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Kapitel 5

Zu den Ahnen gehen

Afrika

Die Grenze zwischen Jenseits und Diesseits ist durchlässig, glauben Afrikas traditionelle Religionen. Die Verstorbenen ‒ die „Lebendtoten“* nach afrikanischem Verständnis ‒ sind zwar unsichtbar für die Lebenden, aber sie greifen als Geistwesen mit magischen Fähigkeiten tatkräftig in den Alltag der Hinterbliebenen und Angehörigen ein. Lebende und Tote bilden in Afrika eine Solidargemeinschaft.

Einerseits bieten die Verstorbenen den Lebenden Hilfe, Fürsorge, Förderung, Beistand und Schutz oder sie geben Ratschläge oder übermitteln Warnungen, wenn sie gebührend verehrt und versorgt werden. Und sie sind eine kosmische Macht: sie vermitteln zwischen den Menschen und den Göttern.

Gebet eines Häuptlings aus dem südlichen Afrika: „Ich bete zu euch ihr Geister unserer Verstorbenen, die ihr so große und edle Taten für uns vollbracht habt, um guten Fortgang und um Glück; ich bitte euch, dass ihr meinen Kraal** mit Vieh, meine Scheunen mit Korn, meine Häuser mit Kindern füllet, auf dass ihr uns nie aus dem Gedächtnis verschwindet.“

→ Anderseits sind die Verstorbenen zu jeder Untat fähig, wenn sie vergessen oder vernachlässigt werden. Sie können Missernten, Seuchen und den Tod herbeiführen. Besonders gefürchtet sind abgeschiedene Ahnenseelen, wenn sie als sogenannte Plage- oder Quälgeister aus dem Grab schleichen und Unheil stiften.

Die einflussreichen Ahnen steuern also die Geschicke der noch lebenden Verwandten.

Das Wohlwollen der Ahnen durch Gebete und Gaben wachzuhalten ist daher das A und O der traditionellen Religionen Afrikas.

Um sich im irdisch gedachten Jenseits bequem ansiedeln zu können, werden den Verstorbenen Nahrungsmittel, Geräte, Matten, Tabakpfeife, Waffen, Schmuck etc. ins Grab mitgegeben. Denn die Toten fristen im Jenseits als Seelenmenschen (Abbilder des Körpers) kein Scheinleben, sondern erfreuen sich eines vegetativen Lebens mit sinnlichen Bedürfnissen. Sie genießen die Essenz der geopferten Speisen und Getränke, die „Rohstoffe“ überlassen sie den Priestern.

Die Ahnen wissen also Anrufungen und Weihegaben zu schätzen.

Der Ahnenkult hat in Afrika einen fruchtbaren Boden gefunden, weil in der Gesellschaft die Familie bzw. Sippe und nicht die selbständige Persönlichkeit des Einzelnen zählt.

Ein Totengericht bleibt den Verstorbenen nach afrikanischer Tradition in der Regel erspart.

In der Sphäre der Ahnen

Die Verstorbenen weilen (unsichtbar, wie gesagt) in der Nähe der Lebenden, aber wo?


Maske eines übelwollenden Ahnen (Volk der Ibibio, Nigeria)

Wer stirbt, „geht zu den Ahnen“. In der Totenstadt ‒ heißt es beispielsweise in der Überlieferung der Ewe-Völker in Benin, Togo und Ghana ‒ wird ein würdiger Geist von den Einwohnern freudig empfangen und zum Haus seiner Vorfahren und toten Angehörigen geleitet. Die Ahnen richten ihm ein großes Fest aus und erfreuen sich ihrerseits an den Geschenken, die er aus der anderen Welt mitgebracht hat.

Manche afrikanische Völker ‒ wie z.B. die Yoruba ‒ glauben an die Fähigkeit und Neigung der abgeschiedenen Seele, sich erneut einzukörpern und einen neuen Erdenlauf zu beginnen. Besonders beliebt ist die Wiedergeburt eines Verstorbenen in den Nachkommen seiner Herkunftsfamilie oder zumindest in der eigenen Blutverwandtschaft.

Die Yoruba in Nigeria nennen einen Sohn oft „Babatunde“ (= Vater ist zurückgekommen) oder eine Tochter „Yetunde“ (= Mutter ist zurückgekommen). Im Zweifel ermittelt der Medizinmann des Stammes bei der Geburt eines Kindes, welcher Vorfahre wiedergekommen ist.

Selbst die Wiedergeburt als Tier ist im Glauben verschiedener Stämme verankert. Der britische Wissenschaftler Theodore Besterman (1904-1976) hat bei seinem Studium der Religion von über 100 afrikanischen Völkern ermittelt, dass 36 Stämme an die Wiedergeburt als Menschen und 47 an die Wiedergeburt als Tiere glauben ‒ und 12 Stämme an die Wiedergeburt als irgendein anderes Wesen, etwa als Gespenst.

Allgemein werden die Guten und Rechtschaffenen als nützliche Tiere wiedergeboren, die Schlechten z.B. als Aale. Nur Häuptlinge dürfen Löwen oder Flusspferde werden. Wer kinderlos stirbt, muss damit rechnen, als Frosch zurückzukommen.

* Den Begriff „Lebendtote“ für Verstorbene prägte der afrikanische christliche Theologe John Mbiti.

** Kraal = Viehgehege.

Jenseits-Welten

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