Читать книгу Maiglöckchen-Blues - Ernst von Wegen - Страница 11

II

Оглавление

Proömium

Grenzen seien fließend, sagen wir gerne, wenn wir etwas nicht eindeutig beurteilen können. Fließende Grenzen sind manchmal auch eine beliebte Ausrede, sich ein genaueres Hinsehen zu ersparen. Und fließende Grenzen verführen zum freiwilligen oder unfreiwilligen Grenzübertritt. Ist eine Grenze als Schutz gedacht, wird eine fließende Grenze zur schleichenden Bedrohung. Wird eine Grenze als Einschränkung empfunden, wird die fließende Grenze zur Chance.

Die Weser ist auch eine fließende Grenze, die sich der Eindeutigkeit entzieht - die Landesgrenze zwischen Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen hüpft unentschlossen über den Fluss hin und her. Das rechtsseitige Lüchtringen gehört noch zu Nordrhein-Westfalen, während die linksseitigen Heinsen, Polle und die Ottensteiner Hochebene bis weit über Pyrmont hinaus wiederum zu Niedersachsen gehören. Erst an der Porta Westfalica wird die Weser wieder westfälisch. Selbst die Stadtgrenze Holzmindens leistet sich einen kleinen Ausreißer über das Weserufer hinweg: sie springt über die Brücke, krallt sich den kleinen Parkplatz, vereinnahmt den Campingplatz und die Schwimmbäder, um dahinter wieder unauffällig in die Wesermitte zurückzukehren.

Die neue Landesgrenze ist über weite Strecken die alte Glaubensgrenze, die von den Launen der Geschichte gezogen wurde. An der Weser standen sich die christlichen Franken und die heidnischen Sachsen Aug in Auge gegenüber, die Franken stampften nach ihrem Sieg das Kloster Corvey aus dem Boden, von hier aus wurde christianisiert auf Teufel komm raus, gewissermaßen. Jahrhunderte später zog die Kirchenspaltung ihre Blutspur auch durch das Weserbergland. Das katholische Westfalen und das protestantische Braunschweiger Land haben sich bis vor wenigen Jahrzehnten misstrauisch beäugt und gut nachbarlich verspottet.

Heute verträgt man sich.

Hochzeiten über die Konfessionsgrenzen hinweg sind keine Skandale mehr, wie noch in den 50er Jahren - aber die mentalen Unterschiede wirken nach - die geselligen Katholiken - die zurückhaltenden Lutheraner - es gibt sie noch. Ziehst du in ein Dorf im östlichen Westfalen, kannst du dich dem Gemeindeleben nur schwer entziehen, du versinkst im Honigtopf ihrer Geselligkeit. Die niedersächsischen Dörfler dagegen betrachten einen Neuzugang erst mal mit Abstand: passt er zu uns, ist er willkommen, will er seinen eigenen Kram machen, ist es auch gut, solange er nicht klaut und keine Häuser ansteckt. Diese Mischung aus Vorsicht und Toleranz gibt auch der Kleinstadt Holzminden einen Hauch von laissez faire. Sie hat die Nachkriegsflüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten rasch und vollkommen assimiliert. In den folgenden Jahrzehnten brachten die lokalen Global Players viele hochqualifizierte Fremde aus aller Welt in die Stadt, die das Bevölkerungsgefüge im Kreis noch einmal gehörig durchlüfteten.

Hier leben sehr viele gebildete und kritische, aber leider nicht ganz so viele engagierte Menschen. Das führt dazu, dass die Stadt und der Landkreis ihren Ansprüchen immer ein wenig hinterher hinken. Ein Zustand, mit dem man sich mittlerweile abgefunden hat. Holzminden war schon lange vor Berlin das, was die Hauptstadt heute als ihr Image verkauft - arm, aber sexy.

Berlin ist nur eine vergrößerte Kopie Holzmindens.

Maiglöckchen-Blues

Подняться наверх