Читать книгу Maiglöckchen-Blues - Ernst von Wegen - Страница 5
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ОглавлениеDer schwere Duft von Maiglöckchen zog durch die kleine Stadt, die in ihrem gewohnt unruhigen Schlaf lag. Es schien, als wolle sie kurz ihre plattgelegenen Glieder strecken, als wolle sie einen dickflüssigen Traum abschütteln, sich auf die andere Seite drehen, um gleich darauf wehrlos im Morast des nächsten zähen Traumes zu versinken.
Wie erfrischend war es, durch diese träge, duftschwangere Kühle zu gehen!
Allein die Zeit schien es eilig zu haben, mit sanftem Druck trieb sie das hauchzarte Morgenlicht durch die Gassen der schlafenden Stadt. Und wäre Odos Vorhaben nicht an die Zeit gebunden gewesen, hätte er sich gerne noch eine Weile untätig dieser honigzähen Kleinstadtruhe hingegeben. Wollte er aber seinen Schuss heute machen, musste er sich beeilen, morgen schon sollte das Wetter ganz anders sein.
Kupferne Schlangen spien die immergleiche, abgestandene Brühe in den buntsandsteinernen Marktbrunnen, das Glucksen und Plätschern des Wassers täuschte Frische vor. Am Fuße des Brunnens hingen einige übernächtigte Jugendliche herum wie sterbende Schmetterlinge, jedoch stolz auf ihre erste durchzechte Nacht - auf einem Tanz in den Mai? In einer Disco? In einem verruchten Partykeller, wer weiß? Hin und wieder zuckte Leben durch die erschöpften Körper. Der Lebendigste unter den Nachtfaltern dirigierte zum gemeinsamen Aufbäumen gegen die Schwerkraft des Schlafes. Er stellte sich in Rapper-Manier hin, spreizte die Finger und gab mit Zischlauten einen Groove vor. Einer nahm den Faden auf und stimmte den Megahit des Jahres an. Andere folgten ihm, doch ihre müden Zungen konnten dem Tempo nicht folgen: was als frecher Hip-Hop starten wollte, erstarb kläglich nach nur wenigen Zeilen.
Das offene Fenster über dem Weser Landcafé füllte eine robuste Frau, auf ihre massigen Unterarme gestützt. Missmutig verfolgte sie das Geschehen. Noch in den Ausklang des absterbenden Hip-Hops rief sie mit schneidender Stimme:
- Ist nun endlich Ruhe, oder muss ich die Polizei rufen?
Die jungen Leute winkten müde ab:
- Ist gut, Oma Eilers, wir sind gleich weg!
Die Alte schloss das Fenster und zog sich in die Hoffnung auf ein wenig Restschlaf zurück.
- Hey Odo, komm und trink einen mit uns, rief einer der Übernächtigten und pendelte eine halbleere Bierflasche zwischen Daumen und Zeigefinger. Seine brüchige Stimme rebellierte gegen die Müdigkeit, er kämpfte um sein schwindendes bacchantisches Hochgefühl und suchte nach einem würdigen Abschluss einer historischen Nacht; denn so viel war klar: diese noch nicht ganz vergangene Nacht war eine dieser Weißt-Du-Noch-Nächte von denen man sich ein Leben lang erzählt.
‚Wer erkennt mich denn da‘, fragte sich Odo Blume, ‚wo nicht einmal Pina mich wiedererkannt hat? Als ich von hier wegging, waren diese Kinder noch gar nicht geboren‘.
- Wer bist du? Woher kennst du mich?
- Ich bin Jan-Torben. Du bist mit meinem Alten zur Schule gegangen...
Der Junge hielt kurz inne. Nüchtern hätte er den Mann niemals mit dem vertrauten Du angesprochen. Doch der Alkohol und die durchwachte Nacht hoben ihn hoch zu den Erwachsenen. Odo verzog fragend das Gesicht.
- Jo Sagebiel, er hat viel von dir erzählt. Spricht sich eben rum, dass du wieder im Lande bist. Komm, lass uns einen trinken.
Joachim Sagebiels Sohn? Kurz erschreckte ihn der Gedanke, er könnte selbst schon erwachsene Kinder haben. Ohne eigene Kinder verharrt ja ein Teil von uns in permanenter Jugend. Die Physik zieht den Körper ins Alter, die Kinder schieben den Geist hinterher. Oder die Seele. Irgendwas jedenfalls scheint ohne eigene Kinder zurückzubleiben. Aus dem Gesicht dieses Milchbarts grüßte dunkel die Vergangenheit. Blanker Stahl durchbohrte Odos Brust: Schultern hochziehen, Wirbelsäule strecken, langsam und unauffällig einatmen, Luft kurz anhalten, langsam wieder ausatmen! So ließ gewöhnlich der stechende Schmerz bald wieder nach.
- Ein andermal gern sagte Odo knapp, der Nebel wartet nicht!
Der Milchbart stutzte:
- Hä? Wie meinst‘n das?
Odo hob seine Fototasche:
- Hier! Schnappschüsse, alles klar?
- Alles klar, der Nebel wartet nicht, sagte Jan-Torben Sagebiel und stieß ein erzwungenes Gelächter aus, irre und dämlich wie nur Besoffene es hervorbringen können:
- Hehehe, nicht wahr Freunde, Nebel und schöne Frauen sollte man nicht warten lassen, hehehe!
Odo hatte seinen damaligen Freund noch nicht wieder gesehen. Er hatte bislang nicht das geringste Bedürfnis, die alten Kontakte wiederzubeleben. Holzminden sollte eine Stadt wie jede andere sein. Ein Ort, den man aufsuchte, um etwas zu erledigen. Dass er zufällig hier aufgewachsen war, sollte keine Rolle spielen. Keine Bindung an eine Zeit, keine Bindung an einen Ort! Gebunden war man bloß an seine Aufgabe. Damit hatte er zwanzig Jahre lang gut gelebt, warum sollte er das aufgeben?
Am Ende der Weserstraße zeigte sich noch ein zarter Hauch von Morgennebel über dem Fluss. Es wurde rasch hell, fast zu rasch. ‚Ich hätte das Fahrrad nehmen sollen‘, dachte Odo und beschleunigte seinen Schritt. Seine Kameratasche, das Stativ, sein Bauchansatz und die Speckschicht des Oberkörpers hüpften im Rhythmus mit, als wollten sie sich vom Körper lösen. Odo hielt die Tasche und das Stativ fest, das Fett schwabbelte weiter. ‚Ein bisschen Sport wäre gut. Sobald sich in der Agentur die vielen Neuerungen etabliert haben, werde ich wieder ein wenig Sport machen‘, nahm Blume sich fest vor. Wie jedes Mal, wenn er sich körperlich anstrengen musste. Bisher fand sich immer was, das dem Sport in die Quere kam.
Senile Bettflucht trieb einen krummen Alten auf die Weserbrücke. Ist das nicht bitter? Das ganze Arbeitsleben lang träumt man davon, endlich ausschlafen zu können und im Alter jagen dich dann die schmerzenden Glieder und dumme Träume aus dem Bett. Die Krücke des Alten pochte im unrhythmischen Takt seines schleifenden Schrittes.
‚Sieht eher aus wie ein Hotel und nicht wie ein Altenheim‘, dachte Blume und sah bewundernd auf das stattliche Gebäude, das wie ein Brückenkopf am Stadtufer stand. Als er vor 20 Jahren Holzminden verlassen hatte, war das noch ein hässlicher Rohbau gewesen, der kurz zuvor im Hochwasser abgesoffen war. Schürmannbau hatte man die Ruine scherzhaft genannt. Die Kleinen nehmen sich gerne Anleihen von den Großen. Der große Schürmannbau hatte in der einstigen Bundeshauptstadt Bonn gestanden, benannt nach dem Architekten und genauso hoffnungslos im Hochwasser stehend wie der kleine Holzmindener Bruder. Niemand hatte damals geglaubt, aus den beiden Ruinen könne überhaupt noch was Brauchbares werden. Damals donnerten noch all die stinkenden Lastwagen über die Brücke und quetschten sich dröhnend durch das enge Herz der Stadt. Es hat sich so viel verändert hier. Weserabwärts ragte der Bogen der neuen Brücke aus dem Nebel, die nun den Durchgangsverkehr um die Stadt herumführte. Das war noch nicht sein Schnappschuss, aber Brücken, die aus dem Nichts ins Nichts führen, sind ob ihrer vieldeutigen Botschaft auf Kalendern oder Ansichtskarten immer wieder gern gesehen. Odo packte seine Kamera aus, legte sie am Brückengeländer auf und nahm den Schuss als Zugabe mit.
Nun aber schnell weiter!
Er musste noch am ehemaligen Sägewerk vorbei, das früher sein geschäftiges Durcheinander geschickt hinter Büschen und Bäumen verborgen hatte. Mittlerweile waren die Büsche und Bäume weg und an Stelle des alten, maroden Gebäudes strahlte eine gepflegte Tischlerei mit dem sinnigen Namen Specht Stil und Kompetenz aus. Daneben lag noch ein Haus und dahinter dann die Wiese und in ihrer Mitte die gesuchten Bäume. Odo erkannte Obstbäume nur an ihren Früchten. Davon aber war man noch weit entfernt. Gerade erst waren die Blüten abgefallen und die Blätter staken noch ihn ihren Knospen. Die Bäume standen also noch nackt bis aufs Skelett und reckten ihr bizarres Ast- und Zweigwerk eitel in den Morgennebel. Dieser Anblick hatte etwas Intimes, man konnte den Bäumen in ihr Inneres blicken, ehe sie ihr Geheimnis in dichtgrünes Blattwerk hüllten. Er stieg über den Zaun und rannte über die Wiese, so schnell Ausrüstung und Körperfett es zuließen, denn jeden Augenblick konnte die Sonne hinterm Kratzeberg hochkriechen und das mystische Motiv zerstören. Hastig stellte er sein Stativ auf und schraubte die Kamera dran. Mit geübtem Blick justierte er das Gerät, stellte es tiefer und kippte die Kamera leicht nach hinten. Da stand nun der Pflaumenbaum (so vermutete er) mit seinen zielstrebig nach oben gereckten Ästen und der knorrige Apfelbaum (oder war es ein Kirschbaum?) stand geduckt links daneben. Der Apfel- oder Kirschbaum sah aus, als hätte seine verdrehte Krone sich nie richtig entscheiden können, wohin sie eigentlich hatte wachsen wollen: mal hierhin; nein, doch wieder andersrum; dann wieder ganz anders, gerade wie es sich ergab. Warum war ihm der zufallsorientierte Apfel- oder Kirschbaum sympathischer als die geradlinige Pflaume? Egal, nur gemeinsam ergaben sie dieses faszinierende Ensemble. Ihr schwarzes Geäst, ihr filigranes Gezweige zeichnete sich kontrastreich vom weißen Dunst ab. So hatte er es gestern zufällig entdeckt und so wollte er es haben! Odo spielte mit Blenden und Belichtungszeiten und schoss ganze Serien ab. Über dem flachen, seidigen Nebelschleier, der die Weser bedeckte wie eine schlafende Frau, war der Himmel schon zur Hälfte in Rosa getaucht. Odo drehte sein Objektiv in die Totale, von links schob sich der Brückenbogen ins Bild. Er drehte zurück, bei etwa 28 mm verschwand die störende Brücke wieder. Nahezu perfekt, aber eben nur nahezu. Während er noch überlegte, was dem Bild fehlte, fiel ihm auf: Im Gegenteil es war zu viel. Ein Himmel halb in Flammen und darunter ein Idyll das an Kitsch grenzte, obwohl Odo sich immer wieder sagte: Die Natur kennt keinen Kitsch! Kitsch ist eine rein menschliche Erfindung. Er kippte die Kamera, so dass die Morgenröte verschwand und das filigrane Geäst im milchigen Nebelweiß wie eine Skulptur an der Grenze zwischen Leben und Tod verharrte. In dieses rauschhaft-schöne Bild fügte sich stimmig der penetrant-bittersüße Geruch der Maiglöckchen - ein Konglomerat aus Ästhetik, Erotik und tödlichem Gift! Odo sog die Luft gierig ein wie einen Joint. Der betäubende Duft kam aber nicht von lebendigen Blumen, sondern von der Fabrik am anderen Ende der Stadt. Man produziert hier rund um die Uhr Duft- und Aromastoffe für die ganze Welt. Holzminden ist und nennt sich: die Stadt der Düfte! Manchmal riecht es überall nach Erdbeereis, ein andermal zieht eine Zwiebelwolke oder der Hauch von Menthol in alle Windrichtungen. Am 1. Mai nun ausgerechnet Maiglöckchen: ein betörender Zufall.
Nun schob die Sonne ihre glühende Krone hoch. In ihren Lichtlanzen glitzerten die Nebeltröpfchen ihrer Auflösung entgegen. In wenigen Minuten zog die Sonne der schlafenden Weser die watteweiche Decke weg, die nun nackt und schamlos, träge und fröstelnd in ihrem Bett lag. Nur im langen Schatten des hässlichen Getreidesilos hielt sich noch eine weiße Schwade, durch die zwei Pferde galoppierten, verunsichert vom Fotografen oder auch nur aus morgendlichem Bewegungsdrang. Blume riss Kamera samt Stativ an sich, stellte auf „Dauerfeuer“ und hielt auf die Pferde. Das rasche Klicken der Kamera klang wie Jazzbesen, die auf ein Schlagzeug prasselten, begleitet vom exaltierten Gesang einer einzelnen Feldlerche und vom dumpfen Basso Sostenuto des Hufgetrappels.
- Yeah!
Solche Geschenke bekam man nur selten. Blume sah auf das Display und nickte hochzufrieden. Wenn er den hässlichen Getreidespeicher am oberen Bildrand wegschnitt, blieben ihm zwei Pferde, die durch eine Wolke galoppierten: Pegasus und Partner.
Er liebte dies absichtslose Arbeiten. Keine Werbebotschaft, keine Website, für die ein Bild gefunden oder geschaffen werden musste, sondern Bilder die für sich selber standen, Bilder, die sich ihren Zweck aussuchen durften: Kalender, Postkarte, Dekofoto, Bildband, oder, völlig zweckfrei: Kunst. Auf diese Weise hatte er sich schon ein stattliches Archiv geschaffen, aus dem er einige seiner besten Arbeiten gespeist hatte. Der Ordner „Kunst“ jedoch war beinah etwas Heiliges. Hierin sammelte er nur Bilder, die auch aus seinem Inneren hätten stammen können. Bilder, die er hätte malen wollen, hätte er zu malen vermocht. Aber er war nur Fotograf und daher auf den Zufall angewiesen, der ihm solche Wunschbilder lieferte. Hochzufrieden packte er seine Kamera in die Tasche.
Häufig, wenn Odo Auto fuhr, fiel ihm plötzlich etwas ins Auge - ein Haus, ein Baum, ein Berg, eine Brücke oder sonst was - in einem ganz bestimmten Licht - und wusste noch im selben Augenblick: das musste er so fotografieren, von dieser Perspektive, zu dieser Jahreszeit, bei diesem Wetter und in diesem Licht! Weil er schon zu viele solche „optischen Geschenke“, wie er sie nannte, nicht eingelöst hatte, notierte er mittlerweile Zeit, Ort und Motiv, um irgendwann den Shot zu machen. Dennoch konnte er nur wenige solcher Schüsse tatsächlich verwirklichen, weil er beispielsweise nicht wieder in diese Gegend kam oder Zeit, Licht und Stimmung nicht mehr passten. In seltenen Fällen fand er die Stelle einfach nicht mehr.
Die beiden Bäume im Morgennebel draußen vor der Stadt hatten allerdings nicht mehr gekostet, als früh genug aufzustehen. Und das war kein Problem. Blume unterteilte sein Leben nicht, wie andere Leute, in Tag und Nacht, Arbeit oder Freizeit, Sonn- oder Wochentag. Er arbeitete, wann er Lust hatte, also fast immer, und er schlief wenn er müde war, also selten vor Mitternacht und kaum länger als fünf, sechs Stunden.
Nun hatte er im Kasten, was er hatte einfangen wollen, sogar noch einige kleine Zugaben, eine gute Ausbeute, doch der Tag war einfach zu jung und das Licht zu klar, um nach Hause zu gehen. Er klappte das Stativ nur zu, warf es auf die Schulter und überlegte, wo er fußläufig die besten Motive in dieser Tageszeit finden könnte.