Читать книгу Der Heiligenschein im Vollwaschgang - Erwin Schröder - Страница 11
Wie die große Freiheit zur kleinen Zelle wird und ein Arm in die Tiefkühltruhe kommt.
ОглавлениеJudith und ich näherten uns mit dem Wagen dem großen Gebäudekomplex. Es war eines von diesen typischen Gefängnissen aus dem 19. Jahrhundert. Mehrere große Zellenflügel, die sternförmig vom Zentralgebäude ausgingen, das Ganze in dunkelrotem Backstein und von einer fünf Meter hohen Mauer umgeben. Ich stellte meinen Wagen auf den Besucherparkplatz, dann gingen wir auf das eiserne Portal zu.
„Warst du schon mal im Gefängnis?“ fragte Judith, „ich meine als Besucher?“
„Nein, noch nie“, sagte ich und drückte auf die Klingel.
Es hatte wirklich einen Hauch von Exotik, diese Gittertüren, dieses Schlüsselgerassel und dieser schmale Blick nach oben zum Blau des Himmels. Wie im Fernsehen, wenn sich Robert Liebling auf dem Weg zu seinem Mandanten befand, der durch eine Verkettung unglücklicher Umstände unschuldig hinter Gittern war.
Schließlich saßen wir uns gegenüber. Herbert Achterbusch erwies sich als äußerst höflicher Mensch mit Taktgefühl. Er bedankte sich mit tausend Worten für unseren Besuch, der ihm von Manni brieflich angekündigt worden war. Und dann fing er an zu erzählen. Er erzählte von seinem früheren Leben als Seemann, von einer Welt auf hoher See rund um den Globus, einer Welt, die für uns beide so geheimnisvoll und spannend klang.
Aber irgendwann stellte Judith doch diese kleinbürgerliche Frage, die Manni mir ausgeredet hatte. „Herr Achterbusch, dieses Leben hinter Gittern muss sehr schwer für Sie sein ... Wie kam es eigentlich, dass Sie straffällig geworden sind?“
Ich erwartete bei ihm schon einen mentalen Rückzug im Angesicht dieser Frage, doch er machte eine ausladende Bewegung mit der Hand, so als wollte er sein ganzes Leben relativieren.
„Ach wissen Sie, man hat früher so viel Scheiße gebaut. Vielleicht war man zu jung, zu doof, oder man hatte zu viele Flausen im Kopf. Stellen Sie sich nur mal folgende Situation vor“, er schmunzelte, „wenn wir Landgang hatten, dann haben wir uns den elegantesten Schuppen ausgesucht, den wir finden konnten im Hafen. Wir also rein mit fünf Mann und den besten Tisch ausgeguckt, egal, ob der besetzt war oder nicht. Dann hat sich jeder einen Stuhl geschnappt und sich zwischen die Leute gesetzt. ‚Entschuldigung, hier ist doch noch frei, oder?‘ Ruck zuck war der Tisch tatsächlich frei. Dann mit unseren schweren Stiefeln Füße auf den Tisch, dicke Zigarre rausgeholt und große Herren gespielt.“
Er grinste, eine Zahnlücke bei den Backenzähnen wurde sichtbar. Die Erinnerung daran machte ihm sichtlich Spaß.
„Manchmal haben uns die Kellner fast die Füße geküsst, nur um keinen Ärger zu bekommen. Manchmal ging es nicht ganz so glimpflich ab, aber immerhin waren wir zu fünft.“
„Aber soweit ich weiß“, wagte ich einen Einwand, „sind Sie schon einige Jahre hier, so was kriegt man doch nicht für eine Wirtshauskeilerei.“
Er machte ein etwas gequältes Gesicht. „Wiederholte schwere Körperverletzung. Irgendwann fehlt auch dem barmherzigsten Richter die Geduld. Ich hab’s wohl etwas zu weit getrieben.“
Auf einmal zog Judith ein kleines Buch aus ihrer Handtasche und zeigte es ihm. Ich war ganz überrascht, sie hatte mir vorher nichts davon gesagt. Ich machte einen langen Hals und schielte auf den Titel. „Schwere Jungs und Gottes Gnade“ stand da.
„Ich wollte Ihnen das Buch gerne hier lassen“, sagte Judith. „Ich denke, es passt in Ihre Situation. Möglicherweise hat Manni Ihnen mal erzählt, dass wir an Gott glauben. Ich weiß zwar nicht, wie das bei Ihnen ist, aber vielleicht hilft Ihnen das Buch, sich mit der Frage nach Gott auseinander zu setzen. Zeit zum Nachdenken haben Sie ja sicher mehr als genug.“
Ich saß daneben und konnte mit ansehen, wie Judith mit Herbert ein Glaubensgespräch begann, als sei das die normalste Sache der Welt. Und Herbert ging darauf ein, als hätte er nur darauf gewartet, sich mit ihr über Gott zu unterhalten. Ja, er fände das gut, wenn jemand so glauben könnte, und er hätte das Gefühl, dass der Glaube vielen Menschen helfen würde. Ja, und seine Großmutter sei auch sehr fromm gewesen, hätte jeden Tag in der Bibel gelesen usw. Und er selber, jaaa, er selber würde auch gerne so glauben können, das sei sicher oft eine Hilfe im Leben, aber seine verkorkste Kindheit und dann die Jahre auf See und überhaupt. Aber er fände es supernett von ihr, dass sie ihm das Buch schenken wollte. Er würde jetzt tatsächlich viel über alles nachdenken, jaaah, er sei doch viel reifer als früher. Und sie sei eine tolle Frau, und ich sei zu beneiden, so eine tolle Frau zu haben ...
Judith hatte es mit ihrer Art geschafft, aus diesem gestrandeten Seebär die reinste Charmekanone zu machen.
Zum Schluss sagte er noch: „Das Buch können Sie am Eingang für mich abgeben, man wird es mir dann zukommen lassen. Ich habe mich sehr gefreut, Sie kennen zu lernen. Es ist etwas Wunderbares, so wertvolle Menschen wie Sie zu seinen Freunden zählen zu dürfen.“
Wir erhoben uns zum Abschied. Bei so vielen süßlichen Komplimenten fehlten mir die Worte, nur Judith säuselte ein paar Nettigkeiten zurück. Wir wussten ja noch nicht, was wir zehn Minuten später wissen würden. Draußen auf dem Flur kam es nämlich zu einer folgenschweren Begegnung, deren Auswirkungen ich zu diesem Zeitpunkt nicht überblicken konnte.
Der Vollzugsbeamte, der uns zum Ausgang bringen sollte, traf auf dem Korridor auf einen Mann in Zivil, der in die gleiche Richtung ging. „Gehen Sie zufällig zum Ausgang?“, fragte er. „Könnten Sie die beiden hier nach draußen begleiten?“ Schon war er weg, und wir hatten einen neuen Geleitschutz, der sich sogleich vorstellte.
„Ich bin hier der Gefängnispfarrer. Darf ich fragen, wen Sie besucht haben?“
„Wir waren bei Herrn Achterbusch“, sagte ich.
„Ach, bei dem, das ist ja interessant. Kennen Sie ihn schon lange?“
„Nein, wir haben ihn das erste Mal besucht. Ein Freund von uns betreut ihn schon länger.“
„Hat er Ihnen gegenüber denn offen über seine Taten gesprochen?“
„Ja, schon“, sagte ich zögernd, „das heißt, so richtig offen auch wieder nicht. Was hat er denn genau ... ?“
„Das ist ja kein Geheimnis ... Nun, er hat fünf Frauen, oder waren es sechs, nein, ich glaube fünf, ja, ich bin mir sicher, es waren fünf Frauen. Die hat er umgebracht, meistens erwürgt. Und die Einzelteile, na ja, er wollte die Tat vertuschen, da hat er die Einzelteile entsorgt, vergraben. Einen Arm hat man damals in seiner Tiefkühltruhe gefunden. Aber es waren nur Frauen aus dem Milieu, Sie verstehen schon, man könnte fast sagen, Beziehungstat im Rotlichtmilieu. Oh, wir sind da, ich darf mich von Ihnen verabschieden, es war mir eine Freude.“ Er wandte sich zum Gehen.
„Das Buch“, rief Judith ihm nach.
Er blieb stehen und nahm erstaunt das kleine Taschenbuch aus ihrer Hand.
„Schwere Jungs und Gottes Gnade“, las er.
„Wir hatten mit ihm ... also wir hatten darüber gesprochen“, stammelte Judith, „wenn Sie ihm das ... ich meine ... Sie könnten ihm das überreichen.“
Eine Minute später standen wir draußen, die schwere Tür fiel hinter uns ins Schloss. Wir gingen schweigend zu unserem Wagen, setzten uns schweigend hinein, fuhren schweigend los. Es dauerte fünf Minuten, bis Judith ihre Sprache wiederfand.
„Es ist unglaublich, einfach unglaublich. Dieser Mensch ist für mich erledigt, ich will ihn nie wieder sehen, hörst du? Wenn wir für deinen Manni nochmal den Sozialarbeiter spielen sollen, dann aber ohne mich. Der Kerl hat uns doch die ganze Zeit nur eingeseift, und wir sind drauf reingefallen. Ja, was für tolle Freunde wir doch sind, und wie supernett wir sind und wie er sich gefreut hat, uns kennen zu lernen. Wahrscheinlich träumt er heute Nacht davon, mich mit dem Küchenmesser in Einzelteile zu zerlegen. Solange dieser Kerl es nicht schafft, offen über seine Vergangenheit zu reden, kriegen mich keine zehn Pferde mehr hierher. Und sollte er jemals auf freien Fuß kommen, dann kannst du dir schon mal überlegen, wo du mich verstecken willst.“
Ich hatte Mühe, mich auf den Verkehr zu konzentrieren, während Judith mit ihrer Anklage fortfuhr.
„Aber es waren ja ‚nur‘ Frauen aus dem Milieu, genau genommen waren es gar keine richtigen Frauen. Vielleicht rege ich mich umsonst auf, und ich sollte auf die beruhigenden Worte dieses netten Pfarrers hören. Außerdem waren es nur fünf Frauen. Wenn es sechs gewesen wären, ja dann, aber bei fünf Frauen. Aber wer weiß, vielleicht könnte ich irgendwann mal die sechste werden. Auf den Geschmack gekommen ist er heute ja schon, da braucht er nur noch seiner Fantasie freien Lauf lassen. Zeit genug dazu hat er ja, und wo er doch jetzt reifer geworden ist.“
Mein Kontakt zu Herbert Achterbusch beschränkte sich von da an auf drei, vier Briefe und Tabakpäckchen im Jahr. Zu einem Besuch konnte ich mich auch nochmal überwinden, allerdings ohne Judith. Dass wir einmal mehr miteinander zu tun haben würden, das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Aber wie so oft sollte mich eines Tages das Leben eines Besseren belehren.