Читать книгу Der Heiligenschein im Vollwaschgang - Erwin Schröder - Страница 6
Wie die Ewigkeit in die Fußgängerzone kommt und ich zur kommunistischen Urzelle werde.
ОглавлениеNatürlich waren wir beim Straßeneinsatz dabei. Judith hatte uns längst in die Liste eingetragen; irgendwann hatte sie mir wohl davon erzählt, und ich hatte möglicherweise nicht richtig zugehört – oder so ähnlich. Auf jeden Fall standen wir jetzt am Verkehrsknotenpunkt unserer Fußgängerzone, es war 11.30 Uhr, und mir war unwohl. Wir waren zu viert: Johannes, Judith und ich und noch ein anderer Mann, den ich aber nicht näher kannte. Wir hatten uns auf Sichtweite voneinander entfernt.
In meiner Jackentasche hatte ich ein Päckchen Traktate, in der Hand hielt ich verstohlen ein Dutzend der Blätter. Ich wollte versuchen, sie so rationell und unauffällig wie möglich zu verteilen. Also sah ich mir die Passanten an. Ich brauchte jemanden, der nicht zu hektisch an mir vorüberhasten würde, auch musste er wenigstens eine Hand frei haben, um das Blättchen entgegenzunehmen. Aber bloß nicht diesen Pulk Jugendlicher da vorne. Die würden mich doch nur anglotzen wie einen Alien und loslachen. Die da, die wäre nicht schlecht, Hausfrau beim Einkaufen, um die 45 Jahre, zügiger Schritt, eine große Tüte von Karstadt in der Hand. Ich trat ein paar Schritte vor aus meiner Deckung heraus und hielt ihr einen Zettel so vor die Nase, dass sie nur noch wie automatisch zugreifen konnte. „Darf ich Ihnen etwas zum Lesen mitgeben?“, murmelte ich dabei. Sie blickte kurz erstaunt auf, und schon war die Übergabe erfolgt. Sie verschwand in der Menge, und ich trat wieder etwas zurück, raus aus dem Hauptstrom der Passanten, bis ich die schützende Hauswand im Rücken spürte.
Ich sah zu Judith rüber, sie hatte mich beobachtet und winkte mir aufmunternd zu. Ich lächelte etwas steif zurück und schielte dann zu meiner Armbanduhr. Es waren gerade fünf Minuten meines Einsatzes vergangen, eine Stunde und 25 Minuten lagen noch vor mir.
Mist, durchfuhr es mich, warum hast du damals mit dem Handzettel bloß nicht weitergemacht? Vielleicht hätte man sich ja doch noch geeinigt? Mit so einem „Was ist Leben?“ hätte ich jetzt etwas anders da gestanden. Mit dem Satz hätte ich von den Tierschützern bis zu den Anhängern der ganzheitlichen Medizin alle angesprochenen. Oder wie wäre es mit einem ganz anderen Thema? Ich könnte die Leute fragen: „Was halten Sie von der aktuellen Bundespolitik?“, oder wenigstens „Was halten Sie vom Fernsehprogramm?“ Mit so was würde ich bestimmt offene Türen einrennen. Aber jetzt hatte ich ein „Wo wirst du die Ewigkeit verbringen?“ auf dem Traktat und dazu einen Sonnenuntergang von penetranter Schönheit. Oder sollte es ein Sonnenaufgang sein? Der Morgenschein der Auferstehung gewissermaßen?
Der nächste Kunde, der in mein Kandidatenraster passte, näherte sich meinem Standort. Wieder mittleres Alter, mittlere Schrittgeschwindigkeit, mittleres Emotionspotenzial im Gesicht. Ich stellte mich ihm halb in den Weg, dann kam mein „Darf ich Ihnen etwas zum Lesen mitgeben?“ und wieder drei Schritte zurück.
Na ja, es schien zu funktionieren, ich würde die Zeit schon gut schaffen. Ich fühlte in der Tasche das Päckchen Traktate, vielleicht würde ich die ja doch noch unters Volk bringen. Nur eines durfte nicht passieren, es durften keine Nachbarn, Arbeitskollegen oder ähnliche Mitmenschen zwischen halb zwölf und eins hier vorbeikommen.
Ich sah zu meinen drei Mitstreitern hinüber. Judith war schon in ein Gespräch verwickelt. Das war mir zwar unbegreiflich, aber es passte zu ihr. Jemand, der am Telefon mit „Falsch verbunden“ zehn Minuten reden konnte, der konnte auch mit „Wo wirst du die Ewigkeit verbringen?“ Leute ansprechen. Johannes dagegen stand mitten im Strom der Menschen und hielt ein Traktat in Brusthöhe. Dabei versuchte er immer wieder, jemanden anzusprechen. Jetzt gerade ging er auf eine junge, elegante Frau zu, so was Hochbeiniges mit einem Täschchen von Douglas in der einen Hand und einer Hundeleine mit Yorkshire-Terrier in der anderen Hand. Sie verlangsamte wohl etwas ihren Gang, blieb aber nicht stehen. Johannes wollte diese Gunst wohl nutzen und lief beständig auf sie einredend neben ihr her. Dabei wirkte er auch ohne Buckel wie Quasimodo, der um die Gunst der schönen Esmeralda warb. Der Vierte in unserem Quartett stand dagegen eher unauffällig am Ausgang von Karstadt und versuchte wie ich, ein paar Blättchen loszuwerden.
Und dann passierte es doch. Ich hätte es ahnen können, aber ich hatte gehofft, es würde nicht dazu kommen. Da hinten näherte sich ein bekanntes Gesicht! Nicht irgendeines, nein, es war Manni in Begleitung von einem Typen, den ich flüchtig kannte. Der hatte früher in seiner WG gewohnt, irgend so ein ultralinker Chaot. Blitzschnell hielt ich Ausschau nach möglichen Rückzugsgebieten. Vielleicht könnte ich ins Reisebüro hinter mir verschwinden und eine Pazifik-Kreuzfahrt buchen, vielleicht könnte ich im Schaufenster des Sanitätshauses die Toilettenstühle und Brustprothesen studieren. Aber dann sah ich Judith. Sie winkte mir fröhlich zu und deutete mit einer Hand in Mannis Richtung. Auch sie hatte ihn also schon entdeckt, und ich – ich saß in der Falle. Kein Toilettenstuhl und kein Traumschiff konnten mich retten.
Jetzt hatte Manni auch mich entdeckt und steuerte direkt auf mich zu. Wieder traf mich Judiths aufmunternder Blick, dabei fühlte ich mich alles andere als munter. Sollte ich jetzt meine paar Zettel in der Jackentasche verschwinden lassen?
„Hi, Achim“, sprach mich Manni an. „Heute ohne deine Flamme? Ich denke, ihr seid schon unzertrennlich?“
„Ja, ja, sind wir auch, sie ist da drüben.“ Ich zeigte schräg über die Straße, wo Judith schon wieder ein Gespräch mit einem Passanten begann. Manni schaute kurz rüber, um sich mir dann wieder zuzuwenden.
„Und? Geht’s gut?“
Ich räusperte mich. „Ja, doch, eigentlich schon.“
Wieder schaute Manni hin und her. „Habt ihr euch verkracht?“
„Wer? Judith und ich? Nee, warum?“
„Na, weil sie da hinten steht und du hier, und weil du so angeschlagen wirkst.“
Ich lächelte etwas verlegen. „Ach so, das meinst du. Nein, das kommt daher, weil wir hier so ein Dingsda ... also wir verteilen Handzettel von unserer Gemeinde, du kennst die ja, du bist ja schon mal bei uns gewesen.“
„Und? Kriegen wir keinen Zettel?“, fragte er und streckte seine Hand aus.
Ich legte ihm ein Traktat mit der Rückseite nach oben in die Hand und zeigte auf den Stempel, den Dornstett höchstpersönlich überall aufgedrückt hatte.
„Da sind unsere Gottesdienstzeiten“, sagte ich, „vielleicht hast du ja noch mal Lust zu kommen.“
Der Typ neben Manni grinste mich an. „Bist du ein Pfaffe?“
„Wer? Ich? Nein, wieso?“
„Na, weil du hier so Kirchenpropaganda verteilst.“
„Nein, nein, das ist bei uns anders. Wir haben zweimal im Jahr so einen Straßeneinsatz, um auf unsere Gemeinde aufmerksam zu machen und den Menschen von Gott zu erzählen. Und die heute hier stehen, sind ganz normale Gemeindemitglieder. Bei uns gibt’s nämlich keine Karteileichen und Mitläufer. Bei uns sind alle aus einer inneren Überzeugung.“
Der Typ grinste noch breiter. In seinen Augen blitzte der Blick eines Piraten, der ein wehrloses Handelsschiff aufgebracht hatte.
„So einen wie dich wollte ich immer schon mal treffen. Was mich am meisten interessiert: Glaubst du eigentlich selber an den Quatsch, von wegen ‚lieber Gott‘ und so, oder erzählst du das nur?“
Sicher hatte ich keine salbungsvollen Worte erwartet, aber von der Heftigkeit dieses Angriffs war ich doch überrascht.
„Was heißt hier Quatsch? Die Möglichkeit der Existenz einer höheren Instanz kann niemand leugnen. Und dass diese höhere Instanz zu den Menschen in Beziehung treten möchte, ist dann nur eine logische Schlussfolgerung.“
„Aber sicher, die höhere Instanz heißt ‚Herrschende Klasse‘ und die Beziehung heißt ‚Opium fürs Volk‘.“
„Das kann man so nicht sagen“, konterte ich, „die Sehnsucht des Menschen nach Gott ist ein ... ein Urbedürfnis, das ...“
„Na klar“, unterbrach mich der Typ, „ein Urbedürfnis, das von den Herrschenden seit Jahrtausenden genährt wird, um das Proletariat von seinen eigentlichen Bedürfnissen abzulenken. Ihr lügt euch doch selber einen in die Tasche. Ohne Typen wie euch wäre der revolutionäre Prozess schon viel weiter vorangeschritten.“
Manni hatte sich bisher zurückgehalten und das Traktat studiert. Aber jetzt kam seine alte Diskutierlaune zum Vorschein.
„Nee, das siehst du verkehrt“, sagte er zu dem Typen, „was hier mit Achim und seinen Leuten abläuft, kannst du nicht politisieren. Das entspringt tatsächlich einer tiefen Sehnsucht nach Transzendenz. Außerdem sind die total autark, das musst du mal gesehen haben.“
Weiter hinten in der Fußgängerzone entdeckte ich Johannes. Er schien über den Verlust seiner schönen Esmeralda noch nicht ganz hinweg. Jetzt hatte er uns bemerkt und überlegte wohl, ob er sich zu uns gesellen sollte.
„Den Achim kenne ich schon seit Ewigkeiten“, fuhr Manni fort, „das ist ein moderner Franz von Assisi, Selbstaufgabe bis aufs Hemd, auch wenn’s zum Konflikt mit der Obrigkeit kommt.“
Ich wusste zwar nicht mehr, wovon Manni redete, aber es klang beeindruckend.
„Außerdem setzen die sich für inhaftierte Genossen und Geschwister ein. Der Achim will demnächst meinen Herbert unterstützen, du weißt schon, dieses bedauernswerte Opfer von Staatswillkür und Polizeiterror.“
Johannes steuerte mittlerweile auf uns zu. Er wollte mir sicher behilflich sein bei der missionarischen Betreuung meiner beiden Gesprächspartner. Mir musste blitzschnell was einfallen, um das zu verhindern.
„Sieh mal“, sagte Manni wieder zu dem Typen, „der Achim und seine Leute leben nach den Statuten der Urchristen. Und was bei denen abgelaufen ist, das ist ja bekannt. Bei denen hat’s die ersten Kommunen gegeben, die kommunistische Urzelle gewissermaßen. Da kannst du doch nicht erzählen, das wären Lakaien der Bourgeoisie.“
Das Gespräch nahm eine seltsame Wendung, aber wahrscheinlich lag das in Mannis Absicht.
Trotzdem wagte ich eine Kurskorrektur. „Ich denke, wir kommen in dieser Diskussion weiter, wenn wir das Wort ‚Transzendenz‘ einfach durch ‚Gott‘ ...“
Ich wollte noch „ersetzen“ sagen, doch dazu kam ich nicht. Manni unterbrach mich. „Lass mal, Achim. Das mit der Transzendenz kapiert der schon nicht, wie soll der dann Gott kapieren. Aber wenn du demnächst meinen Herbert im Knast besuchst, das wird ihn beeindrucken ... gesellschaftspolitisch, meine ich.“
Bis jetzt hatte der Typ Mannis Wortschwall kommentarlos hingenommen, aber nun war das Maß wohl voll.
„Verarschen kann ich mich auch selber“, zischte er, dann drehte er sich um und ließ uns stehen. Nun schlug er genau die Richtung ein, aus der Johannes auf uns zusteuerte. Die beiden waren wie zwei schwere Frachtschiffe auf Kollisionskurs, keiner von beiden war gewillt oder überhaupt in der Lage, dem anderen auszuweichen. Als sie noch drei Meter voneinander entfernt waren, hob Johannes sein Traktat in die Höhe wie eine Hostie. Wahrscheinlich wollte er das von mir begonnene Missionswerk an diesem Erdenbürger fortsetzen. Aber noch bevor er den Typen ansprechen konnte, riss der ihm den Zettel aus der Hand, knüllte ihn zusammen und schmiss ihn Johannes im Vorübergehen ins Gesicht.
Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen beim Anblick dieser Szene, obwohl mir Johannes durchaus Leid tat. Er stand da wie vom Donner gerührt. Sicher gingen ihm alle Märtyrer der Bibel durch den Kopf, die die Qual und Schmach der Steinigung hatten erleiden müssen. Schließlich gesellte er sich zu uns.
„Mach dir nichts draus“, sagte Manni, „der ist eben manchmal so. Das hat mit dir persönlich nichts zu tun.“ Und zu mir gewandt: „Das mit dem Herbert im Knast solltest du dir mal überlegen. Fände ich echt toll, wenn du ihn besuchen könntest. Ich selber habe im Moment furchtbar wenig Zeit.“
„Ja, ich muss mal sehen“, sagte ich langsam, eigentlich eine Formulierung, mit der ich mir unangenehme Termine vom Hals halten wollte. „Woher kennst du ihn denn?“
„Die Biggi hatte mich mal mitgenommen, die macht doch in Gefangenenhilfe und so’n Zeug. Der ist total gut drauf, der Typ. Du kannst ihm ein Päckchen Pfeifentabak mitbringen, dann freut er sich wie ein Schneekönig.“
„Und wieso sitzt er? Ich denke, das mit der Staatswillkür vorhin war doch nicht ernst gemeint.“
„Ach, Achim, du stellst schon kleinbürgerliche Fragen. Sind wir nicht alle Täter? Und sind wir nicht alle Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse? Nein, nein, du als moderner Wanderprediger wirst nicht ernsthaft ein Urteil über Herbert sprechen wollen. Pass auf, ich schreibe dir den Namen auf.“
Und schon zog er einen Kuli aus der Tasche und kritzelte etwas auf das Traktat, das er noch immer in der Hand hielt.
So kam ich also an Herbert Achterbusch. Sein Name stand jetzt direkt über dem Sonnenaufgang, natürlich, in diesem Fall war es ein Sonnenaufgang, und es war mir nahezu unmöglich, die tiefe Symbolik dieses Bildes zu übersehen. Direkt unter die Frage „Wo wirst du die Ewigkeit verbringen?“ hatte Manni „Justizvollzugsanstalt“ geschrieben. Ob das auch ein Wink mit dem Zaunpfahl sein sollte, darüber konnte ich allerdings keine abschließende Klarheit erlangen.