Читать книгу Maiglöckchen-Blues - Ernst von Wegen - Страница 9
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ОглавлениеFotini Kallikratis schälte gemeinsam mit ihrer Küchenhilfe Zwiebeln, während ihr Mann Lefteris seinen Großen Alexander polierte. Das war, man muss es sagen, seine Lieblingsarbeit. Lefteris Kallikratis war nämlich Sfakier und Hellene in einer Person, ja doch, das geht zusammen. Denn - waren es nicht die Sfakier, die einen beträchtlichen Anteil daran hatten, das Joch der Türken abzuwerfen? Na also! Ohne Sfakier kein unabhängiges Griechenland, ohne Sfakier kein modernes Hellas.
Ein Sfakier verlässt nur äußerst ungern den Schutz der Schluchten in den Lefka Ori, den weißen Bergen seiner Heimat Kreta. Selbst seine Hauptstadt Athen ist dem Sfakier aus der Ferne lieber. Wenn nun so ein Sfakier im noch viel ferneren Holzminden ein Restaurant betreibt, ist das mehr als außergewöhnlich - und zum Großteil seiner Frau Fotini zu verdanken.
Fotini war keine Sfakierin, sie war nur eine gewöhnliche Frau aus Kreta. Manchmal holen sich die Sfakier zur Blutauffrischung Mädels von außerhalb in ihre zerklüfteten Lefka Ori. Fotini hatte rasch gemerkt: sein Stolz ernährt mühelos die sfakische Männerseele, aber um eine Familie zu ernähren bedurfte es der praktischen Veranlagung einer Frau von der Küste. Fotini war aus Rethymnon gebürtig. Die Fischer von Rethymnon waren seit jeher tiefer in der Realität verankert als die stolzen Sfakier oben in der dünnen Luft der Weißen Berge.
Fotini wollte ein besseres Leben und stellte Lefteris vor die Wahl: alleine bleiben oder mitkommen - Liebeskummer oder Heimweh! Lefteris entschied sich für Heimweh - das passte besser zu seinem leidenden Patriotismus. Wie Liebeskummer sich auswirken könnte, das wollte er nicht ausprobieren. Und so folgte Lefteris seiner Frau nach Deutschland. Erst nach Hannover, wo sie in einer Reifenfabrik schufteten und für ihren gemeinsamen Traum sparten: eine eigene Taverne in Rethymnon oder in Agia Roumeli!
Nach einigen trostlosen Jahren in der Reifenfabrik erfuhren sie von einem Landsmann, dessen Bekannter suche einen Nachfolger für sein Restaurant in Holzminden.
- Holzminden?
Der Landsmann fuhr sie hin. Er wusste von Lefteris‘ Heimatverbundenheit und machte einen kleinen Umweg. Bei Brunkensen führte die Straße durch eine kleine Schlucht, die bei Lefteris großes Heimweh auslöste, das Wasser stand ihm in den Augen. Tränenwürgend fragte er:
- Ist das noch Deutschland?
- Sigoura, alles noch Deutschland, mein Freund!
Das sanfte Auf und Ab im Leine- und Weserbergland durch lindgrüne Wälder, die Felsen am Südhang des Ith - das war alles noch kein Vergleich mit seinen Lefka Ori, erinnerte aber schon ein bisschen an die Kastanienwälder bei Chania -
- Alles noch Deutschland?
- Ne sigoura, alles noch Deutschland.
Wie schön Deutschland sein konnte, wenn man mehr kannte als nur Hannover und den Weg nach Langenhagen zum Flughafen, mehr als die staubige Fabrik und die enge Wohnung. Später dann der Blick von Amelungsborn hinunter ins Forstbachtal - schimmerte da nicht ein wenig die Askifou-Hochebene durch? Lefteris ging das Herz auf. Das alles hatte er versäumt in all den Jahren! Wohlweißlich, muss man sagen, denn Deutschland sollte ihnen gar nicht heimelig werden. Deutschland war ein Ort, um das Geld für ihren Traum zu verdienen, mehr nicht. Und nun, da er diese Schönheit sah? Zwar, alle Vergleiche blieben bemüht und doch geriet sein gepflegtes, ja kultiviertes Heimweh ins Wanken - noch ehe sie Holzmindens Altstadt erreicht hatten, begann er, sich wohl zu fühlen.
Schließlich gingen sie die Halbmondstraße entlang auf den Holzmindener Marktplatz zu. Vor Staunen oder auch vor Aufregung stolperte Lefteris über einen bronzenen Kartoffelsack und entschuldigte sich beim bronzenen Ackerbürger, der unbeweglich und ungerührt seinen Krug füllte. Fotini sah ihren Mann verwundert an. Lefteris ließ seinen Blick über den Platz schweifen: Cafés, Restaurants, die ihre Stühle und Tische in den Schatten der Bäume gestellt hatten, Gäste, die das Leben und die Sonne genossen - wer, verdammt, hatte den Süden in den Norden geholt? War das noch...?
- Sigoura, Lefteris, alles noch Deutschland!
Sie verließen den Marktplatz, bogen einmal um die Ecke und gingen auf die Taverne Mykonos zu. Manolo, der Pächter, erwartete sie schon. Sie setzen sich an einen der freien Tische und tranken zur Begrüßung einen Retsina. Manolo erzählte, er lebe mit seiner Frau Petrulla in Scheidung und wolle mit Soula, seiner neuen Flamme, im nahen Höxter ein neues Leben beginnen. Nun suchte er jemanden, der ihm seinen Pachtvertrag erfüllte und möglichst auch seine Einrichtung übernahm. Nach zwei Gläsern Retsina und einem vorzüglichen Lammkotelett hätte Lefteris alles unterschrieben. Im Vergleich zur Schufterei im Reifenwerk war das ein Paradies! Zum Glück war Fotini mit dabei, die sich um die Fakten kümmerte. Sie ließ sie die Räumlichkeiten und die Bücher zeigen, fragte nach Auslastung und Einkaufsmöglichkeiten und handelte noch einen guten Vertrag aus. Man muss sagen - auch Manolo hätte so gut wie alles unterschrieben, auch er war ein Träumer und mit seinen Gedanken schon in der Zukunft mit seiner Soula. So unterzeichneten sie noch am selben Abend einen Vertrag und fuhren nach Hannover zurück, nur noch um ihre Jobs im Reifenwerk zu kündigen und ihren Umzug zu organisieren.
Das war fast sechs Jahre her.
In diesen sechs Holzmindener Jahren lernte Lefteris besser Deutsch als in seinen zwölf Jahren in Hannover. Auch Fotini blühte auf: aus der grauen Fabrikmaus war wieder die energische Griechin geworden, die mit ihrem gewinnenden Lachen die Leute für sich einnahm. Und sie verdienten mehr Geld, als in ihrem gesamten bisherigen Leben.
Doch vor den Erfolg haben auch die griechischen Götter den Schweiß gesetzt - Deutschland hatte eben nicht nur wunderschöne Landschaften, sondern auch wunderbare Gesetze. Diese dunkle Seite Deutschlands, die Vorschriften und Formulare, raubten Lefteris den Verstand. Fotinis Verstand war glücklicherweise weniger diebstahlgefährdet. Mit unerschöpflicher Geduld und mit Hilfe ihrer Tochter bewältigte sie die Berge von Papier.
Lefteris kümmerte sich um die harten Fakten wie Technik und Personal, er knüpfte Kontakte - weit über die geschäftliche Notwendigkeit hinaus. Familie Kallikratis integrierte sich vorbildlich. Lefteris fühlte sich wohl in Deutschland und heimisch in Holzminden. Selbstredend war es auch für Fotini schöner, die Gäste mit griechischen Leckereien zu verwöhnen, als in der Reifenbude stinkende Gummireste zu entsorgen. Und wenn sie ihre Einkünfte von damals und heute verglich, seufzte sie glücklich. Besonders am Anfang klingelte die Kasse. Das war normal, da hatte auch der Vorbesitzer drauf hingewiesen: Wenn in einer Kleinstadt etwas Neues aufmacht, strömen erst mal alle hin. Die Familie Kallikratis bemühte sich, möglichst viele von den Neugierigen zum Wiederkommen zu animieren. Was ihnen gut, ja, sehr gut gelang.
Fotini bot nur wenige Standardgerichte an, sie variierte den Großteil der Speisekarte nach dem, was sie gerade frisch und günstig kaufen konnte. Und sie ließ sich auf individuelle Kundenwünsche ein. Lefteris war der Fachmann für gute Weine und für gute Konversation. Er war der Mann an der Front zur Kundschaft. Der menschenscheue Sfakier war wie durch ein Wunder zum geselligen Gastwirt mutiert.
Wie so viele, die etwas Gegebenes übernehmen, versuchte auch Lefteris, dem Ding seinen eigenen Stempel aufzudrücken. Der Spielraum dafür war gering. Eine griechische Taverne ist eine griechische Taverne ist eine griechische Taverne - linear, im Quadrat, sowie in der dritten Dimension, und die Wurzel daraus war: eine griechische Taverne! Lefteris fing mit dem Namen an. Mykonos sollte seine Taverne nicht heißen. Er war noch nie auf Mykonos und er hatte nichts Grundsätzliches gegen diese Insel, jedoch hieß jede zweite griechische Taverne in Deutschland Mykonos. Die andere Hälfte hieß entweder Athen oder Naxos. Da konnte man eigene Akzente setzen. Und Lefteris setzte sie hoch an, sehr hoch. Der größte aller Griechen sollte sein Restaurant zieren: Alexander der Große stand in weißen Lettern auf hellblauem Grund der Leuchtreklame, welche die Jungs von Bielke Lichtwerbung über den Eingang geschraubt hatten. Und rechts vom Schriftzug setzte ein stolzer Reiter zum Sprung in eine glorreiche Zukunft an: der große Einiger Griechenlands! Ohne Alexander kein Hellas. Erst Alexander machte aus einem Sfakier einen Griechen. Ohne Alexander würden sich Athener, Spartaner, Thessalier und die anderen heute noch gegenseitig die Köpfe einschlagen. Nicht Karl der Große, Alexander der Große hat die Grundlagen für das heutige Europa geschaffen, so sieht’s doch aus! Dank Alexander konnte Lefteris Kallikratis, der sfakische Grieche heute Holzmindener sein, ohne Deutscher sein zu müssen. Deutscher konnte und wollte er nicht werden, aber Holzmindener war er mit Leib und Seele. Fotini dagegen war nur eine Köchin, immerhin eine begnadete Köchin, die überglücklich war, wenn sie nach dem Mahl mit dem Tablett voller Ouzos an den Tisch kam, um sich von den Gästen ihr hochverdientes Lob abzuholen.
Und ihre beiden Kinder? Andrea hatte gerade in Göttingen ihr Studium der Politikwissenschaften begonnen und sah mit Freude der doppelten Staatsbürgerschaft entgegen. Giorgos war zu jung, um über so etwas nachzudenken. In Hannover geboren, zwischen Griechen und Deutschen aufgewachsen, war er überall zu Hause, wo Griechisch oder Deutsch gesprochen wurde. Von den Mitschülern im Campe Gymnasium wurde er manchmal Schorse gerufen, was er doof fand, seine Freunde benutzten die Abkürzung seines Nachnamens: Kalli, was ihm sehr gefiel.
Giorgos schlief noch an diesem 1. Mai 2014, während sein Vater die prächtige Skulptur des Alexander mit Hingabe von Staub und Taubendreck befreite. Es machte einen schlechten Eindruck, wenn am Namensgeber des Lokals Spinnweben oder Vogelkacke hafteten. Der Eingang eines Hauses ist seine Visitenkarte. Giorgos schlief viel in letzter Zeit. Er trieb sich oft mit Gleichaltrigen herum. Dagegen hatte Lefteris nichts, Jugend zur Jugend, das musste so sein. Nun hatte Fotini ihm aber gesteckt, dass der Junge die Schule schleifen ließe. Das durfte nicht sein, da musste man natürlich einschreiten, Jugend hin oder her. Damit der Bengel den Ernst des Lebens kapierte, verordneten die Eltern ihm Küchendienst. Da gab es trotz der tüchtigen Küchenhilfe Trudel Klages, weiß Zeus, genug zu tun. Lefteris machte sich dran, Giorgos zu wecken. Er klaubte Tonkügelchen aus den Blumenkübeln und warf sie gegen das Fenster. Wenn ein ambitionierter Vater an einem Feiertag seinen pubertierenden Sohn aus den Federn holen will, liegt Ärger in der Luft.