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Wie mir mein Einkaufswagen abhandenkommt und Pastor Wilhelm Busch auf Edgar Wallace trifft.

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Es war Freitagabend, und ich hatte es eilig. Ich machte meinen wöchentlichen Großeinkauf im Supermarkt, außerdem hatte Judith mich gebeten, ihr einige Dinge mitzubringen. Spätestens nachdem ich zwei Kisten Wasser und einen Sack Kartoffeln in meinen Wagen gehoben hatte, wurde seine Kurvengängigkeit immer schwerfälliger. So ließ ich ihn im Mittelgang stehen und wanderte die Regale ab. Ich war gerade auf der Suche nach milchsauer vergorenem Sauerkraut, einer Sonderbestellung von Judith, da fiel mir siedend heiß ein, dass ich meine Tasche inklusive Portemonnaie auf dem Sack Kartoffeln liegen hatte. Ich sollte das Portemonnaie umgehend an mich nehmen, es war eine ganze Menge Bargeld drin. Aber wo hatte ich den Wagen bloß abgestellt!? Stand er nicht an der Kühltruhe bei den Pizzen? Nein, weit und breit war nichts zu sehen. Also doch noch bei den Süßwaren. Während ich an den Schoko-Osterhasen vorbei Richtung Kekse eilte, hörte ich meinen Namen.

„Hallo Achim, wie geht’s?“

Ich drehte mich um. Vor mir stand Johannes, in der Hand ein Schoko-Osterlamm.

„Kommst du auch am Samstag zum Straßeneinsatz?“

„Straßeneinsatz?“, fragte ich erstaunt, „ich weiß jetzt nicht genau ... Also, am Samstag ist es sowieso schlecht.“

Ich durchforstete blitzschnell mein Gedächtnis. Irgendetwas hatte Judith doch davon erzählt, und im Gottesdienst war das Wort auch schon mal gefallen.

„Ja, am Samstag in der Fußgängerzone“, sagte Johannes und knibbelte an der Goldfolie des Osterlammes. „Wir wollen Traktate verteilen. Bruder Dornstett ist dabei, Frau ten Hagen und noch ein paar andere. Komm doch auch, ich würde mich freuen, echt.“ Dabei sah er mich so bittend an, dass ich in Erklärungsnöte kam.

„Ich muss mal sehen“, sagte ich. „Also, Samstag ist wirklich nicht einfach. Versprechen kann ich es nicht, aber wie gesagt, ich werde sehen, was sich machen lässt.“

Straßeneinsatz, ging es mir durch den Kopf, das war doch diese höchst peinliche Situation, wo man den Leuten Blättchen in die Hand drückte, die sie nicht haben wollten, und sie auf Dinge ansprach, über die sie gar nicht reden wollten. Mein erster Straßeneinsatz wäre das, und ehrlich gesagt hatte ich überhaupt keine Lust auf so was.

Johannes spürte meine Verlegenheit. Er drehte das Osterlamm in den Händen und sagte plötzlich: „Jetzt sieh dir das an, jedes Jahr rege ich mich darüber auf. Das Lamm Gottes degradiert zu einer Frühlingsdekoration.“

In diesem Moment entdeckte ich meinen Wagen. Da hinten, kurz vor der Fleischtheke stand er, die zehn Kilogramm Kartoffeln in den aufgeklappten Kindersitz gequetscht, und das Portemonnaie oben aufgelegt.

„Ja, ja, du hast Recht“, sagte ich, „es ist schon ein Zeichen von geistlicher Ignoranz, so was. Aber ich glaube, es gibt Schlimmeres.“

Mit dieser Bemerkung war ich bei ihm allerdings an den Falschen geraten.

„Na, hör mal. Du darfst das nicht verharmlosen. Das ganze Christentum wird von solchen Dingen unterwandert, verwässert und irgendwann aufgelöst. Schau dir die Menschen hier an. Die wähnen sich doch alle in Sicherheit in unserer pseudochristlichen Kultur ... getauft, konfirmiert, zu Ostern und Weihnachten mal in die Kirche und dann noch so eine Scheußlichkeit auf die Anrichte gestellt.“

Er griff nochmal ins Regal und hielt ein größeres, goldfolienglänzendes Lamm in die Höhe. „Hier, das trägt sogar das Kreuz. Siehst du? Das Opferholz unseres Herrn in Schokolade gegossen. Am liebsten würde ich ...“

Schnell nahm ich ihm die beiden Schokofiguren aus der Hand. Ich bekam Sorge, er könnte sich zu einem christlich-militanten Tierschützer entwickeln und alle Osterlämmer aus dem Tingeltangel dieses Supermarktes befreien.

„Du hast natürlich Recht“, sagte ich und schielte unentwegt zu meinen Einkaufswagen, „die Menschen sind entsetzlich oberflächlich. Wenn man sie fragen würde ‚Was bedeutet das Osterlamm?‘, ich glaube, neun von zehn würden mit den Schultern zucken.“

Ein paar Jugendliche lungerten in der Nähe meines Wagens herum. Ob sie das Portemonnaie schon entdeckt hatten?

Johannes zeigte mit ausgestrecktem Arm zum Eingangsbereich. „Siehst du die Rolltreppe da hinten? Siehst du, wie viele Menschen ein Stockwerk tiefer fahren? Manchmal bleibe ich da stehen, und dann stelle ich mir vor, die würden schnurstracks in die Hölle fahren.“

Jetzt war’s passiert. Einer der Jugendlichen näherte sich meinem Wagen. Er blickte verstohlen um sich.

„Johannes“, sagte ich hastig, „wir müssen uns unbedingt noch mal darüber unterhalten. Ich hab’s leider furchtbar eilig.“

Ich ließ ihn stehen und sprang mit schnellen Schritten Richtung Fleischtheke. Noch ehe sich die Hand des Jungen meinem Geld nähern konnte, umfasste ich den Griff des Wagens und setzte ihn in Bewegung.

Etwa zehn Minuten später bugsierte ich mein schweres Gefährt vorsichtig an den Weinflaschen vorbei Richtung Kasse. Und wieder stand da jemand aus der Gemeinde. Lotti ten Hagen, eine ältere Dame, studierte aufmerksam das Sektregal. Eigentlich hatte ich es eilig, eigentlich würde ich gerne unauffällig an ihr vorbeihuschen, eigentlich wollte ich kein Gespräch mehr anfangen. Sie hatte mich noch nicht entdeckt, ich könnte also unbemerkt ... aber nein, wenn sie es doch merken würde ... so viel Zeit musste sein. Ich verlangsamte meinen Gang und sprach sie an.

„Hallo, Frau ten Hagen, das ist ja das reinste Gemeindetreffen hier, den Johannes habe ich auch gerade getroffen.“

Sie blickte auf, ein Lächeln ging über ihr Gesicht. „Ach, Herr Pfeiffer, ich glaube, Sie schickt der Himmel.“

Ich bremste meinen Einkaufswagen ab, an Durchstarten war wohl doch nicht zu denken.

„Sie sind doch sicher mit dem Wagen hier. Schauen Sie, mein Lieblings-Sekt im Angebot. Ich würde gerne eine Kiste mitnehmen. Wären Sie so lieb, mich nach Hause zu fahren? Ich wohne hier nur zwei Straßen weiter.“

Es gab kein Entrinnen, wir setzten unseren Weg zur Kasse gemeinsam fort. Lotti ten Hagen war mir schon früher aufgefallen in der Gemeinde, obwohl wir noch nie ins Gespräch gekommen waren. Ich wusste nur, dass sie seit vielen Jahren verwitwet war, und dass sie alleine in einem großen Haus wohnte, in dem sie schon mal Gastprediger und sonstige Vagabunden kurzfristig beherbergte. Ja, ihr gastliches Haus war bekannt, dazu diese reizende Mischung aus Warmherzigkeit und Weltoffenheit, die sie ausstrahlte.

Als wir in der Schlange vor der Kasse standen, fiel mein Blick auf die Rolltreppe. Ein Stockwerk unter uns war die Textilabteilung. In Scharen stellten sich die Menschen auf die Stufen und verschwanden in der Tiefe. Frau ten Hagen riss mich aus meinen Gedanken.

„Wie geht es Johannes? Haben Sie mit ihm gesprochen?“

Ich wandte meinen Blick von der Rolltreppe. „Ach ja, der Johannes, ich weiß auch nicht ... Der hat ganz schön extreme Ansichten. Ich nehme an, Sie kennen ihn schon länger, Frau ten Hagen?“

Sie griff nach meinen Arm. „Ja, natürlich, ich kenne ihn schon seit zwei Jahren, solange ist er jetzt bei uns. Hat er Ihnen etwa auch die Rolltreppengeschichte erzählt?“

Ich nickte und wollte etwas sagen, doch durch ein kräftiges „Hallo“ wurde ich von der Kassiererin daran erinnert, meine Sachen aufs Band zu legen.

Frau ten Hagen wohnte wirklich nur zwei Straßen um die Ecke. Es war ein großes, zweigeschossiges Haus aus den Gründerjahren. Ich fuhr mit meinem kanariengelben R4 auf die kiesbedeckte Auffahrt und hielt vor einem alten hölzernen Garagentor. Ohne weiteres hätte ich dahinter einen Jaguar oder ähnliches vermutet, aber wahrscheinlich standen da nur ein klappriger Rasenmäher und ein paar Gartenstühle. Mit der Kiste Sekt im Arm stiefelte ich hinter ihr her. Sie führte mich in ein Wohnzimmer, zu dem der Begriff „Salon“ besser gepasst hätte.

„Stellen Sie den Sekt einfach hier auf dem Tisch ab, ich mache uns schnell eine Tasse Tee.“ Und schon eilte sie in die Küche und ließ mich allein.

Eigentlich hatte ich es ja eilig, eigentlich wollte ich keinen Tee, eigentlich war ich schon viel zu spät dran. Aber dann schweifte mein Blick durch diesen Raum und ich vergaß alle Zeit.

Ein alter, schwerer Schreibtisch, eine noch ältere Standuhr mit aufgemalten Planetenbahnen auf dem Zifferblatt, ein Teleskop auf einem wackeligen Holzstativ und lauter andere Dinge, die mich in eine verzauberte Welt versetzten. Und dann dieses Bücherregal, fünf, sechs Meter lang, vom Fußboden bis zur Decke, vollgestellt, gestapelt, gestopft mit Büchern. Da stand „Der Hexer“ von Edgar Wallace neben Macintosh’s „Gedanken zum 1. Buch Mose“ und Bücher von Pastor Wilhelm Busch neben dem „Selbstporträt des Jürgen Bartsch“ (war das nicht dieser Kindermörder in den sechziger Jahren gewesen?). Ich stand vor der Bücherwand, meine Augen wanderten über die Buchrücken. Ich merkte gar nicht, dass Frau ten Hagen mit dem Tee eingetreten war und mich amüsiert beobachtete. Da oben in der Ecke, es sah aus wie ein Antiquariat, standen Titel wie „So schossen wir nach Paris“ und „Die Geschichte der russischen Revolution“.

Frau ten Hagen lachte auf. „Mein Bücherregal ist nicht mein Glaubensbekenntnis. Sie werden einiges finden, was ich mir heute niemals kaufen würde, aber es ist ein Teil dieses Hauses und unserer Familiengeschichte.“

Wir nahmen Platz in zwei grazilen Sesselchen, vor uns auf dem Nierentisch ein Tee-Service aus den fünfziger Jahren. Frau ten Hagen strahlte mich fröhlich an, ihr enges Kostüm hatte ihr vor 30 Jahren sicher einmal gut gestanden. Die Haare hatte sie stramm zum Knoten gebunden.

„Ich freue mich jedes Mal, wenn ich Sie bei uns sehe“, sagte sie, „und ich freue mich für Judith, dass sie einen so netten Partner gefunden hat.“

Ich rührte etwas verlegen in meiner Tasse Tee herum.

„Und ich kann mir auch gut vorstellen, wie es Ihnen geht. Jemand, der neu zu uns kommt, wird einiges komisch finden. Es wäre nicht normal, nichts komisch zu finden. Und dann ausgerechnet Johannes. Ich bete viel für ihn und hoffe inständig, dass er sich im Glauben weiter entwickelt. Ja, die Rolltreppengeschichte ... Es gab eine Zeit, da dachte ich auch so. Ich hatte mich da immer mehr hineingesteigert. Ich bin fast verrückt geworden. Ich hatte nur noch diesen einen Gedanken im Kopf: Ich muss mich vor die Rolltreppe stellen und die Menschen zurückhalten. Ich konnte keine Nacht mehr ruhig schlafen. Deshalb meine Bitte an Sie: Bleiben Sie auf der Suche nach Gott, aber hüten Sie sich vor allzu fertigen Antworten.“

Es entstand eine kurze Pause, wir schlürften unseren heißen Tee.

„Ich glaube“, sagte ich, „dass ich Gott nicht mehr suchen muss, dass ich ihn gefunden habe.“

Frau ten Hagen lächelte. „Oh, dann sind Sie aber schon erheblich weiter als ich. Ich suche Gott heute noch, Tag für Tag. Nicht dass Sie denken, ich hätte keine Heilsgewissheit, aber was heißt das denn? Heilsgewissheit bedeutet, dass ich weiß, Gott hat mich gefunden. Das ist etwas Wunderbares. Aber obwohl ich das jetzt seit über 40 Jahren weiß, frage ich mich oft: Was weiß ich denn von Gott? Es ist doch oft nur ein Ahnen, ein Sehnen, und das wahrscheinlich noch bis an mein Lebensende.“

Ich rührte mit dem kleinen Silberlöffel wieder in meiner halb leeren Tasse herum.

„Ja“, sagte ich nur leise und blickte dann auf, „aber in der Gemeinde gibt es etliche Geschwister, die ... wie soll ich sagen ... die sehr konkrete Vorstellungen haben, was Gott betrifft.“

Frau ten Hagen lachte. „Ich kann das gut verstehen. Es ist ein großes Problem für Sie, Gott und die Gemeinde unter einen Hut zu kriegen. Und ich glaube, Gott hat manchmal auch große Probleme, bei uns Fuß zu fassen, aber er versucht es immer wieder ... ganz bestimmt.“

Als sie mir noch etwas Tee nachschüttete, hatte ich ganz vergessen, wie eilig ich eigentlich gewesen war.


Der Heiligenschein im Vollwaschgang

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