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Als junger Priester in die „Mission“ gesandt

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Ich bin im November 1965 in Brasilien in eine Kirche und eine Seelsorge hineingekommen, die stark vom Sakramentalismus geprägt war. Ich erinnere mich an den 27. Dezember 1966. Da habe ich den ganzen Tag lang die Taufe gespendet, nach dem alten Ritus, der noch viel länger gedauert hat. Am Morgen feierte ich dazu noch den Gottesdienst, um 5 Uhr Nachmittag war eine Prozession und am Abend gab es einen weiteren Gottesdienst, und zuvor noch Beichtgelegenheit. Gegen 22 Uhr bin ich ins Pfarrhaus gekommen und habe zum Bischof gesagt: Dom Clemente, ich bin absolut nicht mehr in der Lage, mein Brevier zu beten. Da hat er geantwortet: Für heute bist du dispensiert, heute hast du wirklich viel für das Reich Gottes gearbeitet. 104 Kinder sind getauft worden, sind zu Christen geworden.

Für mich war das ein großer Frust. Nicht die Taufen als solche, aber die Art und Weise, wie wir sie gespendet haben, gleichsam in einer Massenabfertigung. Die Kinder waren zum Teil schon zwei, drei Jahre alt. Sie waren sehr unruhig, und Eltern und Paten waren kaum auf die Taufe vorbereitet. Es hat einfach zum guten Ton gehört, dass man die Kinder taufen lässt. Die Taufpaten wurden oft im Schnellverfahren angeheuert. Ich habe mir gedacht: Diese Menschen kommen aus dem Busch, tagelang sind sie hierher gerudert, und dann gehen sie zurück und haben das ganze Jahr lang keine Gemeinschaft, keine christliche Gemeinde. Das kann es nicht sein! Sakrament ja, aber da muss eine Gemeinde dahinterstehen.

Bis 1967 sind wir Priester im Talar aufgetreten. Wir waren irgendwie abgehoben von den Menschen. Eines Tages haben wir von Strömungen in der Nachbardiözese Santarém erfahren, dass sie mit den Leuten eine Gemeindearbeit aufbauen wollten. Schon 1968 kam mit der Bischofsversammlung von Medellín der Ankick. Medellín war ein Meilenstein für Lateinamerika und die Bischöfe von Amazonien waren die ersten, welche die Beschlüsse von Medellín konkretisieren wollten. Das geschah zunächst 1972 in der wegweisenden Versammlung der Bischöfe Amazoniens in Santarém. Wir hatten erlebt, dass das Konzil bei der Versammlung der lateinamerikanischen Bischöfe in Medellín in die konkrete Realität von Lateinamerika übertragen wurde. Jetzt sollten die Richtlinien von Medellín auf die Situation von Amazonien angewendet werden. Im Grunde ging es um die Frage, wie wir das Konzil in Amazonien verwirklichen können.

Um diese Zeit, Anfang der 1970er Jahre, wurde die Transamazônica quer durch den Urwald geschlagen. 1972 ist auch der CIMI (Conselho Indigenista Missionário) gegründet worden, der Rat der Brasilianischen Bischofskonferenz für die indigenen Völker. Da ging es schon sehr stark um einen gemeinsamen Weg mit den indigenen Völkern und darum, dass wir nicht gekommen waren, um diese Völker zu missionieren, sondern um das Evangelium in ihrer Mitte „Fleisch werden“ zu lassen. Es ging um eine „Inkarnation“. Es ging darum, den indigenen Völkern, die immer am Rande der Gesellschaft waren, damals wie heute, die frohe Botschaft zu verkünden, gemäß dem Missionsdekret des Konzils: „Die Kirche ist von Christus gesandt, die Liebe Gottes allen Menschen und Völkern zu verkünden und mitzuteilen“ (AG 10). Was heißt das, Menschen am Rande, die gleichsam schon vom Tod gezeichnet sind, die Liebe Gottes zu verkünden und mitzuteilen?

Die Transamazônica hat dem Lebensraum dieser Völker große Wunden geschlagen. Das war der erste Großangriff auf Amazonien. Und zwar ganz bewusst. Die Militärregierung betonte, es handle sich um ein strategisches Projekt, weil Amazonien die Achillesferse für die Verteidigung von Brasilien sei. Daher wurden gleichzeitig große Kasernen an der Transamazônica gebaut, eine davon in Altamira, auf einer Anhöhe mit einem entzückenden Blick auf den Xingu.

Welche Einstellung die Regierung zu den indigenen Völkern hatte, zeigte ein Ausspruch des brasilianischen Präsidenten der damaligen Militärdiktatur, Emílio Garrastazu Medici. Er sprach von Amazonien als Land ohne Leute. Die indigenen Völker waren für ihn nicht vorhanden. Tatsache ist aber, dass die indigenen Völker die ältesten Bewohner von Brasilien sind. Sie haben wohl keine Hochkultur gehabt wie die Inkas oder die Azteken. Sie waren Sammler und Jäger. Aber bis heute erinnern Felsenmalereien, Höhlenmalereien in unserem Bundesstaat Pará an Völker, die hier schon vor 40.000 Jahren siedelten.

Auch als Kirche waren wir bei meinen ersten seelsorglichen Reisen in die Gemeinden, 1966/67, noch nicht direkt bei den armen Menschen. Es war vielmehr üblich, dass der Priester, wenn er in die Gemeinde kam, im Haus des Patrons gewohnt hat. Der Patron war so etwas wie ein Landvogt, dem Land und Leute „gehörten“. Die Menschen, die für ihn arbeiteten, waren so etwas wie Leibeigene. Nie sahen sie „die Farbe des Geldes“. Sie erhielten für ihre Arbeit keinen Lohn in Form von Geldscheinen, sondern nur das Notwendigste zum täglichen Leben, vom Salz angefangen bis zum Öl oder was immer sie benötigt haben.

Es war eben Brauch, dass der Priester im größten Haus einkehrte, das es gab, also beim Patron. Er wurde dort herzlich empfangen und gut bewirtet. Der Patron ließ am Abend seine Leute kommen und hielt sie an, zur Beichte zu gehen. Tatsächlich stand dann eine lange Schlange zur Beichte an. Der Patron selbst war nicht unter den Beichtkindern, aber er hat mir aufgetragen, den Leuten bei der Beichte ins Gewissen zu reden, dass sie die Produkte nur an ihn liefern und nicht an andere verkaufen dürften. Denn sie würden ja ohnehin alles, was sie zum Leben brauchten, von ihm bekommen. Daher benötigten sie auch kein Geld. Ich habe natürlich die Anweisungen des Patrons nie ausgeführt, und wenn er nachfragte, habe ich auf das Beichtgeheimnis verwiesen.

Bei diesen Besuchen haben wir Priester die Kinder getauft, die Brautpaare gesegnet und selbstverständlich mit den Leuten die Messe gefeiert. Dann sind wir an den nächsten Ort, zum nächsten Patron, weitergereist. Aber ab 1972, ab der Versammlung der Bischöfe Amazoniens in Santarém, waren die großen Häuser der Patrons plötzlich nicht mehr der Versammlungsort, sondern wir haben uns mit den armen Leuten am Flussufer unter irgendeinem schattenspendenden Baum oder in einer Baracke getroffen. Natürlich haben wir auch weiterhin Kinder getauft und Brautpaare gesegnet. Aber wir wiesen die Leute daraufhin, dass zu den Sakramenten das Gemeindeleben dazugehören muss. Ein getauftes Kind ist immer auch Mitglied einer christlichen Gemeinde.

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