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Wie ich meine ersten Gehversuche mache und meine Ausdauer zum Liebesbeweis wird.

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Eigentlich war mir dieser ganze Laden von Anfang an suspekt vorgekommen. Und ich hätte viel vorsichtiger sein sollen. Ich hatte Judith in unserer Stammkneipe kennen gelernt. Konnte ich ahnen, dass sie mich gleich in ihre Gemeinde mitnehmen würde?

Ein paar Wochen war das jetzt her. Da stand ich damals im Gemeindesaal, der Gottesdienst sollte in zehn Minuten beginnen, und lauter furchtbar nette Menschen kamen strahlend herein. Judith hatte mich nur für eine kurze Minute an dieser Stelle abgestellt und allein gelassen, als dieser große, braun gebrannte, gut aussehende Entertainer auf mich zukam und mir die Hand drückte wie einem alten Bekannten.

„Sind Sie das erste Mal hier?“, fragte er.

Ich wusste nicht so recht, was ich antworten sollte. Warum war sie auch in diesem Gewühle verschwunden? Eigentlich hätte ich mit ihr viel lieber einen Spaziergang gemacht, wäre mit ihr essen gegangen, auf die Kirmes oder noch besser, wir hätten bei ihr oder bei mir ein bisschen gemütlich ...

„Ich habe Sie hier noch nie gesehen“, hakte der Entertainer nach.

„Ich bin nur zu Gast hier, wissen Sie? Ich bin mitgenommen worden von ...“ Sollte ich jetzt den Vornamen oder den Nachnamen nennen? Ich blickte mich suchend um. Wo blieb sie nur?

„Wir sind alle nur zu Gast auf Erden, unser Vater im Himmel hält viele Wohnungen für uns bereit.“ Dabei strahlte er mich an, dass ich unverzüglich bereit war, ihm alles zu glauben, wenn er mich denn nur in Ruhe ließe. Endlich kam sie wieder. Sie hakte sich sofort bei mir unter.

„Judith, wie schön dich zu sehen“, jetzt strahlte er auch sie an. „Ich habe deinem netten Freund hier schon gesagt, dass ...“

„Achim ist zum ersten Mal hier“, unterbrach sie ihn, „wir haben uns vor zwei Wochen kennen gelernt.“

„Wie schön, und wo habt ihr euch kennen gelernt?“

„In der Kneipe“, beeilte ich mich zu sagen und spürte instinktiv, dass ich einen besonderen Nerv getroffen hatte.

„Der Herr schreibt auch auf krummen Linien gerade“, kam als Antwort, immer noch strahlend, aber schon um eine Nuance eindringlicher. Zu meiner großen Erleichterung setzte ein Harmoniumspiel ein, das alle Umherstehenden zum Platznehmen auffordern sollte. Judith und ich zwängten uns in eine Reihe und setzten uns. Sie lächelte mich an.

Ich sollte sie nach dem Gottesdienst fragen, ob wir noch ein wenig zu mir fahren könnten. Ich sollte es wenigstens versuchen. Doch erst einmal wurde gesungen. Es war der sogenannte Lobpreis, wie sie mir zuflüsterte.

„Aha, Lobpreis“, dachte ich, „genauso wie beim Münchner im Himmel, einer meiner Lieblingssatiren.“

Trotzdem bemühte ich mich nach Kräften, die Lieder mitzubrummen. Im Vergleich zum normalen Kirchengesangbuch hatten die Lieder tatsächlich etwas Schmissiges. Zwischendurch schielte ich mal zu Judith. Sie lächelte mich immer noch an, worauf ich auf der Himmelsleiter sofort eine Stufe raufrutschte und etwas lauter brummte.

Doch dann fing vor mir der Erste an, kurz darauf eine Frau in der zweiten Reihe, und gleich schlossen sich ein paar andere an. Sie hoben die Hände und schauten mit geschlossenen Augen nach oben.

„Aha“, dachte ich, „eine besonders innige Art des Lobpreises.“

Da ich wild entschlossen war, alles, was zu Judiths Leben gehörte, kennen zu lernen, hob ich auch die Augen und versuchte, noch andächtiger zu brummen. Aber es hatte keinen Zweck. Die erhoffte Andacht wollte sich so natürlich nicht einstellen, stattdessen bemerkte ich ein elektrisches Lampenkabel an der Decke, das dringend ausgetauscht werden musste.

Nach dem zehnten Lied hatte ich die ohnehin schwache innere Verbindung zu den anderen gänzlich verloren. Während um mich herum anscheinend jeder in Verzückung geraten war, beobachtete ich das Muster des gesprenkelten Teppichfußbodens. Ich hatte gerade begonnen, die Anzahl der Sprenkel pro Quadratmeter zu schätzen, als der Lobpreis zu Ende war und die Predigt begann. Inzwischen war mir klar, dass diese Gemeinde und dieser Gottesdienst nicht mit normalen Maßstäben zu messen war. So war ich auf alles gefasst, solange ich nur an ihrer Seite sein durfte. Ich ahnte ja nicht, auf welch harte Probe meine Liebe gestellt werden sollte. Der erste Satz des Predigers sollte bezeichnend sein für die nächsten 90 Minuten.

„Liebe Geschwister“, fing er an, „ich hoffe, ihr seid keine Uhr-Christen.“

Erstaunte Gesichter.

„Ich meine die Uhr-Christen, die immer auf die Uhr schauen, wann die Predigt endlich zu Ende ist.“

Ich erwies mich in der Folge als glänzender Uhr-Christ. Nach einer halben Stunde dachte ich für mich, dass die Predigt eine runde Sache wäre, wenn der gute Mann da vorne den Spannungsbogen jetzt schließen würde und ein kräftiges „Amen“ sprechen würde. Er erzählte irgendwas Prophetisches von Jesaja. Den Namen kannte ich wohl noch flüchtig aus dem Religionsunterricht, aber die Verknüpfung zum Weltuntergang war mir nicht so geläufig.

Inzwischen lernte ich die Bestuhlung der Gemeinde schätzen: preiswerte Holzklappstühle in Leichtbauweise, hart im Gesäß, aber sensibel in der Standfestigkeit. Nun gut, es konnte ja nicht mehr lange dauern.

Nach einer Stunde spürte ich auch beim Prediger erste Ermüdungserscheinungen. Er war jetzt bei irgendeinem anderen Propheten angekommen, dessen Namen ich nicht kannte. Aber die Art, wie er die Betonung seiner einzelnen Sätze auslaufen ließ und kleine Sprechpausen von bis zu fünf Sekunden machte, ließ mich bei jedem Satz hoffen, es könnte der letzte sein. Doch dann schlug er seine Bibel ein paar hundert Jahre vor, oder waren es ein paar tausend? Er erhob seine Stimme und begann, von der Verheißung des Abraham zu berichten. Ich drückte heimlich meine Stoppuhr und hielt noch weitere 24 Minuten an Judiths Seite aus, ein überaus großer Liebesbeweis, wie ich fand.

Am folgenden Samstagabend war ich mit meinem alten Freund Manni unterwegs. Wir kannten uns seit der Schulzeit, und obwohl unser Kontakt sparsamer geworden war, machten wir doch noch gelegentlich unsere Kneipentour. Wir waren jetzt in der „Kaschemme“ gelandet, unserer Lieblingskneipe aus alten Tagen. Wir standen etwas abseits, wo die Musik nicht so laut war, und hielten uns an unserem Glas Bier fest. Es herrschte das übliche Samstagabend-Gedränge, die Luft war zum Zerschneiden.

Ich hatte Manni natürlich von Judith erzählt und von dieser komischen Gemeinde. Hier und jetzt, in meiner altvertrauten Umgebung, erschien mir die Gemeinde so fremd und exotisch wie ein Iglu vom Nordpol. Trotzdem wollte ich mir das alles nicht von Manni madig machen lassen, der mich mit seinem Misstrauen nervte und seit einer halben Stunde vollquatschte.

„Das ist doch eine Sekte, wo die Frau dich hingeschleppt hat! Was du mir bis jetzt davon erzählt hast, klingt jedenfalls nicht normal.“

„Was heißt denn schon normal?“, konterte ich. „ Die Leute, die da hingehen, sind jedenfalls aus Überzeugung da und nicht aus Tradition oder Gewohnheit.“

„Und du, warum bist du da?“

„Weil ... weil ich auf der Suche nach Gott bin, und weil ...“

Manni zog eine Grimasse und hielt seine Hände krallenförmig über mich. „... weil du in den Fängen eines betörenden Weibes deinen letzten Funken Verstand verloren hast.“

Ich klopfte mit dem Finger ein paar Mal gegen seinen Kopf. „Ich hatte da drin bei dir mehr vermutet. So flach bist du doch gar nicht. Die Sehnsucht nach etwas Höherem hast du doch auch, dafür kenne ich dich viel zu gut.“

Manni lachte. „Und du glaubst wirklich, in diesem komischen Laden wirst du was Höheres entdecken?“

„Klugscheißer“, dachte ich, doch seine Frage hatte ihr Ziel nicht verfehlt.

Als er mein Zögern bemerkte, setzte er sofort nach. „Vielleicht musst du ja sogar Judith aus den Fängen dieser Sekte befreien. Vielleicht wird sie durch Gehirnwäsche manipuliert. Ein undurchsichtiges Netz von Psychoterror hat euch alle ergriffen. Es gibt kein Entkommen, kein Entrinnen ...“

Ich boxte ihm lachend in die Seite. „Du bist immer noch der gleiche Schwätzer. Komm doch einfach mal mit, wenn du es genau wissen willst.“

Manni winkte ab. „Ach lass mal, zum Glauben brauche ich nicht so einen Verein.“

„Das sieht man dir an“, sagte ich, „wie weit bist du mit deinem Glauben an ein höheres Wesen denn schon gekommen?“

„Was meinst du mit ‚wie weit‘?“

„Ich meine damit, dass mir irgendein Glaube an irgendwas Höheres nicht reicht. Willst du denn gar nicht mehr wissen?“

Manni sah mich beschwörend an und hielt mir sein leeres Bierglas vor den Mund wie ein Reporter das Mikrofon. „Meine Damen und Herren, nach langen Recherchen ist es mir endlich gelungen, ein weiteres Opfer der ‚Gemeinschaft zur ewigen Glückseligkeit‘ ausfindig zu machen. Wie er mir soeben unter Tränen gestand, steht er ganz unter dem Einfluss eines weiblichen Sektenmitgliedes. Können Sie unseren Hörern erklären, mit welchen Methoden diese Frau es geschafft hat, Sie zu einem willenlosen Werkzeug zu machen?“

Ich nahm Manni das Glas aus der Hand. „Wenn ich dir noch ein Bier austun soll, kannst du das auch anders sagen.“

Er war wirklich ein unverbesserlicher Schwätzer, ein Blödmann, eine hohle Nuss. Nichts hatte er kapiert, gar nichts. Von diesem Schwachkopf da vor mir wollte ich mich nun wirklich nicht beeinflussen lassen.


Der Heiligenschein im Vollwaschgang

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