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Die größte Prozession in der katholischen Welt

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Zu den erfreulichen Erfahrungen gehört eine jahrhundertelange Tradition der Volksfrömmigkeit, die unsere kirchliche Situation in Amazonien auch vom Süden Brasiliens unterscheidet. Im Süden kamen im 19. Jahrhundert europäische Einwanderer aus Polen, Deutschland, Italien und haben ihre Priester, die deutschen Lutheraner ihre Pastoren mitgebracht. Dort ist heute die kirchliche Situation ähnlich wie in Europa. Bei uns in Amazonien sind diese Einflüsse durch die Migration aus dem Süden Brasiliens in den vergangenen Jahrzehnten größer geworden, trotzdem ist die Art und Weise der Religiosität in Amazonien anders gelagert. Man merkt, dass durch Jahrhunderte oder zumindest durch Jahrzehnte kein Priester dagewesen ist. Die Leute haben ihre eigenen religiösen Empfindungen und Ausdrucksformen geschaffen und gepflegt, zum Beispiel durch Prozessionen und eine besondere Art von Heiligenverehrung.

In Belém gibt es seit mehr als zwei Jahrhunderten den „Círio de Nossa Senhora de Nazaré“, die weltweit größte Prozession und Glaubensmanifestation der katholischen Kirche. Am zweiten Sonntag im Oktober wird ein kleines Bildnis Unserer Lieben Frau von Nazareth von der Kathedrale in Belém zur Basilika der „Nossa Senhora de Nazaré“ getragen. Die Statue kommt vermutlich aus Portugal. Hunderttausende Gläubige begleiten die Marienstatue auf einer fünf Kilometer langen Strecke durch die Straßen der Hauptstadt unseres Bundesstaates Pará. Weit mehr noch säumen die Straßen. Bis zu zwei Millionen Menschen sind hier vereint zur Verehrung der Jungfrau. Die ganze Stadt wird zu einem unendlichen Meer von Menschen.

In Altamira haben wir zwei Prozessionen. Die eine zu Ehren von São Sebastião am 20. Jänner, die andere am vierten Sonntag im Oktober auch zu Ehren Unserer Lieben Frau von Nazareth, der Patronin vom Xingu. Diese Prozessionen haben sich über Jahrhunderte erhalten, auch nachdem die Jesuiten aus der ersten Missionswelle vertrieben worden waren. Auch das Ave Maria und das Vaterunser wurden tradiert. Das hat heute den Vorteil, dass die Ausübung der Religion nicht ausschließlich vom Priester abhängt. Es gibt viele Frömmigkeitsformen, die in den Familien und Gemeinden weitergegeben werden.

Wenn ich mit den Gemeinden Gottesdienst feiere, dann sind mindestens die Hälfte junge Leute, viele jüngere Ehepaare mit den Kindern dabei. Kinder tanzen und springen manchmal in der Kirche herum, dass ich bei der Predigt aufpassen muss, den Faden nicht zu verlieren. Aber man geht am Sonntag in die Kirche. Das ist auch für die Jüngeren selbstverständlich. Es gibt Jugendgruppen, die zum Teil sozial, aber auch charismatisch ausgerichtet sind. Der Organisationsgrad war vielleicht vor ein, zwei Jahrzehnten ein wenig besser. Aber wenn der Priester in den Pfarrgemeinden einen Draht zu den jungen Leuten hat, dann sind sie auch da.

Die großen christlichen Feste des Jahres sind bei uns jahreszeitlich anders geprägt als in Europa. Zu Weihnachten ist es heiß. Das Leben spielt sich großteils auf der Straße ab. Oft geht es zu wie auf einem Jahrmarkt. Die Karwoche und Ostern unterscheiden sich insofern, als der wichtigste Tag in Brasilien der Karfreitag zu sein scheint. Der Karfreitag ist wirklich ein Tag, an dem alles ruht. In der Früh beginnt der große Kreuzweg, der quer durch die Stadt führt und mehrere Stunden lang dauert. Auch wer das ganze Jahr über nie in der Kirche ist, bei dieser Karfreitagsprozession ist er dabei. Um drei Uhr Nachmittag beginnt in allen Kirchen und Kapellen die offizielle Karfreitagsliturgie mit einer nicht aufhören wollenden Kreuzverehrung. Jede und jeder kniet vor dem Kreuz nieder und küsst eines der Wundmale Jesu.

Am Karfreitag sind tatsächlich mehr Menschen in den Kirchen als in der Osternacht. Die Leute haben einen tieferen Zugang zum Leiden, zum Schmerz, zum Tod. Dagegen können sie mit der Auferstehung oft weniger anfangen, schlicht und einfach, weil sie von Auferstehung in ihrem Alltag viel weniger erfahren. Ich denke, das ist psychologisch von der Situation her, in der unsere Leute leben, verständlich. Sie identifizieren sich mit dem leidenden Jesus, mit dem Gegeißelten, mit dem Dornengekrönten, mit dem unter dem Kreuz Gefallenen. Der glorreiche Jesus, der Auferstandene mit der Siegesfahne, ist ihnen nicht so nahe.

Trotzdem ist die Osternachtfeier immer ein tiefes Erlebnis. Es wird sehr viel gesungen, beim Gloria läuten die Glocken, wenn es solche gibt, Böller knallen und Raketen steigen. Das Halleluja wird zu einem wahren Jubelgesang. Die Leute haben Zeit. Man kann alle zwölf Lesungen vortragen. Das ist überhaupt kein Problem. Niemand schaut auf die Uhr. Beim Friedensgruß liegen sie sich in den Armen. Das geht dann ewig lang hin und her mit dem österlichen Wunsch „Feliz Páscoa!“. Auch der Bischof umarmt die Leute und wird umarmt, er wünscht Frohe Ostern und empfängt den Ostergruß. Niemand darf übersehen werden. Es macht überhaupt nichts, wenn die Feier bis Mitternacht oder darüber hinaus dauert. In den kleinen Gemeinden schlafen die Kinder oft schon seit den Lesungen auf den Bänken oder am Fußboden.

Heute spüren wir zunehmend den Einfluss der Medien. Manche antikirchlichen oder antireligiösen Wellen, die in Europa nichts Neues sind, schwappen auch zu uns herüber. Oft sind die Universitäten Orte einseitiger Kritik an der Kirche von heute und in der Vergangenheit. Nur die düstersten Seiten der Kirchengeschichte werden aufgerollt. Junge Leute kommen oft zu mir und sagen, sie verstünden die Welt nicht mehr. Wenn die Kirche Thema einer Debatte sei, würde nur von Kreuzzügen und Hexenverbrennungen gesprochen und kein gutes Haar an der Kirche gelassen. Ich weise dann darauf hin, dass jede Schwarzweißmalerei ungerecht ist. Es gab die Inquisition mit all ihren schrecklichen Auswüchsen, aber es gab in derselben Epoche auch einen Franz von Assisi (1181–1226) und seine Bewegung mit ihren positiven Auswirkungen bis zum heutigen Tag. Die Kirche hat auch große Fehler im Umgang mit den indigenen Völkern Amerikas gemacht. Diese Tatsache kann nicht ungeschehen gemacht werden. Aber andererseits war es dieselbe Kirche, die einen Antonio de Montesinos (1475–1540) und einen Bartolomé de Las Casas (1484–1566) hervorgebracht hat, die ihr Leben und all ihre Energie zur Verteidigung der indigenen Völker gegen die Ausbeutung vonseiten ihrer Landsleute einsetzten.

Bei allen Fehlern und Unzulänglichkeiten der Missionare in den vergangenen Jahrhunderten darf doch nicht vergessen werden, dass es Missionare gegeben hat, denen die Inquisition mit dem Scheiterhaufen drohte und die aufgrund ihres Einsatzes für die Indios ins Exil gejagt wurden. Der Schrei des Jesuitenpaters Antonio Vieira (1608–1697) in seiner berühmten Epiphaniepredigt 1662 vor dem portugiesischen Hof darf nicht überhört werden: „Sie wollen, dass wir die Heiden zum Glauben bringen und sie der Habgier ausliefern; sie wollen, dass wir die Schäflein zur Herde bringen und sie Herodes ausliefern. […] Dieses ganze Land ist heute nach so wenigen Jahren verwüstet und verlassen, und von so vielen und so verschiedenen Bevölkerungsgruppen, von denen nur noch die Namen geblieben sind, sieht man heute nur noch Ruinen und Friedhöfe.“

Und übrigens, was bringt es, Steine auf Missionare im Kontext vergangener Jahrhunderte zu werfen? Viel wichtiger ist es, heute die Rechte und Würde der in ihrem Überleben bedrohten indigenen Völker zu verteidigen. Es darf wirklich nicht vergessen werden, dass durch den Einsatz des Indigenen Rates der Brasilianischen Bischofskonferenz die Rechte der indigenen Völker in der Verfassung von 1988 festgeschrieben wurden und die katholische Kirche heute die einzige Institution ist, die sich ohne Abstriche gegenüber einer nachlässigen, gleichgültigen oder sogar anti-indigenen Regierung für die Rechte, die Würde und das Leben der indigenen Völker einsetzt.

In Brasilien geht viel auf der persönlichen Schiene. Es gibt kaum eine Familie, die nicht einen Priester oder Bischof zu ihren guten Bekannten zählt. Es kann jemand ein überzeugter Atheist sein, aber er ist trotzdem stolz darauf, mit einem Bischof oder Priester befreundet zu sein. Es ist mir selbst schon passiert, dass mir jemand sagt, er habe nichts am Hut mit der Kirche, aber er finde gut, was ich tue, und unterstütze die Anliegen, die ich verteidige.

Am Xingu bin ich jedes Jahr in jeder Pfarrgemeinde. Zum Teil eine ganze Woche, denn eine Pfarre ist ja immer die Summe von bis zu 80 Gemeinden. Zu Weihnachten bin ich nicht in Altamira, sondern immer am Unteren Xingu. Ich feiere mit den Leuten in Souzel die Christmette, am 25. Dezember ist dann die Firmung, denn wenn der Bischof kommt, ist Firmung, auch zu Weihnachten. Am Nachmittag fahre ich sechs Stunden flussabwärts nach Porto de Moz. Am nächsten Tag geht es weiter nach Gurupá, da ist dann am 27. Dezember das Fest des hl. Benedikt. Am 29. Dezember fahre ich nach Porto de Moz zurück. Dort höre ich in der Silvesternacht die Böller, aber den Dankgottesdienst feiern wir bereits um 20 Uhr. Am 2. Jänner geht es zurück nach Altamira. Die Leute in Altamira verstehen, dass ich nicht nur der Bischof von Altamira bin und daher nicht an allen Feiertagen am Sitz der Prälatur sein kann. Die Karwoche und Ostern verbringe ich aber immer in Altamira.

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