 Allenthalben begegnet das Probebacken unter Aufsicht von Ratsherren, die im Interesse des gemeinen Mannes überhöhte Preise nicht hinnehmen wollten.194 Das ist leicht im nachhinein formuliert, aber schwer getan. Am Beispiel des obrigkeitlich gesetzten Höchstpreises kann das Problem des mittelalterlichen Geldumlaufs und der Gelddifferenzierung erläutert werden. Solche schönen Möglichkeiten wie heutzutage die lockenden 1,99 Euro waren nicht vorhanden. Pfennige und selbst halbe Pfennige sind kein Kleingeld, sondern die alltägliche Nominale, und zwischen ihnen und zwei Pfennigen waren scheinbar keine weiteren Differenzierungen möglich. „Scheinbar“. Im Alltag sind die Verhaltensweisen der Menschen viel flexibler, als die Kliometriker aus den Preisnachrichten, die – notabene – allein obrigkeitlicher Überlieferung entstammen, glauben machen. Denn so intensiv, wie bei den entsprechenden Statistiken unterstellt, war der Bargeldumlauf im Mittelalter wahrlich nicht. Unter dem geringen Besitz des gemeinen Mannes an Münzen gab es abgegriffene und auch solche, deren Rand manipulativ beschnitten war; aber auch nicht jedes Brot war frisch gebacken. Keine Quelle illustriert dieses Alltagsproblem, das immerhin verdeutlicht, wie differenziert die Umwandlung von der Tausch- zur Geldwirtschaft verlaufen ist. Eine wenig beachtete Quelle sei in diesem Zusammenhang erwähnt: Hermen Botes „von der pagemunte“.195 Er sieht in dem in Braunschweig überlieferten alljährlichen Umtausch der alten gegen die vom Rat ausgemünzten neuen Pfennige den eigentlichen Anlaß für die versuchte Revolution von 1488 bis 1490, der „Schicht“ des Ludeke Holland. Das bestätigt auch der Hildesheimer Chronist Henning Brandis; denn Ende des Jahres 1487 waren vier alte gegen nur drei neue Pfennige umzutauschen. Der gemeine Mann verlor, wie der ansonsten obrigkeitlich gesinnte Hermen Bote notiert, materiell viel mehr als der Reiche an seinem knappen Bargeld. Nirgendwo sonst tritt die Bedeutung des Pfennigs für den Alltag des gemeinen Mannes so in Erscheinung wie hier. Nirgendwo sonst wird sichtbar, daß es bei der Gesellschaftsgeschichte nicht um Gulden, sondern um Pfennige geht.
Der neue und der abgegriffene Pfennig: Dieses bei den alltäglichen Kaufverhandlungen zu lösende Problem konnte der Rat bei seinen Preisfixierungen nicht berücksichtigen.196 Allenthalben wurde indessen in deutschen Städten eine pragmatische Lösung bei den Schwierigkeiten der Preisregulierung gefunden: das Pfennigbrot oder das Hellerbrot.197 Das Gewicht dieses jedem Bürger vertrauten Nahrungsmittels, das für einen Pfennig oder Heller erhältlich war, mußte angesichts der schwankenden Getreidepreise |93|stets von neuem bestimmt werden. Das Brot war den obrigkeitlichen Vorschriften gemäß größer oder kleiner. Der Rat regelte den Verkaufspreis bis hin zu Bestimmungen, wie groß das „Vorbrot“ sein mußte, die Gratisbeigabe beim Verkauf.198 Das Prinzip, das im 19. Jahrhundert die bayerische Verfassungsgeschichte gestaltete, wonach die Höhe der Münchner Bierpreise Revolutionen hervorrufen oder auch besänftigen konnte, dieses Prinzip ist im Kern mittelalterlich: Zwar nicht stabil, aber zumindest einsichtig mußte die von der Obrigkeit verantwortete Preisgestaltung sein.
Für Marktaufsicht und Preisfixierung, die in Köln, Soest und Lübeck schon im 12. Jahrhundert begegnen,199 gab es einen breiten innerstädtischen Konsens. Bei oft heftigen Auseinandersetzungen zwischen Bäckern und Rat, die bis zum Streik führen konnten,200 hatten die Ratsherren stets die Öffentlichkeit auf ihrer Seite. Trotz aller Konfliktbereiche zwischen Rat und Gemeinde, wie sie im Verlauf städtischer Unruhen sichtbar wurden, bestand in den Fragen der „Ernährungspolitik“ weitgehend Einigkeit. Ein Beispiel: In Zürich übernahm der nach heftigen Bürgerprotesten eingesetzte neue zünftische Rat ohne Abstriche das Korngesetz, das 1332 sein ungeliebter patrizischer Vorgänger erlassen hatte.201 Und selbst wenn in Teuerungszeiten die Bäcker glaubten, sich über die Brottaxen hinwegsetzen zu können, blieb der Rat hart, drohte mit Handwerksverbot oder damit, durch Lohnknechte Brot aus den städtischen Kornhäusern backen zu lassen.202
Kontrolle, Überwachung, Bestrafung. Erstmals begegnen wir einem Thema, das die Geschichte fast aller Nahrungsmittel begleitet, dem Thema der Verfälschung.203 Um 1420 macht sich die Dichtung „Des Teufels Netz“ zum Sprecher all derer, die den Bäckern mißtrauen. Diese betrügen zum Beispiel, indem sie Fremdstoffe unter das Mehl mischen, untergewichtig backen und in spekulativer Absicht Vorräte anhäufen.204 Letzteres haben die Ratsherren allen Vorbehalten gegen den Fürkauf zum Trotz nicht oder zumindest nicht konsequent verfolgt, wohl aber das allzu offensichtliche Unterlaufen der Ratssatzungen. Für die Bürger war es schwer, mit Sanktionen gegen Betrügereien der Bäcker vorzugehen. Bei der Knappheit an Lebensmitteln konnten die Kunden einen Mann, den sie Claus Mistback nannten,205 nicht bestrafen, indem sie seiner Brotbank fernblieben. Dem aufgestauten Unmut trug der Rat mit Maßnahmen gegen den betrügerischen Bäcker Rechnung, die Strafe und Ehrkränkung zugleich bedeuteten; solche Maßnahmen sind vielfach, allerdings nicht in jeder Stadt, ausgesprochen populistisch. Ein Bäcker, der untergewichtig backt, wird spektakulär mit dem Eintauchen in den Fluß bestraft.206 Drohend steht in manchen Städten dafür eine besondere Wippe am Ufer.207 In Straßburg wird an jener Stelle diese sogenannte Bäckertaufe vorgenommen, an der die Abwässer des städtischen Schlachthauses eingeleitet werden.208
Ein Bäcker mußte es schon schlimm getrieben haben, wenn er zur allgemeinen Freude in den Fluß getaucht wurde. Bei den kleineren Betrügereien zog der Rat die Ware ein. Das untergewichtige Brot war zumindest genießbar. Es wurde an das städtische Spital abgegeben.209
Die obrigkeitliche Kontrolle von Getreideverkauf und Bäckerhandwerk zeigt bereits, |94|was sich auch in der Geschichte der Metzger, der Fleischer, der Knochenhauer bestätigen wird: Die spätmittelalterliche Stadtwirtschaft ist keine freie Marktwirtschaft. Lediglich im Fernhandel mit Luxuswaren, in der sich nur die Oberschicht engagieren kann, bestimmen Angebot und Nachfrage die Preisgestaltung. Aber schon bei dem Fernhandel mit Massengütern greifen, wie am Beispiel des Herings zu erkennen sein wird, obrigkeitliche Maßnahmen ein.210 Was den zentralen ökonomischen Sektor, die Ernährung angeht, ist die städtische Wirtschaft eine obrigkeitlich regulierte Marktwirtschaft. Und das hat nach modernen Vorstellungen außerökonomische Gründe, nämlich die Wahrung des sozialen Friedens in der Stadt, die eine Ansammlung von sozialen Konfliktherden auf engstem Raum bildet. Scheinbar „außerökonomische Gründe“, denn unter mittelalterlichen Bedingungen, unter denen die meisten Menschen den Hauptteil ihres Einkommens für Nahrungsmittel aufwenden mußten, sind bei der Marktregulierung politische und ökonomische Gründe nicht zu trennen. Schon bei einem „Kornlärm“, einem Protest gegen Teuerung, ist die Ausweitung zu einem allgemeinen Aufruhr zu befürchten. Deswegen trat vielfach in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts der Rat wie zum Beispiel in Nürnberg „als Großunternehmer in Versorgungskrisen auf und ließ zum verbilligten Preis Brot backen“.211
Vorsicht, Umsicht, Einsicht in die Fragilität der urbanen sozialen Ordnung. Damit gelangen wir endlich zur wichtigsten Begründung unserer provozierenden Überschrift, welche die scheinbar disparaten Bereiche von Verfassungs- und Ernährungsgeschichte verklammert. Diese sei mit den Stichworten Ratsherrschaft und Friedenswahrung benannt. Der Aussage sei noch eine These angefügt: Die Ratsherrschaft rechtfertigt sich aus der Verantwortung für den „gemeinen Nutz“, das „bonum commune“. Dieser Schlüsselbegriff der Herrschaftslegitimation in der politischen Theorie der Scholastik wird durch den Rat im Alltag realisiert. Nur eine zufällige Analogie? Kein Ratsherr wird bei Thomas von Aquin nachgeschlagen haben. (Der Typ des studierten Patriziers begegnet erst im 15. Jahrhundert.) Unbeweisbar, aber naheliegend ist, daß die Bettelorden, die um 1300 in ihren Generalstudien die scholastischen Theorien entscheidend weiterentwickelten und in nahezu jeder mittleren und größeren Stadt um 1300 eine Niederlassung hatten, Vermittler zwischen Theorie und Praxis sein konnten. Eine solche Vermutung ist keineswegs abwegig, wie ein Seitenblick auf die Entstehung des „Schwabenspiegels“ zeigt, der um 1273 unter Einfluß Augsburger Mendikanten verfaßt wurde.212 Natürlich kann nicht übersehen werden: Für die Wahrung des gemeinen Nutzens sprachen so handfeste Gründe, daß sie nicht auf Anregung belesener Bettelmönche zurückgeführt werden muß. Aber bei dem Ansehen, das diese Mönche beim gemeinen Mann genossen, kann ihr konfliktdämpfender Einfluß vermutet werden. Was für die Entwicklung politischer Theorien um 1300 als Leistung der Bettelorden längst nachgewiesen ist,213 dürfte auch für die Vermittlung der Wirtschaftsethik gelten.
Gemeiner Nutz und seine Realisierung durch Umsicht, Vorsicht und Einsicht:
Neben der obrigkeitlich reglementierten Marktwirtschaft, die auf den Erhalt des inneren Friedens ausgerichtet war, setzen im 15. Jahrhundert die größeren Städte auf eine |95|weitere Maßnahme im Interesse des gemeinen Mannes. Sie nutzen Erfahrungen aus ihren Regiebetrieben wie Ziegeleien und Kalkreusen, welche die Bürger fast zum Selbstkostenpreis belieferten, und entdecken den alten Sinn der Getreidemagazine wieder. Das städtische Kornhaus entsteht. Solche Getreidespeicher gab es in Ägypten schon 3000 Jahre v. Chr. und am Indus in der Kultur von Harapaga 2500 v. Chr. Speicher, die in der Geschichte von Joseph eine entscheidende Rolle spielten, in einer Geschichte aber, die im Mittelalter nicht sonderlich populär war. (Wenn in der Malerei seit dem 16. Jahrhundert die Schicksale Josephs zum beliebten Sujet werden, handelt es sich um eine Auswirkung der „neuen Sittlichkeit“ des konfessionellen Zeitalters. Der keusche Joseph, nicht der Wirtschaftspolitiker ist das Thema des Romans von Thomas Mann.)
Gewiß nicht aus Erfahrungen ihnen unbekannter Kulturen, sondern unter dem Zwang der gleichen Bedingungen von Friedens- und Herrschaftssicherung organisierten die Stadträte das Kornhaus.214 Schon um 1340 begegnet in Nürnberg ein solches Magazin,215 ein Stolz der Stadt.216 Die Hungersnot von 1438/39 war für manche oberdeutsche Städte die Lehre, um vorbeugend ein städtisches Getreidemagazin anzulegen.217 Damals hatte, um die Not in der Stadt zu lindern, Basel im weiten Umkreis Korn zu hohen Preisen aufkaufen müssen, während zur gleichen Zeit Straßburg durch vorausschauende Vorratspolitik und damit den Stadtsäckel schonend die Teuerung hatte dämpfen können.218
Kornhäuser gibt es selten im deutschen Norden.219 Hier glaubt man zumindest in der handeltreibenden Oberschicht, auf die nahegelegenen fruchtbaren Marschgebiete vertrauen zu können, um in Notzeiten mit den hergebrachten Mitteln den Markt zu regulieren: zollfreie Einfuhr von Getreide bei gleichzeitigem Ausfuhrverbot.220 In Braunschweig erweist sich aber während des Aufruhrs des Jahres 1488, daß der gemeine Mann anders denkt. Nach dem Willen der anfangs siegreichen Aufständischen sollte ein Kornhaus errichtet werden. Aber dieses Vorhaben fiel nach dem hämischen Kommentar des Hermen Bote „in den Dreck“.221 Das Scheitern des Braunschweiger Getreidemagazins läßt im Umkehrschluß erahnen, welch große organisatorische Leistung die erfolgreiche Errichtung eines Kornhauses voraussetzte. Am Anfang stehen erhebliche Investitionen, wofür Überzeugungsarbeit in traditionell konservativ denkenden Gremien zu leisten ist. Dann treten die spezifischen Schwierigkeiten der Marktbeobachtung222 und der Lagerung des ständig umzuschaufelnden, zu durchlüftenden Getreides auf, und schließlich müssen die vornehmen Ratsherren die Verteilungsmodalitäten an die Armen bedenken.223
Nach der Marktaufsicht des Rates ist in der Geschichte der Kornhäuser die weitere Begründung für unsere Ansicht von einem Zusammenhang der Ernährungs- mit der Verfassungsgeschichte zu finden. Wenn heutzutage immer wieder zu lesen ist, daß erst die Moderne dem Staat eine sozialpolitische Verantwortung aufgeladen habe, so ist das schlicht falsch.