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Kapitel 2

Herz oder Feder?

Alt-Ägypten

Auf einer ägyptischen Pyramide findet sich der Spruch: „Du stirbst, damit du lebst“. Die Kultur im Pharaonenreich am Nil war betont jenseitsorientiert. Die alten Ägypter glaubten an eine ewige Fortsetzung des Daseins.

Im Moment des Todes verlässt der Ba (die Geistgestalt, vergleichbar am ehesten mit unserer Seele) den Körper. Der Körper muss aber für die Ewigkeit haltbar gemacht werden, denn die unbeschränkt bewegliche, räumlich ungebundene Ba-Seele kehrt im Nachtodleben immer wieder in den Körper zurück. Um nicht zu verwesen, wird also der Leichnam mumifiziert, das heißt künstlich konserviert. So kann sich die freie Ba-Seele regelmäßig mit der Mumie im Grab vereinigen.

Das Grab ist der Treffpunkt zwischen den Lebenden ‒ den Hinterbliebenen ‒ und den Toten. Die Toten bleiben Teil der Familie. Die Ba-Seele des Verstorbenen ist einerseits an den Körper bzw. an die Mumie gebunden, kann sich aber anderseits außerhalb des Grabes frei bewegen und die Welt der Lebenden durchwandeln. Zum Beispiel besucht sie Orte, an denen sie sich zu irdischen Lebzeiten gern aufgehalten hat. Sie kann sogar zu den Sternen fliegen oder mit dem Sonnengott über den Himmel reisen.

Zunächst durchwandern die Verstorbenen bzw. deren als menschenköpfiger Vogel dargestellte Seele (Ba) aber die labyrinthische Unterwelt.


Bavergleichbar mit unserer Seelewird als Vogel mit Menschenkopf dargestellt. Der Ba macht die Persönlichkeit aus


Die Ba-Seele schwebt über der Mumie

Die den Toten als Grabbeigaben mitgegebenen Totenbücher ‒ Jenseitsführer ‒ weisen ihnen den Weg und unterrichten sie mit Tipps und Tricks über das richtige Verhalten in der geheimen, schauerlichen und bedrohlichen Unterwelt. Wenn sie die auf der Reise lauernden existentiellen Gefahren heil überstanden haben, müssen sie sich in der „Halle der Wahrheit“ dem Jenseits-Tribunal mit 42 dämonischen Totenrichtern stellen. Im sogenannten „negativen Sündenbekenntnis“ zählen die Prüflinge litaneiartig auf, was sie alles an Untaten nicht getan haben. Zum Beispiel: dass sie keine Tiere gequält, kein Waisenkind um sein Eigentum geschädigt, keinen Diener bei seinem Herrn verleumdet, kein Getreide gestohlen, die Milch nicht vom Säugling fortgenommen oder das Vieh nicht von der Weide verdrängt haben. Die Unschuldsbeteuerungen sollen das Gericht überzeugen, dass die Kandidaten die im Reich gültigen Lebensregeln und Tabuvorschriften nicht verletzt haben.

Entscheidend beim Totengericht ist letztlich aber die Wägprüfung: das Herz des Verstorbenen (in Altägypten das Organ des Denkens und Fühlens sowie des Gewissens) wird gegen eine Straußenfeder aufgewogen. (Die Feder symbolisiert Maât, die Göttin der Gerechtigkeit, der Wahrheit und der moralischen Weltordnung).


Der verstorbene Schreiber Ani kniet beim Jenseitsgericht vor dem Totengott Osiris

Verschlungen vom Großen Fresser


Der Große Fresser Ammit lauert

Fällt die Prüfung durch die Gerechtigkeitswaage negativ aus (wenn das – sündenbeladene - Herz schwerer ist als die Feder), wird der frevelhafte Verdammte vom „Großen Fresser“, einem Monster mit Krokodilskopf, Löwenrumpf und Nilpferdunterleib, verschlungen. Das ist die Pforte zur „Hölle“.

Nach dem „zweiten und endgültigen Tod“ werden die Unglückseligen ohne Ende in geballter Finsternis und Totenstille abscheulichen Dämonen ‒ Schlächtern, Henkern und Folterknechten ‒ ausgeliefert.

Im Chaos der Ur-Finsternis warten auf sie Prügelhäuser, Marterpfähle, Schlachtbänke und Feueröfen. Sie werden gemetzelt und geschmort. Die Verdammten gehen auf dem Kopf, ernähren sich vom eigenen Kot und eigenen Urin.

Sorglos und leidfrei

Wer das Jenseitsgericht reinen Herzens bestanden hat, wird als „Verklärter“ in das lichte Reich des Gottes Osiris, des Herrschers der Unterwelt, aufgenommen und genießt in den seligen Gefilden die Freuden einer sorglosen und leidfreien Existenz. Die idyllische Landschaft wird von einem gewundenen Fluss durchzogen, dessen Ufer schattenspendende heilige Sykomoren ‒ ausladende Maulbeerfeigen-Bäume ‒ säumen.

Das liebliche Totenreich ist ein unbemessener Raum und erstreckt sich über Millionen und aber Millionen Meilen.

Die Bewohner des altägyptischen Paradieses genießen nach Gewürzen duftendes Fleisch und Geflügel, samtigen Wein und kühlendes Bier. Sie sind bestens versorgt. Sie feiern fröhliche Feste. Wenn sie nicht über Seen schippern oder anderem Müßiggang frönen, bestellen sie gerne die fruchtbaren himmlischen Felder und Äcker: säend, pflügend und erntend.


Himmlische Ernte

(Die unliebsamen und mühsamen Arbeiten verrichten stellvertretend Diener, die ihnen in Form von mit magischen Kräften versehenen Statuetten und Figuren als Beigabe ins Grab gelegt wurden. Die Dienerfiguren waren mit Arbeitswerkzeugen, landwirtschaftlichen Geräten und Körben ausgestattet).

Alles in allem: ein unbeschwertes Leben in Fülle und Überfluss ist der Lohn der Verklärten. Die Altägypter stellten sich das (biologische wie soziale) Leben im Jenseits wie das Leben im Diesseits vor ‒ nur besser.

Das Jenseits: ein idealisiertes Diesseits.

Die Jenseitserwartungen im ältesten Kulturvolk am Mittelmeer waren je nach Epoche und Region freilich unterschiedlich. Unsere summarische Skizze der fantastischen Vorstellungen über das Leben nach dem Tod bezieht sich speziell auf das Neue Reich mit Beginn der 18. Dynastie ab 1500 vor Christus.

Jenseits-Welten

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