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2.Ein Bischof und Pendler
zwischen zwei Welten „Ich bin Brasilianer, in Österreich geboren“

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Seit nunmehr knapp fünf Jahrzehnten lebe ich in zwei Welten. Ich sage immer: Ich bin Brasilianer, in Österreich geboren. Wenn ich in Österreich bin, fühle ich mich zu Hause. Aber auch am Xingu fühle ich mich zu Hause. Ich lebe mein Leben in Brasilien. Aber meine Wurzeln habe ich nie verleugnet, ich liebe Koblach und das Ländle und habe eine ganz tiefe Beziehung zur Stadt Salzburg, wo ich studiert habe und geweiht worden bin. Ich fühle mich heute noch als Priester, der von seiner Heimat gesandt worden ist, um für die Indios und die anderen Menschen hier am Xingu da zu sein. Ohne die Rückendeckung aus meiner Heimat wäre vieles nicht möglich.

Wenn ich in Österreich bin, habe ich meist das Glück, die Kirche in besonderen Situationen zu erleben, etwa bei Firmungen. Da war und ist meist alles eitel Wonne. Ich habe oft sehr gute Gespräche in der Vorbereitung auf die Firmung geführt und gemerkt, da sind junge Menschen auf der Suche. Wenn die jungen Leute dann hören, dass ich in Amazonien lebe und mich für die Indios und den Regenwald einsetze, dann sind sie sehr aufgeschlossen, dann wollen sie genauere Informationen. Von manchen Firmlingen bekomme ich jahrelang E-Mails. Ein Mädchen schreibt, sie werde jetzt bald die Matura machen und sie hätte dieses und jenes im Sinne, und fragt mich, was ich dazu sage. Auch wenn ich es nur schwer schaffe, alle E-Mails zu beantworten, so achte ich doch sehr darauf, den Dialog mit meinen Firmlingen aufrechtzuerhalten.

Im Einzelnen kenne ich natürlich die Lebenswelt der jungen Leute in Österreich nicht mehr so gut. Wenn ich mehr mit ihnen zu tun hätte, würde ich mich zuerst einmal mit ihnen zusammensetzen und sie erzählen lassen. Ich würde sagen: Ich bin da, redet euch aus, über eure Nöte und Sorgen, aber auch über das, was euch freut, was euch begeistert. Bei den Gesprächen im Vorfeld der Firmung haben sie ihre Fragen meist schon vorbereitet. Da sind sie ganz ungeniert. Das ist herrlich. Wir waren als Jugendliche nicht so offen. Bestimmte Fragen haben wir nicht gestellt, schon gar nicht einem Pfarrer oder Bischof. Mir kommt vor, dass die jungen Menschen heute schon mit 13, 14 Jahren sehr eingespannt und überfordert sind. Es bleibt kaum Zeit für andere Lebensbereiche und ich kann auch verstehen, dass sie am Sonntag zuallererst einmal ausschlafen wollen.

Sehr großen Respekt habe ich vor den Priestern, die ich in Österreich und darüber hinaus im deutschsprachigen Raum kenne. Ich habe mir oft gedacht, dass sie in einer viel schwierigeren Situation sind als wir in Brasilien. Der Gesellschaft ist die Kirche oft ziemlich egal, viele gehen weg, treten aus. In den Medien herrschen kirchliche Skandale vor, für die der einzelne Seelsorger absolut nichts kann, die aber seine Arbeit schwer beeinträchtigen. Die Leute kommen zu ihm und sagen: Das kann doch nicht die Kirche sein, die wir wollen.

Größten Respekt habe ich auch vor den Religionslehrerinnen und Religionslehrern. Es ist unglaublich, was die oft an Kritik an der Kirche einstecken müssen, für Zustände, an denen sie selbst nichts ändern können. Trotzdem geben sie nicht auf! Manchmal erzählen mir solche Menschen aus ihrem Alltag und mir läuft es kalt über den Rücken. Das erlebe ich drüben nicht. Klar gibt es auch bei uns in Altamira junge Leute, für die die Kirche im Moment nicht interessant ist. Aber sie sind nicht unbedingt aggressiv. Dagegen habe ich in Österreich mit Religionslehrerinnen und Religionslehrern gesprochen, die ein Burn-out oder depressive Phasen erlebt haben, weil sie diese harsche Kritik nicht mehr ausgehalten haben.

Anstatt ihnen unendlich dankbar zu sein für ihren Dienst, werden sie vor die Tür gesetzt, wenn zum Beispiel in ihrer Ehe etwas schiefgeht. Eine Religionslehrerin steht jahrelang, vielleicht jahrzehntelang in der Klasse, macht verantwortungsvoll ihre Aufgaben. Dann wird sie von ihrem Mann verlassen oder lässt sich scheiden, weil es für sie so nicht mehr weitergehen kann. Wenn sie eine neue Beziehung eingeht, fliegt sie hinaus. Da komme ich nicht mit. Da wird am Ende noch viel mehr kaputt gemacht und Leid zugefügt, als solche Menschen ohnehin ertragen müssen.

Eine große Offenheit sehe ich den Gemeinden in Österreich. Die Menschen sind sehr interessiert, auch an unserem Schicksal in Brasilien, an der Bewahrung der Mitwelt in Amazonien. Wir könnten viele unserer Initiativen überhaupt nicht durchführen, wenn wir nicht diese tatkräftige und nachhaltige Unterstützung hätten. In dieser Solidarität, die über alle Grenzen und Einschränkungen hinweggeht, ist Österreich wirklich sehr vorbildlich. Das ist für uns eine Basis, ohne die wir nicht leben könnten.

Wir haben in Brasilien den Vorteil, dass diese Säkularisierungswelle, wie wir sie in Europa erleben, dort noch nicht angekommen ist. In dem Ausmaß, wie in Europa der Kirche Gegenwind teils ins Gesicht bläst, kennen wir das in Brasilien nicht. Ob das auch auf uns zukommt? Hoffentlich nicht so rasch. Wobei das Naturell der Brasilianer einen solchen Trend immer ein wenig abschwächen wird. Ich habe nie erlebt und könnte mir das auch nicht vorstellen, dass mich zum Beispiel ein Jugendlicher als Priester oder als Bischof angepöbelt hätte, weder in der Schule noch sonstwo.

Erholung finde ich, wenn ich jedes Jahr ein paar Wochen in Koblach bin. Ich liebe es, im Ried und im Wald zu gehen, und beginne oft bereits um fünf Uhr früh meinen Gesundheitslauf. Ich gehe schnell und bewältige fünf Kilometer in 45 bis 48 Minuten.

Meine Familienbande schätze ich sehr und bin froh darum. Wir sind sechs Geschwister, aber es gibt darüber hinaus die Großfamilie und es gibt den Ort, wo ich aufgewachsen bin. Da habe ich nach wie vor meine Beziehungen aus der Jugendzeit, die habe ich nie abgebrochen. Darüber bin ich sehr glücklich, frei nach Goethe: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein.“ Für meine früheren Hobbys bleibt mir aber kaum mehr Zeit. Früher bin ich in die Berge oder Ski fahren gegangen. Wenn ich in Vorarlberg bin, dann ziehe ich es heute vor, in der Ebene zu wandern. Steil hinauf tue ich mich schwer. Auch bin ich nicht mehr schwindelfrei. Ich weiß nicht, wie und warum ich es nicht mehr bin.

Ich bin 1965, also vor einem halben Jahrhundert, von daheim weggegangen. Aber für die Leute in Koblach bin ich bis heute nicht Bischof, sondern ich bin der Erwin. Da fühle ich mich gut. Ich fühle mich aber auch in Brasilien zu Hause, am Xingu, im Urwald. Das ist mein Umfeld. Ich bin Brasilianer und ich bin bis heute überzeugt, dass das mein Weg ist. Ich bin glücklich in Brasilien.

Ich habe beide Staatsbürgerschaften, die österreichische und die brasilianische. Ich wollte die österreichische Staatsbürgerschaft nie aufgeben. Das wäre für mich komisch, in Österreich sind meine Wurzeln, die ich nie vergessen habe. Ich bin nach wie vor immer wieder in Österreich und ich bin auch Österreicher. Aber ich lebe und arbeite in Brasilien und bin 1978 brasilianischer Staatsbürger geworden. Damals war ich noch nicht Bischof und ich war neben meiner spezifisch priesterlichen Tätigkeit auch im Schuldienst tätig. Ich musste meine Diplome vom Studium in Salzburg beglaubigen lassen. Dafür musste ich mich einer Nachprüfung in portugiesischer Sprache und Literatur unterziehen. Das habe ich gern gemacht und sage mit einem gewissen Stolz, dass ich die Note 9,5 erhalten habe, also ganz nahe an der Bestnote 10.

Außerdem musste ich eine Arbeit über die brasilianische Geschichte und Realität schreiben. Das habe ich gemacht und ich habe die entsprechenden Stempel bekommen und zunächst eine provisorische Lehrbefugnis für Erziehungspsychologie, -philosophie und -soziologie an der Lehrerbildungsanstalt. Nebenbei habe ich noch Englisch unterrichtet, weil kein Englischlehrer da war. Aber ich fand es irgendwie komisch, dass ich nur eine „provisorische“ Lehrverpflichtung hatte und diejenigen, die ich ausbildete, sofort nach Abschluss der Studien eine ordentliche Lehrbefugnis bekamen.

Ich bin dieser Geschichte nachgegangen und die Erklärung war einfach: Ja, gut, Sie haben alle Diplome, das ist in Ordnung, aber was ihnen fehlt, ist die brasilianische Staatsbürgerschaft. Daraufhin ging ich zum österreichischen Botschafter in Brasilia und unterbreitete ihm mein Anliegen: Ich möchte gerne die brasilianische Staatsbürgerschaft annehmen, aber die österreichische nicht verlieren. Der Botschafter machte mir zunächst keine großen Hoffnungen. „Das ist sehr, sehr schwierig“, sagte er in seinem oberösterreichischen Dialekt, „wenn Sie nicht Herbert von Karajan sind oder Karl Schranz, dann ist das sehr, sehr schwierig. Sie müssen für Österreich interessant sein.“

Dann fragte er mich, woher ich käme. Das hätte er eigentlich aus meinem alemannischen Akzent erraten können. „Aus Vorarlberg“, antwortete ich. „Ja, da schaut die Geschichte ein bisschen anders aus. Vorarlberg ist ja so klein, dass jeder jeden kennt! Da gibt es doch sicher einen Landtagsabgeordneten, der sich für Sie starkmacht.“ Als ich das nächste Mal nach Vorarlberg gekommen bin, habe ich bei einem Fest den späteren Landesstatthalter Siegi Gasser getroffen und ihn gefragt, ob er mir weiterhelfen könne. Er hat gemeint: Das machen wir doch sofort. Aber Sie müssen eben interessant sein für Vorarlberg. – Wie wird man das? – Was tun Sie denn drüben in Brasilien? – Ich unterrichte an der Lehrerbildungsanstalt, ich bin offiziell der Präsident des Alphabetisierungsprogramms, ich bin neben meinen priesterlichen Aufgaben in der Schule angestellt. – Gut, bitte schreiben Sie das alles zusammen.

Das Land Vorarlberg hat dann tatsächlich in Altamira bei der Lehrerbildungsanstalt angefragt, ob ich dort wirklich unterrichte und was ich sonst täte und sei. Auch der Bürgermeister von Altamira erhielt eine Anfrage. Der war natürlich voll des Lobes über mich. So bekam ich schließlich 1978 den Bescheid, dass ich im Falle der Annahme der brasilianischen Staatsbürgerschaft die österreichische behalten dürfe.

In Brasilien war damals noch die Militärregierung am Ruder. Das war ein wenig gefährlich, weil ich Priester war. Ich musste zu einer Befragung durch einen Militär. Der hat mich ausgefragt, welche Literatur ich lese, was meine Hobbys sind. Da habe ich von Musik geredet, von Mozart und Salzburg, wo ich studiert hatte. Schließlich fragte er: „Was sagen Sie zu Che Guevara?“ Er wollte sichergehen, dass ich kein Marxist bin. Ich habe geantwortet, dass ich gegen jede Art von Gewalt sei. Das hat ihn dann überzeugt. Schlussendlich wollte er noch wissen, ob ich verheiratet sei. – Nein. – Ob ich Kinder hätte? – Nein. – Er fragte, wo ich lebe und wohne. Ich wollte absolut nicht, dass er daraufkommt, dass ich Priester bin, denn wahrscheinlich wäre zur Zeit der Militärdiktatur mein Ansuchen um die brasilianische Staatsbürgerschaft deshalb im Archiv gelandet. So sagte ich einfach: „Bei den andern.“ Damit war das Gespräch zu Ende.

Am 7. Juli 1978 habe ich dann die brasilianische Staatsbürgerschaft erhalten. Das wurde im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Ich habe seither alle Rechte als Brasilianer, ich könnte Senator werden oder Minister, ich kann nur nicht Präsident werden und ich dürfte nicht in der ersten Klasse Volksschule unterrichten, weil man meint, dass ich wegen meiner Herkunft nicht akzentfrei Portugiesisch sprechen könnte. Allerdings sagen die Leute nie, dass ich einen Akzent hätte. Viele meinen, ich sei aus Santa Catarina, Paraná oder Rio Grande do Sul, und wundern sich, wenn ich sage, ich sei in Österreich geboren. – Das gibt es nicht, Sie sprechen ja akzentfreies Portugiesisch!

Die harte Lehre, durch die ich sprachlich gegangen bin, hat sich gelohnt. Die Ordensschwester, die mich Portugiesisch gelehrt hat, meinte gleich zu Beginn des Unterrichts: Du wirst so reden, wie die Leute hier reden. Sie hat mich einzelne Worte so lange wiederholen lassen, bis die Aussprache perfekt war. Dann bin ich ja bald an die Schule gekommen und ich habe die Schülerinnen und Schüler sofort gebeten: Bitte, wenn ich einen Fehler mache, dann sagt mir das sofort. Denn in Brasilien ist es taktlos, jemanden auf einen sprachlichen Fehler aufmerksam zu machen. Wir reden in Amazonien ein schöneres Portugiesisch als die Brasilianer im Süden. Denn die haben alle einen Akzent, einen italienischen, einen deutschen oder den einer anderen Nationalität.

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