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Kapitel 4

Nur nicht im Bett sterben

Germanen

Im Bett zu sterben ‒ womöglich noch an Altersschwäche ‒, war nach Germanensitte unrühmlich. Denn im Jenseits wurde der heldenhafte Tod belohnt. Nur wer im Kampf gefallen oder wenigstens mit einer Waffe in der Hand gestorben ist, war in Walhalla, dem Kriegerparadies, willkommen. So konnte es schon passieren, dass ein Leichnam mit einem Dolch verletzt wurde, um den Anschein zu erwecken, der Tote hätte auf dem Schlachtfeld sein Leben gegeben.

Die ehrenvoll in einer Schlacht gefallenen tapferen Kämpfer („Einherjer“ genannt) werden von Walküren* zu Gott Odin, dem Heervater und Schlachtengott, geführt. Im Kriegerparadies (Walhalla) erwartet sie ein sorgenfreies Nachleben.

Allvater Odin reitet jeden Morgen auf seinem achtbeinigen Pferd mit seinen Raben Hugin (= Gedanke) und Munin (= Gedächtnis) über den Himmel, um zu erkunden, was auf der Welt vor sich geht.


Morgenritt über den Himmel: Odin auf dem achtbeinigen Pferd

Die strahlende „Wohnung der Gefallenen“ (= Walhalla), eine prunkvolle Halle, befindet sich in der Burg des Götterchefs Odin in Asgard, dem Wohnort des Göttergeschlechts der Asen. Zur Walhalla führen 540 Tore, jedes so breit, dass gleichzeitig 800 Einherjer in einer Reihe hindurch schreiten konnten.

Den Frauen allgemein ist das Elite-Paradies verschlossen.


Thronender Totengott Odin mit seinen 2 Raben Hugin und Munin und seinen 2 Wölfen Geri (der Gierige) und Freki (der Gefräßige)

Die Weiblichkeit in Walhalla beschränkt sich auf die Kellnerinnen: die Walküren, Odins Todesengel.

Tagsüber erproben die kampfesmutigen Schlachthelden im paradiesischen Nachtodleben ihre Geschicklichkeit und ihre Kühnheit. Sie bestreiten Zweikämpfe und ertüchtigen sich in Waffenspielen und Turnieren. Wenn einer im Duell getötet wird, wird er von einer Walküre mit einem Kuss ins Leben zurückgerufen.

Abends werden laute Feste und üppige Gelage gefeiert. Die Recken zechen in froher Runde. Walküren kredenzen Bier und Met (Honigwein) in Trinkhörnern und Eberfleisch auf Holztellern. Ein andermal lauschen die ruhmreichen Einherjer in ihrer nachtodlichen Wohngemeinschaft den Liedern des Dichtergottes Bragi oder sie ergötzen sich am Brettspiel.

Im Zuge der Christianisierung der Germanen ab dem 5. Jahrhundert war die Kirche bemüht, Walhalla wegen der deftigen Partys und Schlägereien als „Bierzelt“ lächerlich zu machen. Die Christen veralberten das Paradies der germanischen Kriegerkaste als „Himmel der Saufenden und Raufenden“.

Die täglichen Kampfübungen mit scharfer Waffe in Walhalla dienten freilich nicht nur dem spannenden Zeitvertreib. Die Einherjer übten Tag für Tag, um sich abzuhärten und für die letzte große Weltschlacht am Ende aller Zeiten zu wappnen. Dann werden sie nämlich an der Seite Odins und der Götter gegen das Heer der Riesen und der bösen Mächte der Finsternis kämpfen.

Gleichwohl wird die Schlacht der Schlachten mit dem Untergang der ‒ nicht unsterblichen ‒ germanischen Götter und der alten Welt enden. Eine neue Welt steigt aus dem Meer empor. Die sogenannte „Götterdämmerung“ (= Ragnarök) ist die Apokalypse der germanisch-nordischen Mythologie.


Die halb tote und halb lebendige Hel

Widersprüchliche Hel

Wer für das Reich des Odin (Walhalla) nicht tauglich ist, strandet im Reich der Hel (Helheim genannt). Das sind, wie gesagt, alle, die den „Strohtod“ gestorben sind, sprich: die ihren Tod im Bett bzw. auf dem Strohlager gefunden haben.

Die grimmige Hel entstammt dem Geschlecht der Riesen. Ihr Vater ist Loki, der listige, verschlagene Gott des Bösen, ein dämonischer und unheilstiftender Gauner, Gaukler und Schwindler, und ihre Mutter ist die Riesin Angurboda (Wehbotin, Angstbringerin). Geschwister der Hel sind der Fenriswolf und die Midgardschlange, zwei zerstörerische Wesen.

Hel, die Göttin des Totenreichs für die normal Sterblichen, ist lieb, freundlich, milde und gütig zu den Guten. Sie ist gerecht. Die grausame, unerbittliche, rächende, bestrafende Göttin erleben nur die Verbrecher (Mörder, Diebe, Lügner). Die Verdammten werden gepeinigt mit Kälte, Schmerz und Hunger. Oder von einem Drachen gequält, der sich vom Fleisch der Toten ernährt.

Die Schuldlosen bleiben straffrei, aber lustig ist ihr stillstehendes, erwartungsloses Nachtoddasein in Helheim nicht.

Pein-Halle

Helheim als Ort ist schaurig und kalt, von finsterem Nebel erfüllt. Das Totenreich liegt unter den Wurzeln des Weltenbaumes Yggdrasil. Ein Gittertor schirmt es ab, der Hund Garm bewacht es. In Hels Burg befinden sich große Säle. Die zu Lebzeiten brutalsten Gestorbenen kommen in die Pein/Plage-Halle. Deren Wände sind aus Schlangenleibern geflochten, und durch Löcher im Dach tropft Gift.

Das sind grobe Skizzen von Walhalla und Helheim.


Göttin Ran mit ihren Töchtern

Wer im Meer ertrunken ist, fällt Ran in die Hände, der Göttin eines eigenen Totenreiches, das mit Walhalla oder Hel nichts zu tun hat. Es liegt auf dem Grund des Meeres und ist in der altnordischen Mythologie allein für die Ertrunkenen bestimmt.

Die Herrin des Meeres hat viele Töchter: die Wogen und Wellen. Ihr Gatte ist der weise Meerriese Ägir. Unter anderem wird sie als Mischwesen mit dem Oberkörper eines Menschen und dem Schwanz eines Fisches dargestellt.

Ran lauert ständig darauf, dass Schiffe kentern. Sie fischt dann mit einem engmaschigen Netz, das sie durch die Fluten des Ozeans zieht, die im Meer Umgekommenen auf und bringt sie in ihr Totenreich, golden funkelnden Korallenhöhlen. Dort werden sie gastfreundlich aufgenommen und bewirtet.

Ran hat aber zwei Gesichter. Neben der hellen wunderschönen und gütigen Ran gibt es die dunkle, hässliche, wilde, unbeherrschte, aufbrausende, ja „menschenverschlingende“ Ran. Der Name Ran bedeutet „Räuberin“. Die Göttin des Seetodes zieht nämlich mitunter ahnungslose Seeleute von Bord ihres Schiffes in die Wasserunterwelt.

Die Wikinger brachten daher am Bug ihrer Schiffe Drachenköpfe an, um sich gegen die „Räuberin“=Ran zu schützen.

Untote Terroristen

Bevor sich die Vorstellungen von Walhalla, Helheim und dem Totenreich auf dem Meeresgrund in der Spätzeit ausgeprägt hatten, war das Jenseitsbild der Germanen sehr diffus und von Stamm zu Stamm verschieden.

Es gab die Ansicht, dass die Toten zu den Ahnen gehen oder die andere, dass sie im Grabhügel in voller Körperlichkeit fortleben. Die Grabbeigaben (Waffen, Kleidung, Schuhe, Speisen, Getränke, Wanderstab, Werkzeuge, Münzen, Musikinstrumente, Schmuck) widerspiegeln den Glauben, dass sie drüben wie hüben leben.

Die im Grab wohnenden Untoten wurden oft gefürchtet, wenn sie als makabre „Wiedergänger“ (Draugr) die Umwelt tyrannisierten. Anderseits konnte man sie sich durch Magie dienstbar machen und sie beispielsweise mit Beschwörungsformeln zwingen, die Zukunft vorherzusagen.

Die körperliche Erscheinung des ruhelosen Draugr kann sich frei durch das Erdreich bewegen und sogar Felsen durchdringen. Die einzige Möglichkeit, sich eines mit übermenschlichen Kräften ausgestatteten bedrohlichen Draugr zu entledigen und ihn endgültig zu vernichten, ist, ihm den Kopf abzuschlagen.


Germanenkopf (Tonbüste im Vindonissa-Museum, Brugg)

* Walküren: finstere Zwischenwesen, halb Mensch, halb Göttin, Jungfrauen, manchmal Heldengeliebte, in der Regel Botinnen und Helferinnen Odins, geisterhafte Schlacht- und Schildjungfern. Bei den Gelagen der Helden in Walhalla fungieren sie als Schankmädchen.

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