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Wie vier Brüder in Einmütigkeit beisammen sind und Leonardo da Vinci zu einer Badehose kommt.
ОглавлениеEinige Wochen waren vergangen. Mit meiner Beziehung zur wunderbarsten Frau des gesamten Kosmos war auch meine Beziehung zu unserer Gemeinde gewachsen. Unsere Gemeinde, ja, so konnte man es sicher schon ausdrücken. Und Gott? Ich suchte ihn, zweifellos, und ich begann mit ihm zu reden. Dabei waren mir die Filme von Don Camillo und Peppone oft hilfreicher als so manche Predigt über das Gebet.
Leider wollten sich die Antworten Jesu nicht so akustisch einstellen, wie das bei Don Camillo der Fall war. Vielleicht sollte ich auch ein lebensgroßes Kruzifix haben, mit dem ich reden könnte, nur im übertragenen Sinne natürlich. Ich wollte kein Stück Holz anbeten, aber Gott hätte sicher Verständnis für mein Bedürfnis nach Anschaulichkeit. In Ermangelung eines leibhaftig antwortenden Christus kamen mir immer öfter Dialoge in den Sinn, die ich mit dem Gekreuzigten führte.
„Herr“, begann ich eines Tages wieder, „wie soll ich dich in unserer Gemeinde finden? Die Gottesdienste sind lang, die Stühle hart und der Lobpreis ... Du weißt, ich möchte dich loben, aber sehr musikalisch bin ich nicht. Ich fühle mich dir manchmal näher, wenn ich einen langen Spaziergang mache, als in der Gemeinde.“
Und tatsächlich - Jesus antwortete mir. „Versuch nicht, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Ich freue mich über deine langen Spaziergänge mit mir, aber ich freue mich auch über die Gemeinde.“
„Ach Jesus, ich habe trotzdem ein Problem mit der Gemeinde. Gib mir doch ein paar Tipps, wie ich mich da verhalten soll.“
„Vielleicht brauchen sie dich einmal, Achim.“
Ich war fassungslos; mit so einer Antwort hatte ich nicht gerechnet. „Mich? Die sollen mich brauchen? Jesus, das kann nicht dein Ernst sein! Ich betrachte jeden Sonntag das Teppichmuster, und die scheinen direkt bei dir auf dem Schoß zu sitzen. Und dann schau dir einmal ihre Bibeln an. Von vorn bis hinten mit Leuchtmarkern durchgearbeitet. Und wenn der Prediger eine Bibelstelle nennt, machen die einen Wettbewerb daraus, wer sie als Erster aufgeschlagen hat. Und die sollen mich brauchen?“
„Sei etwas nachsichtig mit ihnen“, sagte Jesus, „du solltest bereits gemerkt haben, dass nicht alles, was bei ihnen heilig aussieht, auch heilig ist. Sie brauchen dich, gerade weil du anders bist, und wenn nicht heute, dann morgen ... oder übermorgen. Hab etwas mehr Geduld.“
An dieser Stelle schien die Leitung nach oben abgebrochen. Ich fragte mich, ob das jetzt ein Hinweis Gottes gewesen war, oder ob ich nur das, was ich ohnehin schon wusste, als Dialog neu formuliert hatte.
Wenige Tage später sah es tatsächlich so aus, als würden sie mich brauchen. Nachdem ich die enge Pforte so sauber an die Wand gebracht hatte, war jemand vom Ältestenkreis (auch dieses Wort hatte ich inzwischen gelernt) an mich herangetreten. Die Gemeinde benötigte dringend einen Handzettel, ein Faltblatt, ein Traktat oder so was. Man wollte bei Straßeneinsätzen, Evangelisationen und Vortragsabenden endlich was Eigenes zum Verteilen haben. Und für mich als gelerntem Grafiker sei es doch sicher eine Freude, meine Begabungen in den Dienst des Herrn zu stellen. Ja, vielleicht hatte Jesus genau das gemeint.
An den folgenden Tagen entwickelte sich in meinem Kopf eine Idee für das Faltblatt. Ich wollte den Glauben an seinem Ursprung darstellen. Die Grundfrage aller menschlichen Existenz sollte zum Ausdruck kommen. Jeder, der sich in diesem Leben auf der Sinnsuche befand, sollte angesprochen, ja in den Tiefen seiner Seele berührt werden. „Was ist Leben?“, diese Frage allein sollte übergroß die Titelseite dominieren. In dieser Frage konzentrierte sich alles, was das ruhelose Herz des Menschen bewegte. Ich war begeistert. Aber es fehlte noch ein Bild, eine visuelle Darstellung dieses Satzes.
Ich wurde fündig bei Leonardo da Vinci. Sein Bild „Proportionsstudie nach Vitruv“, das heute die Chipkarten sämtlicher Krankenkassen ziert, war damals noch unverbraucht. Ein Kreis in einem Quadrat, in diesem geometrischen Gebilde ein Mensch, ein nackter Mann, die Arme und Beine ausgestreckt, als wollte er die Maße von Kreis und Quadrat abstecken. Dieses Bild passte genau zu meiner Frage „Was ist Leben?“. Der Mensch in seiner radikal reduzierten Existenz, dargestellt wie ein geometrisches Studienobjekt, wie ein soeben konstruiertes Geschöpf. Adam auf dem Reißbrett Gottes, das war’s. Der Entwurf würde alle begeistern, bestimmt hatte keine Gemeinde der Welt eine Imagepräsentation von so existenzieller Tiefe.
Am folgenden Sonntag nahm ich meinen Entwurf mit. Die Worte „Was ist Leben?“ hatte ich typographisch geschickt um meinen Leonardo da Vinci angeordnet. Das Ganze steckte in einer ansprechenden Präsentationsmappe. Nach dem Gottesdienst setzten wir uns zusammen, drei Älteste und ich. Ich öffnete meine Mappe und wartete auf die begeisterte Reaktion. Mein Entwurf wurde hin- und hergereicht, alle drei rangen anscheinend nach den passenden Worten.
„Mmhh, ja ...“, meinte der erste Älteste.
„Hast du das selber gemalt?“, fragte der zweite.
„Das ist von Leonardo da Vinci“, sagte ich, „Ich denke, das passt genau zu ...“
„Ja, eigentlich ganz hübsch“, unterbrach mich der dritte Älteste. Dann schwiegen sie alle drei und ließen das Bild auf sich wirken.
„Wirklich, hübsch gemacht, vielleicht könnte man noch die eine oder andere Kleinigkeit ... diese Frage ‚Was ist Leben?‘, könnte man die eventuell noch austauschen?“
Ich schluckte. „Natürlich, wir können über alles reden, dafür sind wir hier.“
„Könnte man nicht ‚Was ist Leben?‘ austauschen durch ‚Wir sind erlöst durch sein Blut von Golgatha‘?“
Ich schluckte wieder und atmete tief durch.
Der dritte Älteste tippte mit dem Finger auf das Bild. „Ich habe das schon mal gesehen auf dem Plakat von einer esoterischen Gruppe.“
Bei allen drei Ältesten entdeckte ich sorgenvolles Stirnrunzeln.
„Nein, nein, es ist wirklich hübsch gemacht“, sagte der erste Älteste wieder, „wir könnten es eigentlich fast so übernehmen, vielleicht nur ... ich meine ... dieser Mann da ... ich meine ... der ist ja nackt.“
Alle drei schauten auf die körperliche Mitte des Bildes.
„Du hast dir bestimmt etwas dabei gedacht“, fuhr er fort. „Ich finde es auch gut, ganz bestimmt. Könntest du dem Mann da nicht eine Hose anziehen?“
Der dritte Älteste nickte heftig mit dem Kopf und meinte: „Zumindest eine Badehose.“
Ich hielt die Luft an, während mir der zweite Älteste freundschaftlich auf die Schulter klopfte. „Ja, ich denke, wir werden einen schönen Handzettel machen. Ich freue mich, dass wir die Dinge so in Einmütigkeit sehen können.“
Wie auf Kommando standen bei diesem Schlusswort alle drei auf und drückten mir meine Mappe in die Hand.
„Lieber Bruder, wir sind gespannt, wie du unsere Anregungen umsetzen wirst ... Wirklich, es ist hübsch gemacht.“
Dann verabschiedeten sie sich von mir, und ich konnte endlich wieder tief durchatmen.
Meine erste spontane Erwiderung landete direkt bei Jesus. „Herr, das kann nicht wahr sein! Diese Ignoranten haben von der Aussage meines Entwurfs überhaupt nichts begriffen.“
„Das kann schon sein“, antwortete Jesus, „aber bedenke, der Handzettel soll zu ihnen passen und nicht sie zu deinem Handzettel.“
„Und dann wollen diese Dilettanten auch noch, dass ich Leonardo da Vinci ins Handwerk pfusche. Eine Hose, ich fasse es nicht, eine Hose …“
„Überfordere nicht ihr Glaubensbild, auch ich habe nackt am Kreuz gehangen, und trotzdem verhüllen sie mich auf ihren Kruzifixen schamhaft.“
Ich wagte einen letzten Einwand. „Meine Gedanken zu dem Entwurf, Herr, waren Sie denn nicht richtig?“
„Sie waren ausgezeichnet. Doch alles zu seiner Zeit und am richtigen Ort.“ -
Für mein Verhältnis zur Gemeinde war diese Begebenheit eine erste schwere Belastungsprobe. Und Jesu Nachsichtigkeit mit diesen Hinterwäldlern war mir unbegreiflich. Für mich gab es nur zwei Möglichkeiten, entweder die spinnen oder ich.