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KAPITEL 3
DER WELTWEITE RUF ZU DEN WAFFEN
ОглавлениеIn den ersten Augustwochen des Jahres 1914 verbreitete sich die Nachricht vom Krieg über Telegrafen in der ganzen Welt. Mit Pauken und Trompeten wurde die Kriegsbegeisterung auf allen fünf Kontinenten in Städten und Dörfern geweckt. Da ihre Staaten durch Geheimverträge und gegenseitige Beistandsabkommen aneinandergekettet waren, schien es selbstverständlich, dass die Männer Europas diesem Ruf folgten. Einige mit chauvinistischer Erregung, andere mit schweren Bedenken, in einen Krieg zu ziehen und gegen andere zu kämpfen, die ihnen bisher keinen Anlass gegeben hatten, sie zu hassen.
Während sich Briten und Franzosen freiwillig meldeten, um gegen die Deutschen zu kämpfen, wandten sich die Regierungen in London und Paris auf der Suche nach Unterstützung auch an ihre Kolonialreiche. Obgleich sie noch weniger Anlass hatten, gegen die Mittelmächte in den Kampf zu ziehen, versammelten sich Kanadier, Australier und Neuseeländer dennoch mit einem ebenso großen Pflichtgefühl hinter der britischen Krone wie alle anderen Untertanen Georgs V. Schließlich waren die Männer dieser „White Dominions“ Siedler, die ihre Ursprünge bis zu den britischen Inseln zurückverfolgen konnten und den britischen König als Staatsoberhaupt anerkannten. Als ihr König rief, fühlten sich Kanadier, Australier und Neuseeländer zum Gehorsam verpflichtet.
Von den Männern in Asien und Afrika ließ sich das nicht behaupten – für die Mehrheit der kolonialen Untertanen blieben Großbritannien und Frankreich ausländische und damit fremde Herrscher. Als die Briten sich an Indien wandten und Franzosen die afrikanischen Armeen zum Kampf aufriefen, gab es gute Gründe für die Planungsstäbe, an der Loyalität der Kolonien zu zweifeln. Deutschland unterstützte aktiv die kolonialen Rebellionen gegen die Entente-Mächte – insbesondere unter Muslimen. 1914 lebte die Mehrheit der 240 Millionen Muslime in Kolonialreichen, und fast alle waren Untertanen der Entente-Mächte: 100 Millionen unter britischer Herrschaft, 20 Millionen in französischen Kolonien und weitere 20 Millionen im Russischen Reich. Der Kriegseintritt des Osmanischen Reichs im November 1914 an der Seite der Mittelmächte und der Aufruf des Sultans zum Dschihad gegen Großbritannien, Frankreich und Russland stellte die muslimische Loyalität der Entente gegenüber auf eine harte Probe. Hätten die Osmanen mit ihrem Aufruf an den weltweiten Islam Erfolg gehabt, hätten sie das Kräfteverhältnis zugunsten der Mittelmächte verändern können.1
Die Osmanen selbst standen dabei an der Heimatfront vor der großen Schwierigkeit, ihre kriegsmüde Gesellschaft zum Kampf gegen die größte Bedrohung zu mobilisieren, der das Reich in seiner sechshundertjährigen Geschichte je gegenübergestanden hatte. Nach den Kriegen in Libyen und auf dem Balkan waren Männer im wehrfähigen Alter aus dem Osmanischen Reich geflohen, um der Einberufung zum Militär zu entgehen. 1913 nahm die Emigration nach Nord- und Südamerika im Vergleich zu den Vorjahren um 70 Prozent zu. Amerikanische Botschaftsmitarbeiter gaben an, die meisten Migranten seien junge Männer, die dem Militärdienst entgehen wollten. Kriegsgerüchte in der ersten Hälfte des Jahres 1914 beschleunigten die Emigration junger Muslime, Christen und Juden aus dem ganzen Reich, bis die Regierung mit der Generalmobilmachung Männern im wehrfähigen Alter die Ausreise aus dem Land gänzlich untersagte.2
Am 1. August rief Kriegsminister Enver Pascha per Telegraf im ganzen Reich zu den Waffen. Dorfvorsteher und Vorsteher städtischer Wohnviertel hängten auf öffentlichen Plätzen und an Moscheetüren Plakate auf: „Die Mobilmachung wurde verkündet. Alle berechtigten Männer zu den Waffen!“ Alle Männer, sowohl Muslime wie Nichtmuslime, im Alter zwischen 21 und 45 bekamen fünf Tage Zeit, um sich beim nächstgelegenen Rekrutierungsbüro zu melden. Örtliche Funktionäre forderte man auf, Kriegsbegeisterung durch „das Schlagen von Trommeln und den Ausdruck von Glück und Freude“ zu wecken und den Eindruck von „Verzweiflung und Gleichgültigkeit“ zu vermeiden.3
So stark sie auch die Trommeln schlugen und ihrer Freude Ausdruck verliehen, die düsteren Vorahnungen arabischer Dorfbewohner konnten bei der Bekanntgabe der Mobilmachung nicht zerstreut werden. Ein schiitischer Geistlicher im südlibanesischen Dorf Nabatiyya fasste die öffentliche Bestürzung in einem Tagebucheintrag vom 3. August 1914 so zusammen:
Die Menschen waren durch die Nachricht [von der Generalmobilmachung] stark verwirrt und erregt. Sie kamen in kleinen Gruppen an öffentlichen Orten zusammen, überrascht und fassungslos, als würde der Tag des Jüngsten Gerichts bevorstehen. Einige wollten fliehen – doch wohin könnten sie gehen? Andere wollten sich entziehen, doch es gab keinen Ausweg. Dann hörten wir, dass zwischen Deutschland und Österreich auf der einen Seite und den Alliierten auf der anderen Seite der Krieg ausgebrochen war. Das verstärkte nur die Angst und die Sorge vor dem Ausbruch eines mörderischen Krieges, der die bebauten Äcker und das trockene Land verwüsten würde.4
Aus dem gesamten Reich sind ähnliche Reaktionen verzeichnet. In Aleppo schlossen als Folge der Mobilmachungsbefehle am 3. August die Geschäfte. Ein Bewohner schrieb dazu: „In der ganzen Stadt herrscht großes Unbehagen.“ Aus Trabzon, einer Hafenstadt am Schwarzen Meer, berichtete der amerikanische Konsul: „Das Dekret zur Mobilmachung kam wie ein Donnerschlag.“ Auch wenn jedem, der sich der Einberufung widersetzte, die Todesstrafe drohte, wollten es doch viele junge Männer lieber darauf ankommen lassen und sich verstecken, als sich der Armee anzuschließen und dort dem sicheren Tod ins Auge zu sehen, wie sie glaubten.5
In der Sultanstadt Istanbul wurde der Ruf zu den Waffen in jedem Stadtviertel durch die städtischen Ausrufer, die Bekçi Baba bekanntgegeben. Tagsüber brachte der Bekçi Baba Wasser in seine Nachbarschaft; nachts diente er als Wachmann in den Straßen des Viertels. Es war der Bekçi Baba, der bei einem Feuer Alarm schlug, und es war der Bekçi Baba, der die Männer zum Krieg trieb.
Irfan Orga erinnerte sich, wie sein Vater von einem Bekçi Baba zum Krieg gerufen wurde. Die im Sommer 1914 begonnene Mobilmachung wurde nach dem Kriegseintritt des Osmanischen Reichs ausgeweitet, sodass sogar ältere Männer einberufen wurden. Orga ging in den kalten November hinaus, um zusammen mit seinem Vater die Ankündigung des Ausrufers zu hören, und sah zu, wie ein Bekçi Baba um die Ecke kam, sich unter eine Straßenlampe stellte, um „seine erschütternden Nachrichten auszurufen“: „Männer, die zwischen 1880 und 1885 geboren wurden, müssen sich innerhalb von 48 Stunden beim Rekrutierungsbüro melden. Wer dem nicht Folge leistet, wird bestraft.“
Einer der Männer der Gegend rief zurück: „Was soll das heißen, Bekçi Baba?“
„Krieg! Krieg! Weißt du nicht, dass dein Land im Krieg ist?“, brüllte dieser zurück.6
In den Einberufungsbüros der Hauptstadt, in denen sich die wehrpflichtigen Männer drängten, ging es drunter und drüber. Offiziere schikanierten Zivilisten, die wie hungrige, hoffnungslose und apathische Rinder zusammengetrieben wurden, und brüllten Befehle. Es konnte mitunter Tage dauern, bis der Vorgang zur Registrierung eines Wehrpflichtigen abgeschlossen war. Hatte man sie dann einer Einheit zugeteilt, durften die Männer nach Hause gehen, ihre Habseligkeiten zusammensuchen und sich von ihren Familien verabschieden. In jedem Stadtbezirk ging anschließend eine lärmende Kapelle von Haus zu Haus, um die jungen Männer mit in den Krieg zu nehmen. Ein Soldat überreichte dabei dem neuen Rekruten, wenn er aus der Tür getreten kam, eine osmanische Flagge, während die anderen umhersprangen und zur Musik der Kapelle sangen, um das Wehklagen der Frauen zu übertönen. Die abreisenden Soldaten hatten ihr eigenes Klagelied. „Wenn sie ihre Häuser verließen, spielte die Kapelle ein Lied voll unglaublicher Traurigkeit“, erinnerte sich Orga. Alle stimmten in den Gesang mit ein:
O ihr Krieger, wieder muss ich als einsamer Fremder hinausziehen Selbst Berge und Felsen können mein Seufzen und meine Tränen nicht tragen.7
Auf diese Weise von Haus zu Haus gehend, vergrößerten die Osmanen ihr stehendes Heer vor dem Ausbruch der Feindseligkeiten im November 1914 von 200 000 auf fast 500 000 Soldaten und Offiziere. Im Verlaufe des Krieges sollten insgesamt etwa 2,8 Millionen Osmanen eingezogen werden – etwa 12 Prozent der Gesamtbevölkerung von circa 23 Millionen – auch wenn die Armee nie mehr als 800 000 Mann zugleich unter Waffen hatte.8
Die Truppenstärke der anderen Mittelmächte und der Entente ließen die osmanische Armee winzig aussehen. Österreich rief 1914 etwa 3,5 Millionen Menschen zusammen – und lag dabei chronisch unter Sollstärke. Im Verlauf des Krieges mobilisierte Deutschland rund 13,2 Millionen Menschen, also 85 Prozent der männlichen Bevölkerung zwischen 17 und 50 Jahren; Russland konnte zwischen 14 und 15,5 Millionen Männer aufbieten; Frankreich verfügte über 8,4 Millionen Soldaten, von denen etwa 500 000 aus den Kolonien stammten; Großbritannien schickte mehr als 5,4 Millionen Männer in die Armee und die Royal Navy – etwa ein Drittel der männlichen Arbeitskraft aus Vorkriegszeiten. Angesichts dieser Zahlen wundert es nicht, dass die europäischen Mächte der osmanischen Militärmacht wenig zutrauten.9
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Die rasche Vergrößerung ihrer Truppen verlangte von der osmanischen Regierung immense finanzielle Anstrengungen. Dabei waren die wirtschaftlichen Auswirkungen der Mobilmachung verheerend. In der Landwirtschaft, dem Handel und der Industrie beschäftigte Männer wurden gezwungen, ihre Arbeitsplätze zu verlassen, um sich der Armee anzuschließen. Die verbliebene produktive Arbeitskraft lieferte kaum noch Einkünfte für die Regierung, da ehemalige Steuerzahler nun zu Soldaten geworden waren, die auf Bezahlung, Unterkunft und Verpflegung durch die Regierung angewiesen waren. Die Schließung der Dardanellen und die Kriegsgefahr sorgten für Stillstand in den Häfen. Hunderttausende Soldaten und der Transport von kriegswichtigem Material verstopften die für den Handel mit dem In- und Ausland so wichtigen Straßen und Eisenbahnverbindungen, weshalb es zu Lebensmittel- und Konsumgüterknappheit kam. Augenblicklich setzte eine Inflation ein, und es drohte Hunger in den Städten, da nervöse Untertanen mit dem Horten von Nahrungsmitteln begannen.
Durch die schweren Beeinträchtigungen nahm die Produktivität ab und damit schmolzen zugleich auch die Staatseinnahmen. Zeitgenössische Schätzungen gehen von einem Rückgang der Einkünfte von 63,2 Millionen Dollar im zweiten Halbjahr 1913 auf 50,2 Millionen Dollar im zweiten Halbjahr 1914 aus, einer Verringerung um 20 Prozent. Da die Ausgaben die Einnahmen bei Weitem überstiegen, standen die Osmanen einem Haushaltsdefizit gegenüber, das nach Vermutungen von amerikanischen Konsulatsbeschäftigten 1914 mehr als 100 Millionen Dollar betragen haben dürfte – womit auf einen Streich der französische Kredit vom Mai 1914 aufgebraucht war.10
Das internationale Vertrauen in die osmanische Wirtschaft war an sich schon niedrig, bevor sich das Land zum Krieg entschloss. Kaum hatten die Osmanen die Mobilmachung ihrer Truppen verkündet, als europäische Banken bereits Kredite kündigten, die sie örtlichen Finanzinstitutionen gewährt hatten. In den arabischen und türkischen Handelsstädten verlangten Pariser Banken in der ersten Augustwoche 1914 die unverzügliche Rückzahlung noch offener Kredite in Gold. Der plötzliche Goldabfluss verursachte in Wirtschaftskreisen im gesamten Reich eine Panik. Kunden eilten zu Banken, um ihren Besitz noch zu retten. Allein in Istanbul zahlten Banken im August mehr als 9 Millionen Dollar an Kontoinhaber aus.
Um die Kapitalflucht zu verhindern, führte die Zentralregierung am 3. August ein Moratorium für Banktransaktionen ein. Ursprünglich nur für einen Monat gedacht, wurde es vierteljährlich bis zum Ende des Krieges verlängert. Während des Moratoriums mussten Kreditnehmer nur 25 Prozent ihrer Verbindlichkeiten zurückzahlen, und Banken verboten Kontoinhabern, monatlich mehr als fünf Prozent ihrer Einlagen abzuheben. Diese Maßnahmen verringerten den Druck auf die Kreditnehmer, paralysierten aber gleichzeitig das Bankensystem und die Wirtschaft als Ganzes. Banken gaben fortan nur noch der Regierung Kredite. In Handelszentren wie Aleppo, Beirut, Harput, Izmir oder Istanbul führte das Moratorium zur Schließung „praktisch aller Geschäfte und Industrien“, wie amerikanische Konsularmitarbeiter in diesen Städten festhielten.11
Die Osmanen wandten sich an ihre Verbündeten in Deutschland und baten um finanzielle Unterstützung für ihre Kriegsanstrengungen. Im Gegenzug für den osmanischen Kriegseintritt hatte Deutschland zwei Millionen Pfund in Gold sofort und weitere drei Millionen Pfund zugesagt, die über die kommenden acht Monate verteilt werden sollten. Diese Zuschüsse halfen bei der Einrichtung von Reserven und erlaubten es der Regierung, durch Gold gedecktes Papiergeld zu drucken. Deutschland lieferte während des Krieges zudem Militärmaterial und Hilfe im Wert von geschätzten 29 Millionen Pfund, darunter so wichtige Dinge wie Waffen und Munition.12
Die Staatskasse nahm in diesen Kriegszeiten Zuflucht zu außergewöhnlichen Maßnahmen, um die Staatseinkünfte zu erhöhen. Am 9. September erklärte das Osmanische Reich seine wirtschaftliche Unabhängigkeit von den europäischen Mächten, indem es unilateral die Kapitulationen aufhob – eines der ursprünglichen Kriegsziele der Hohen Pforte. Diese Maßnahme wurde in den europäischen Hauptstädten verurteilt und von der Öffentlichkeit begrüßt: Die Menschen schmückten ihre Häuser und Geschäfte mit Flaggen und Fahnen, um ihre Regierung zu feiern, die sich über die westlichen Mächte hinweggesetzt hatte. Die Abschaffung dieser Handelsprivilegien war der erste handfeste Vorteil des europäischen Konflikts für die Türkei, und der 9. September wurde zu einem Nationalfeiertag erklärt. In Edirne, Istanbul und Kütahya versammelten sich viele Menschen zu patriotischen Demonstrationen auf den Straßen.
Nachdem die Kapitulationen außer Kraft gesetzt worden waren, verabschiedete man ein Gesetz, mit dem ab dem 1. Oktober 1914 nicht nur ausländische Bewohner und Firmen besteuert, sondern auch Tausende osmanische Untertanen zur Kasse gebeten wurden, die bislang dank ihres Status als Protegés der westlichen Mächte Steuerfreiheit genossen hatten. Damit wurden angeblich „mehrere Millionen Dollar“ in die Staatskasse gespült.13
Die Requisition war eine weitere Form der außergewöhnlichen Besteuerung, die Untertanen und Ausländer gleichermaßen traf. Laut Gesetz war die Regierung verpflichtet, faire Kompensationen für alle vom Staat beschlagnahmten Güter zu zahlen, doch in der Praxis setzte die Regierung meist die Preise fest und bot eher Quittungen als eine Bezahlung in bar als Gegenleistung an. Die Eigentümer mussten davon ausgehen, dass sie alles Beschlagnahmte verloren hatten. Die osmanischen Untertanen waren beispielsweise gezwungen, ihre Pferde als Transportmittel sowie den Viehbestand und Ernten zur Versorgung der Armee abzuliefern.
Offiziere stürmten unangekündigt in Läden, um vor Ort jene Lebensmittel und Wirtschaftsgüter zu beschlagnahmen, die sie für kriegswichtig hielten. Die Requisition konnte auch wie eine Erpressung durchgeführt werden, da Ladenbesitzern befohlen wurde, Güter zu liefern, die sie gar nicht besaßen und daher erst einmal von staatlichen Lieferanten zu festgesetzten Preisen kaufen mussten. Auch ausländische Unternehmen im Osmanischen Reich verbuchten durch die Requisition große Verluste. In Syrien beschlagnahmte ein örtlicher Gouverneur Singer-Nähmaschinen als „Beitrag“ zur Uniformfabrik der Provinzregierung. In Adana und Bagdad requirierten die Gouverneure Hunderte Kerosinfässer der Standard Oil Company. Konsularmitarbeiter schätzten, die Regierung habe in den ersten sechs Monaten der Mobilmachung durch Requisitionen mehr als 50 Millionen Dollar eingenommen.14
Hauptziel der neuen Steuererhebungen waren jedoch die osmanischen Untertanen. Christen und Juden, die ebenfalls wehrpflichtig waren, denen die muslimischen Osmanen im Kampfeinsatz aber nicht gänzlich über den Weg trauten, erhielten die Möglichkeit, sich mit der Zahlung einer ungemein hohen Gebühr von 43 türkischen Pfund (189,20 Dollar) vom Militärdienst freizukaufen. Im April 1915 erhöhte die Regierung die Gebühr auf 50 Pfund (220 Dollar). Diese Abgabe brachte der Staatskasse in den neun Monaten nach Beginn der Mobilmachung geschätzte 12 Millionen Dollar ein. Die Regierung erhob zudem neue Steuern auf beliebte, wenn auch nicht lebenswichtige Konsumgüter wie Zucker, Kaffee, Tee, Zigaretten und alkoholische Getränke und erhöhte im Verlaufe des Krieges die jeweiligen Steuersätze immer wieder. Die Abgaben aus der Landwirtschaft wurden von zehn auf 12,5 Prozent angehoben. Andere bereits existierende Steuern wurden aus Kriegsgründen zum Teil um bis zu 70 Prozent erhöht und „freiwillige Beiträge“ für patriotische und militärische Hilfsorganisationen von Privat- und Geschäftsleuten gefordert.15
Diese außergewöhnlichen Steuern brachten dem osmanischen Reich kurzfristig Millionen Dollar ein, schädigten aber die Wirtschaft des Landes dauerhaft. 1914 waren die Osmanen jedoch nur an kurzfristigen Ergebnissen interessiert. Wie alle anderen Kriegsteilnehmer erwarteten auch sie zu Beginn des Konflikts ein schnelles und eindeutiges Ende. Sollten sie gewinnen, hätten sie alle Möglichkeiten, die Wirtschaft wiederaufzubauen; sollten sie besiegt werden, stünde ihnen sicherlich die Aufspaltung bevor, und die Besatzungsmächte würden die wirtschaftlichen Nöte des Landes erben. Die Osmanen hegten keine Illusionen über den ihnen bevorstehenden Kampf um Leben und Tod und wandten alles auf, was ihnen zur Verfügung stand, um den Sieg davonzutragen.16
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Als die osmanische Regierung Anfang August 1914 mobilmachte, forderten Briten und Franzosen ihre Kolonialreiche auf, Kriegshilfe zu leisten. Auf den französischen Aufruf hin machten sich Soldaten aus dem Senegal, aus Madagaskar und Indochina per Schiff auf den Weg zur Westfront. Das größte Kontingent stammte jedoch von der Armée d’Afrique. Zunächst an der Westfront eingesetzt, kämpften später Soldaten aus Nordafrika auch an der osmanischen Front – in Schützengräben auf beiden Seiten.
Zur Afrikaarmee gehörten Kolonialregimenter aus Algerien, Tunesien und Marokko. Die Mobilmachung im kolonialen Kontext war besonders heikel: Die Franzosen mussten Nordafrikaner überreden, Krieg gegen Deutschland zu führen, das ihnen keinen Grund für eine Auseinandersetzung geliefert hatte, und ein Reich zu verteidigen, das sie in ihrem eigenen Heimatland zu Menschen zweiter Klasse abgestempelt hatte. Die Aufgabe wurde durch die deutsche Propaganda und die osmanische Ausrufung des Dschihad noch erschwert, der auf die islamische Loyalität abzielte und die Muslime Nordafrikas gegen die Franzosen aufbringen sollte.
Die ersten Kolonialregimenter Nordafrikas entstanden Anfang des 19. Jahrhunderts in Algerien. Die Zuaven, eine leichte Infanterieeinheit benannt nach dem Berberstamm der Zuaua, regte mit ihren schneidigen Uniformen aus gebauschter roter Hose, blauer Tunika und roter Kopfbedeckung namens chechia die Fantasie der Europäer an. In Europa und Amerika wurden Mitte des 19. Jahrhunderts Elite-Zuaven-Regimenter gegründet, bei denen westliche Soldaten nach algerischem Vorbild in exotischen Uniformen kämpften. Im Amerikanischen Bürgerkrieg kämpften Zuaven-Einheiten sowohl aufseiten der Unionisten als auch der Konföderierten. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts ersetzten nach und nach französische Rekruten die Algerier, bis aus den Zuaven-Einheiten schließlich gänzlich europäische Einheiten geworden waren. Anfang des 20. Jahrhunderts existierten in Algerien fünf Zuaven-Regimenter und in Tunesien eines. Zu den weiteren europäischen Einheiten in der Afrikaarmee gehörten die Chasseurs d’Afrique, ein Kavalleriekorps, sowie die berühmte französische Fremdenlegion.
Arabische und Berber-Soldaten, die von den Zuaven ausgeschlossen waren, wurden zur Bildung einheimischer Armeeeinheiten rekrutiert: die algerischen und tunesischen tirailleurs, also Schützen, bekannt unter dem Namen „Turkos“, und die Spahi-Kavallerie. Obwohl die Soldaten in diesen Einheiten fast ausschließlich Nordafrikaner waren, besetzte man die Offiziersränge ebenso ausschließlich mit Franzosen. Algerier konnten höchstens bis zum Rang eines Leutnants aufsteigen, wobei nie mehr als die Hälfte aller Leutnants Nordafrikaner sein durften (in der Realität erzielten die Algerier niemals auch nur eine Parität mit den französischen Leutnants). Die Franzosen genossen eine Vorrangstellung gegenüber Algeriern gleichen Rangs.17
Angesichts des kolonialen Kontexts und der Grenzen, welche die Franzosen den nordafrikanischen Soldaten aufzeigten, ist es bemerkenswert, dass sich Araber und Berber überhaupt zum Kriegseinsatz meldeten. Die Erfahrungen eines algerischen Veteranen legen nahe, dass die Armee als sicherer Arbeitsplatz in einem wirtschaftlichen Umfeld angesehen wurde, das ungelernten Arbeitern nur wenige Möglichkeiten bot. Mustafa Tabti, ein arabischer Stammesangehöriger aus dem Hinterland von Oran, der nie eine Schule besucht hatte, schloss sich 1892 als Sechzehnjähriger den algerischen Schützen an, angetrieben von Neugier und dem Wunsch, „mit Schießpulver zu spielen“. Als er seine erste Dienstzeit abgeleistet hatte, kehrte er als kleiner Lebensmittelhändler in sein Zivilistenleben zurück. Siebzehn Jahre lang mühte er sich im Spagat zwischen dem Laden und landwirtschaftlicher Arbeit ab, bevor er sich im Alter von 37 Jahren als Unteroffizier bei den 2. algerischen Schützen einschrieb. Als Anfang der 1910er-Jahre die Spannungen in Europa zunahmen, begannen die Franzosen intensiver in Nordafrika zu rekrutieren, sie boten den Arabern und Berbern verlockende Löhne und Boni an. Neben Essen, Unterkunft und einem regelmäßigen Gehalt versorgte die Armee die Männer auch mit einer gewissen Stellung innerhalb der Gesellschaft, wie sie weder ein kleiner Lebensmittelhändler noch ein Landpächter genossen.18
Bis in die 1910er-Jahre war die Afrikaarmee eine reine Freiwilligenarmee, die aus europäischen und einheimischen Gemeinschaften in Algerien, Tunesien und Marokko rekrutiert wurde. Als der Druck auf die französische Regierung wuchs, das Militär zu vergrößern, entschloss man sich 1912, in Nordafrika die Wehrpflicht einzuführen. Sowohl in Paris als auch in Algier gab es viele, die sich gegen die Maßnahme ausgesprochen hatten, da sie fürchteten, sie könnte bei den einheimischen Algeriern entweder zur Revolte oder, noch schlimmer, zur Forderung nach gleichen Staatsbürgerrechten als Gegenleistung für den geleisteten Wehrdienst führen. In diesem Fall überstimmten die Militärstrategen die Bedenken der Koloniallobby und setzten das Gesetzgebungsverfahren in Gang. Das Dekret vom 3. Februar 1912 begrenzte die Zahl der Wehrpflichtigen auf nur 2400 Mann, die per Los bestimmt werden sollten. Um sich die Zustimmung der muslimischen Notabeln zu sichern, sagten die Franzosen das Recht zum Ersatz zu: Wohlhabendere Algerier konnten eine Gebühr zahlen, um ihre Söhne vom Militärdienst befreien zu lassen. Durch das Recht auf Freistellung stieß das Gesetz bei allen weniger vermögenden Algeriern auf umso größere Ablehnung, weshalb sie gegen seine Einführung protestierten. „Wir sterben lieber, als dass wir uns unsere Kinder wegnehmen lassen“, riefen algerische Familien. Doch trotz aller Gegenwehr fand die Militärdienst-Lotterie nach 1912 regelmäßig jährlich statt. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs 1914 dienten 29 000 Algerier im französischen Heer, 3900 davon waren Wehrpflichtige.19
Als die Nachricht von Deutschlands Kriegserklärung an Frankreich am 3. August 1914 Algerien erreichte, strömten Franzosen auf die Straßen Algiers, um in einer großen Demonstration ihren Patriotismus zu bekunden. Sie sangen die „Marseillaise“ und den „Chant du Départ“, ein weiteres Lied aus der französischen Revolutionszeit mit dem Refrain:
Uns ruft die Republik
Lasst uns siegen oder untergehen.
Ein Franzose muss für sie leben,
Für sie muss ein Franzose sterben.
Die Franzosen in Algerien passten die letzte Zeile an, um die einheimischen Algerier in diese Opferbereitschaft mit einzuschließen: „Für sie muss ein Franzose sterben, für sie muss ein Araber sterben.“ In diesem Augenblick der Begeisterung hielt der im algerischen Tlemcen geborene Messali Hadsch fest, wie sehr „all diese patriotischen Lieder die [arabischen Algerier] tief bewegten, musikalisch gesprochen“.20
Deutschland feuerte seine ersten Schüsse auf Frankreich, als die Schlachtschiffe Goeben und Breslau die Häfen Philippeville und Bône (heute Skikda und Annaba in Algerien) attackierten. Kurz vor Sonnenaufgang am 4. August gab die Breslau unter britischer Seeflagge 140 Salven auf das Zentrum von Bône ab und traf dabei Hafenanlagen, den Bahnhof, einige der Hauptstraßen der Stadt und ein Dampfschiff im Hafen. Ein Mann namens André Gaglione kam dabei ums Leben und war damit das erste französische Todesopfer des Weltkriegs. Eine Stunde später tauchte die Goeben unter russischer Flagge an der Küste vor Philippeville auf und schoss 20 Granaten auf die Stadt, wobei der Bahnhof, Kasernen und eine Gasanlage getroffen wurden und weitere 16 Menschen starben. Anschließend zogen sich beide Schiffe von der nordafrikanischen Küste zurück und wichen der Verfolgung durch britische und französische Schiffe in osmanische Gewässer aus. Hier sollten sie, wie erwähnt, eine entscheidende Rolle beim türkischen Kriegseintritt spielen. Die Deutschen gaben keinen Grund für den Angriff an, auch wenn man vermutete, sie wollten die Truppenbewegungen von Nordafrika nach Europa stören, und hofften, das algerische Vertrauen in Frankreich unterminieren zu können.
Die deutschen Angriffe riefen in weiten Teilen der Bevölkerung Empörung hervor und trieben Europäer und gebürtige Algerier als Freiwillige in die Armee. Der Kriegsausbruch traf zufällig mit dem heiligen Monat Ramadan zusammen, in dem Muslime von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang fasten. Die Rekrutierung von einheimischen Muslimen konnte daher frühestens gegen Ende August beginnen, nach dem Ende des Fastenmonats. Rekrutierungstrupps aus französischen und arabischen Soldaten fuhren an Markttagen durch Städte und Dörfer. Sie marschierten zu Trommelmusik und den schrillen Tönen der Ghaita, eines Doppelrohrblattinstruments, über die Plätze. Die rhythmische Musik und die bunten Uniformen lockten die Menschen heran, doch die Rekrutierungsoffiziere konzentrierten sich auf arbeitslose Männer und Bauern. „Der Oberfeldwedel brachte die Musik zum Verstummen, nachdem sie den erwünschten Effekt erbracht hatte“, erinnerte sich Messali Hadsch. „Ein arabischer Sergeant trat nun hervor und beschrieb mit großer Eloquenz all die Vorteile, von denen die Freiwilligen profitieren würden. Seine Vorschläge waren höchst attraktiv, vor allem für jene, die einen leeren Magen hatten.“ Deren Eltern hingegen „litten Qualen“ angesichts der Aussicht, ihre Söhne an einen Krieg im Ausland zu verlieren.
Die schlimmsten Ängste vieler nordafrikanischer Eltern wurden schon gleich in den ersten Wochen Wirklichkeit. Die Afrikaarmee erlitt bereits unmittelbar nach Ausbruch des Krieges schwere Verluste. Unteroffizier Mustafa Tabti, der sich 1913 gemeldet hatte, gehörte zu den Ersten, die man in Frankreich auf das Schlachtfeld schickte. Er fasste seine Erfahrungen in Verse und diktierte sie einem algerischen Armeeübersetzer, während er sich in einem Krankenhaus von seinen Verwundungen erholte. Kurz nach den Ereignissen im September 1914 notiert, fanden seine Verse unter den nordafrikanischen Soldaten an der Westfront große Verbreitung. Tabti kann als einer der ersten Dichter des Weltkriegs bezeichnet werden.21
Er überquerte das Mittelmeer von der westalgerischen Hafenstadt Oran aus und fuhr ins französische Sète, wo die algerischen Schützen von Bord gingen und ihren Weg zum Schlachtfeld per Zug fortsetzten. Tabti feiert die Bravour, mit der die Algerier auf die bevorstehenden Kämpfe blickten:
„Männer“, dachten wir bei uns selbst, „keine Angst, wir zeigen unsre Tapferkeit, hier werden wir uns vergnügen.“
„Wir Araber sind gemacht aus Großmut und Schießpulver!“
Die nordafrikanischen Truppen wurden an der belgischen Grenze eingesetzt, wo sie in der Schlacht um Charleroi am 21. August zum ersten Mal kämpfen mussten. Nichts hatte den nordafrikanischen Dichter auf die Grausamkeiten der Schlacht vorbereitet, die ihm nun begegneten.
Hört euch meine Geschichte an, Freunde: Welch ein grauenhafter Tag für uns in Charleroi, meine Brüder!
Mit Kanonen und einem sintflutartigen Hagel aus Kugeln deckten sie uns vom Nachmittagsgebet [Asr] bis zum Sonnenuntergangsgebet [Maghrib] ein.
Als die Schlacht am folgenden Tag weitertobte, stieg auf beiden Seiten die Zahl der Toten und Verletzten. „Die Toten lagen auf zahllosen Haufen“, erinnerte sich Tabti. „Sie legten den Muslim neben den Ungläubigen in ein gemeinsames Grab.“
Artillerie, geschossen von weit entfernt, steckte Erde und Steine gleichermaßen in Brand, meine Herren!
Wir vergingen in großer Zahl, durch Bajonette und Kugeln, die von allen Seiten schwirrten.
Sie ließen uns keine Atempause, sie folgten unseren Spuren sechs Tage nacheinander, meine Herren!
Sie belegten uns mit dem Ungestüm eines Sturms, meine Herren! In Belgien gönnten sie uns keine Atempause.
Den Franzosen und ihren nordafrikanischen Truppen gelang es, den Deutschen Verluste zuzufügen, bevor sie sich zurückzogen. „Wir haben sie zerstört“, prahlte Tabti. „Wohin immer du deinen Schritt lenkst, betrittst du einen von ihnen [den Deutschen] belegten Friedhof.“ Die Erinnerung an die toten Nordafrikaner – „aus Oran, Tunis, Marokko und der Sahara“ – lastete jedoch schwer auf den Schultern des jungen algerischen Dichters.
Der Anblick so vieler dahingeraffter junger Männer zerriss mir mein Herz. Meine Herren! Diese toten Helden ruhen in der Einsamkeit des Nirgendwo. Sie gingen dahin, ohne dass man für sie das Glaubensbekenntnis sprach, ihr Herren! Sie lagen den wilden Tieren, Adlern und Raubvögeln schutzlos ausgeliefert.
Zu ihrem Andenken singe ich voller Trauer, ihr Herren! Wärt ihr auch aus Stein gemacht, so müsstet ihr doch Tränen für sie vergießen.
Die Schlacht von Charleroi erwies sich als sinnloses Gemetzel, das die Anzahl der nordafrikanischen Regimenter und die der regulären französischen Armee dezimierte. Bataillone mit 1200 Infanteristen wurden an einem einzigen Kampftag auf weniger als 500 Männer ausgedünnt – die anfänglichen Verlustraten unter den Turkos lagen bei bis zu 60 Prozent Tote und Verwundete. Nachdem die erfahrenen Soldaten gefallen waren, wurden sie von jungen Rekruten ohne adäquate Ausbildung ersetzt, die unter dem Geschützfeuer in Panik gerieten und noch höhere Verlustraten zu beklagen hatten. Als sich die Franzosen aus Charleroi zurückzogen, um sich für die Verteidigung von Paris neu zu gruppieren, entsandte man die nordafrikanischen Soldaten an die Marne, wo sie eine Schlüsselrolle beim Aufhalten des deutschen Vormarsches spielten – auch dieses Mal wieder unter furchtbaren Verlusten. Insgesamt starben rund 6500 nordafrikanische Soldaten allein zwischen August und Dezember 1914 und viele Tausende mehr wurden verwundet.22
Die großen Verluste an der Westfront sprachen sich unvermeidlich bis nach Nordafrika herum. Solch hohe Todeszahlen nährten Gerüchte, nordafrikanische Soldaten würden als Kanonenfutter eingesetzt, um den französischen Soldaten die schlimmsten Kämpfe zu ersparen. Im September und Oktober 1914 kam es daher im ländlichen Algerien zu spontanen Protesten gegen die Rekrutierung und das Einziehen von Wehrpflichtigen. Familien weigerten sich, ihre Söhne an die Armee herauszugeben, und Banden griffen die Rekrutierungstrupps auf offenem Gelände an, um die jungen Soldaten zu befreien, bevor sie die Kasernen erreichten.
Diese Unruhen führten den Franzosen vor Augen, welchen Ärger ein religiöser Aufstand in Form des von den Osmanen erklärten Dschihad hervorrufen könnte. Angesichts landesweiter Widerstände mussten die Behörden 1600 Soldaten von den europäischen Schlachtfeldern abziehen und nach Algerien beordern, wo sie die Ordnung wiederherstellen sollten. Mehrere dieser Soldaten wurden von den Aufständischen gefangen genommen und ermordet, bevor die Armee die Kontrolle zurückerlangte und wieder Nachschub für die Westfront rekrutiert werden konnte. Trotz des Widerstands vor Ort erwiesen sich die Rekrutierungsbemühungen als effektiv: Im Verlauf des Krieges dienten mehr als 300 000 Nordafrikaner – 180 000 Algerier, 80 000 Tunesier und 40 000 Marokkaner – in der französischen Armee, sowohl an der Westfront als auch im Kampf gegen die Osmanen.23
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Auch die Briten griffen auf ihr Weltreich zurück, um Truppen für den Krieg aufzustellen. Als Großbritannien Deutschland am 4. August 1914 den Krieg erklärte, folgten ihm drei seiner Dominions – Australien, Kanada und Neuseeland – noch am selben Tag. Sie alle mobilisierten ihre Soldaten, um Großbritannien auf der europäischen Bühne zu verteidigen. Die überwältigende Mehrheit der Kanadier kämpfte an der Westfront (abgesehen von einer Handvoll Soldaten, die auf Booten stationiert waren und in Mesopotamien kämpften oder für medizinische Einheiten in Saloniki arbeiteten). Die meisten Freiwilligen aus Australien und Neuseeland hingegen dienten zunächst an der osmanischen Front. Sie wurden zur selben Zeit mobilisiert wie die Türken, Araber und Nordafrikaner – Soldaten aus aller Welt, die aus dem europäischen Konflikt einen Weltkrieg machten.
Auf der dem Krieg abgewandten Seite des Globus reagierten Australien und Neuseeland auf den Kriegsausbruch in Europa mit demselben Pflichtgefühl dem Empire gegenüber wie die Briten. Der damalige Führer der australischen Oppositionspartei, Andrew Fisher, griff die vorherrschende Stimmung auf, als er die Unterstützung seines Landes „bis zum letzten Mann und dem letzten Shilling“ versprach. Anfang August 1914 mobilisierte das Commonwealth of Australia die australische Imperial Force, und das Dominion Neuseeland versammelte die New Zealand Expeditionary Force. Die vereinten Truppen wurden als das berühmte Australian and New Zealand Army Corps (ANZAC) bekannt.
Australien und Neuseeland hatten bereits im Zweiten Burenkrieg (1899–1902) Truppen zur Unterstützung der Briten entsandt. Doch diese erste Erfahrung der Kriegsführung im Ausland hatte sie in keiner Weise auf die Gewalt des Weltkriegs vorbereitet. Von den damals nach Südafrika geschickten 16 000 Australiern wurden nur 251 im Kampf getötet; mehr Soldaten (267 Mann insgesamt) starben an Krankheiten. Neuseeland erlebte Ähnliches: Von den 6500 bereitgestellten Soldaten fielen 70 in Schlachten, 23 starben bei Unfällen und 133 wurden von Krankheiten dahingerafft. In Erinnerung an den Burenkrieg meldeten sich sehr viele Neuseeländer und Australier freiwillig: Sie waren auf Abenteuer und die Reise in die Fremde aus und träumten zweifellos alle davon, ruhmreich nach Hause zurückzukehren.24
Zu den australischen und neuseeländischen Kontingenten gehörte sowohl Kavallerie als auch Infanterie. Die meisten Freiwilligen für die Kavallerie stammten aus ländlichen Gegenden und brachten ihre eigenen Pferde mit – einige der mehr als 16 Millionen im Ersten Weltkrieg eingesetzten Pferde. Die Kavallerie-Freiwilligen, die sich mit dem eigenen Pferd einschrieben, bekamen 30 Pfund ausbezahlt, wenn ihr Tier die Musterung bestand. Damit gehörte das Pferd der Armee und wurde mit einem regierungsamtlichen Abzeichen und einer in den Huf eingebrannten Nummer versehen. Ein solches Militärpferd, von den Kavalleristen auch „Remonte“ genannt, musste strenge Kriterien erfüllen: Es musste ein Wallach oder eine Stute, zwischen vier und sieben Jahren alt, muskulös, keinesfalls größer als 15,2 Handbreit (1,54 Meter) und gutmütig sein und im Gefecht ruhig bleiben. Diese Beschreibung passte perfekt auf die australischen New South Waler – eine Kreuzung aus Vollblut und Zugpferd.25
Die Männer der New Zealand Expeditionary Force stammten aus allen Teilen des Landes und allen Bevölkerungsschichten. Unter ihnen waren Bauern und Mechaniker, Schäfer und Buschleute, Büroangestellte und Lehrer, Börsenmakler und Bankangestellte. Sie alle schlossen sich der Armee an, weil ihre Freunde das ebenfalls taten. Einige lockte die Aussicht auf ein großes Abenteuer. Andere meldeten sich aus Patriotismus Großbritannien und dem British Empire gegenüber. Keiner von ihnen hatte die leiseste Ahnung, wo sie schließlich kämpfen sollten, doch nach sechs Wochen Ausbildung waren sie für den Kampf bereit. Trevor Holmden, ein junger Anwalt aus Auckland, erinnerte sich, wie er und seine Kameraden von ihrem Ausbildungslager auf dem One Tree Hill hinab zum Hafen marschierten, von wo sie abtransportiert wurden:
Auckland zeigte sich in großer Zahl, als wir vorbeimarschierten, und auch wenn die meisten Menschen froh waren, die letzten Krawallmacher loszuwerden, die sie in unseren Reihen vermuteten, hielten wir uns alle doch für Helden, und ich glaube, wir alle verhielten uns auch als solche. Ich persönlich genoss den Marsch sehr, und die ganze Angelegenheit war sicherlich äußerst dramatisch und martialisch, als die Kapellen aufspielten und die Fahnen flatterten, während wir … von der Welt, die wir kannten, durch die großen Eisentore vor der Queen’s Wharf hindurch und damit zu den Schiffen gingen, die uns weiß Gott wohin bringen sollten.26
Aufgrund ihrer eher geringen Bevölkerungszahl konnten Australien und Neuseeland nur eine begrenzte Zahl an Truppen für den Krieg bereitstellen. 1914 lebten in Australien fünf Millionen Menschen, in Neuseeland nur eine Million. Zugelassen wurden zudem nur Australier zwischen 18 und 35 Jahren sowie Neuseeländer zwischen 21 und 40 Jahren, die mindestens 1,67 Meter groß und gesund waren. Ende August hatten die Australier 19 500 Männer aufgestellt (17 400 Infanteristen und 2100 Kavalleristen), befehligt von fast 900 Offizieren. Neben der kleinen Truppe aus 1400 Männern, die Deutsch-Samoa besetzen sollten, umfasste die New Zealand Expeditionary Force fast 8600 Mann und mehr als 3800 Pferde, die in weniger als drei Wochen aufgestellt worden waren.27
Die Abfahrt der Truppentransportschiffe wurde durch Berichte verzögert, nach denen ein deutsches Marinegeschwader im Südpazifik operiere. Obwohl die Freiwilligen Ende September ihre Ausbildung abgeschlossen hatten, legten die zehn Transportschiffe erst am 16. Oktober in Wellington ab, begleitet von einem japanischen Kriegsschiff und zwei britischen Booten. Trevor Holmden fand sich zusammen mit weiteren 1500 Mann und 600 Pferden „eingeklemmt wie Sardinen“ auf der Waimana wieder. Sie fuhren in Richtung Australien, um sich dort mit der Australian Imperial Force zu vereinen, und machten sich am 1. November von Hobart in Südwestaustralien auf den Weg, mit noch unbekanntem Ziel. Erst nachdem der ANZAC-Konvoi aufgebrochen war, trat das Osmanische Reich am 2. November in den Krieg ein. Anstatt nach Großbritannien zu fahren, sollten die Australier und Neuseeländer in Ägypten von Bord gehen, um an der Front im Nahen Osten zu kämpfen.
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Als Briten und Franzosen ihre Kolonialreiche für den europäischen Krieg einspannten, mussten sie die Loyalität ihrer muslimischen Untertanen auf den Prüfstand stellen. Die Algerier klagten bereits seit längerer Zeit über den Status quo, der den einheimischen Arabern und Berbern die Bürgerrechte verweigerte. Indische Muslime waren nach Jahrzehnten der Benachteiligung in der britischen Verwaltung nervös und gingen immer mehr dazu über, dem osmanischen Sultan als Kalif der weltweiten muslimischen Gemeinschaft Gehorsam zu versprechen. Drei Jahrzehnte britischer Besatzung hatten in Ägypten den Boden für eine nationalistische Bewegung bereitet, deren Forderungen nach Unabhängigkeit jedes Mal abgelehnt worden waren. Einige fürchteten aus gutem Grund, die Kolonialpolitik habe die Muslime in Indien und Nordafrika derart entfremdet, dass sie sich den Feinden Großbritanniens und Frankreichs anschließen könnten, in der Hoffnung, sich nach einem Sieg der Deutschen die Unabhängigkeit zu sichern.28
Als Knotenpunkt des britischen Weltreichs war Ägypten entscheidend für die Kriegsbemühungen. Der Suezkanal war Großbritanniens wichtigste Verbindung mit Indien, Australien und Neuseeland. Die ägyptischen Militärlager dienten sowohl als Ausbildungsstätten für die Kolonialtruppen als auch als Ausgangspunkte für Operationen im Nahen Osten. Sollten ägyptische Nationalisten den Krieg in Europa oder fromme Muslime die Ausrufung des Dschihad zum Anlass für einen Aufstand nehmen, könnten die Auswirkungen auf die gesamten britischen Kriegsanstrengungen desaströs sein.
Im August 1914, als in Europa der Krieg ausbrach, hatte sich die ägyptische Regierung bereits in die Sommerpause zurückgezogen. Der Khedive (Vizekönig) Abbas Hilmi II. befand sich in Istanbul auf Urlaub, die gesetzgebende Versammlung war in den Parlamentsferien. Premierminister Hussein Ruschdi Pascha war gezwungen, in der schnell eskalierenden Krise Entscheidungen zu treffen, ohne sich mit seinem Staatsoberhaupt beraten zu können. Am 5. August drängten die Briten Hussein Ruschdi Pascha dazu, ein Dokument zu unterzeichnen, das faktisch auf eine Kriegserklärung an die Feinde des Königs hinauslief. Anstatt damit die ägyptische Loyalität zum britischen Krieg zu sichern, brachte die Nachricht des Dekrets das ägyptische Volk vielmehr gegen die Briten auf: „Das tiefsitzende Misstrauen, das in allen Bevölkerungsschichten gegenüber der Besatzungsmacht [Großbritannien] vorherrschte, steigerte sich zu einem Gefühl des bitteren, wenn auch stummen Hasses“, erinnerte sich ein damals in Ägypten stationierter britischer Offizier. „Durch eine unfreiwillige und verachtete Verbindung mit Großbritannien war Ägypten in einen Kampf hineingezogen worden, dessen Ursprung und Ziele dem Land verborgen blieben.“29
Zwischen August und Oktober verheimlichte die britische Zensur der ägyptischen Öffentlichkeit die schlimmsten Berichte von der Front. Auch Nachrichten aus Istanbul unterlagen der britischen Kontrolle – bis die Osmanen am 2. November 1914 in den Krieg eintraten. Obwohl es von den Briten besetzt war und seit 1882 de facto unter britischer Verwaltung stand, gehörte Ägypten formell gesehen noch zum Osmanischen Reich und das bereits seit 1517. Der Khedive war ein osmanischer Vizekönig, ernannt vom Sultan, und der osmanischen Regierung gegenüber tributpflichtig. Als Verbündete der Deutschen waren alle Osmanen nun Feinde der britischen Krone. Ägypten befand sich damit in einer widersprüchlichen Lage: zum einen ein treuer Vasallenstaat der Osmanen und zugleich, wegen des Dekrets vom 5. August, auf Geheiß der Briten ein Land im Kriegszustand mit den Osmanen. Großbritanniens Lage war nur unwesentlich einfacher: Der Kriegseintritt der Osmanen bedeutete, dass Großbritannien ein feindliches Gebiet besetzt hielt und dass die 13 Millionen Einwohner Ägyptens mit einem Mal gegnerische Ausländer geworden waren.
Noch am Tag des Kriegseintritts der Osmanen verhängten die Briten das Kriegsrecht über Ägypten. Es gab keine öffentlichen Reaktionen, die britischen Behörden blieben jedoch besorgt, was die ägyptische Loyalität betraf. Da aller Wahrscheinlichkeit nach die religiösen Bindungen der ägyptischen Soldaten stärker sein würden als ihr Respekt vor der Kolonialmacht, waren die Briten nicht bereit, sie in einen Krieg hineinzuziehen, und entschieden, sie insgesamt vom Krieg auszunehmen. Am 6. November versprach der Militärkommandeur in Ägypten, General Sir John Maxwell: „In Anerkennung des Respekts und der Verehrung, die dem Sultan von den Mohammedanern Ägyptens entgegengebracht werden, nimmt [Großbritannien] die gesamte Last des gegenwärtigen Krieges allein auf seine Schultern, ohne das ägyptische Volk hierbei um Hilfe zu bitten.“30
Der erfahrene ägyptische Politiker Ahmad Schafiq bemerkte, Maxwells Ankündigung habe in Ägypten „die öffentliche Meinung erschüttert“, die nach mehr als drei Jahrzehnten Besatzung den britischen Bestrebungen misstrauisch gegenüberstand. Die Briten verpflichteten sich zwar, das ägyptische Volk nicht in den Krieg zu ziehen, achteten aber streng darauf, dass dieses nicht dem Osmanischen Reich Beistand leistete. Allerdings mussten die Briten rasch erkennen, dass sie ihr Versprechen nicht halten konnten, die Last des Krieges ohne ägyptische Unterstützung ganz alleine zu tragen. Ägyptische Soldaten dienten schließlich bei der Verteidigung des Suezkanals, ägyptische Arbeiter wurden zu gegebener Zeit für Arbeitstrupps rekrutiert, die an der Westfront und im Nahen Osten eingesetzt wurden.31
Obwohl es den Briten gelungen war, die öffentliche Ordnung zu sichern, war das Problem der rechtlichen Widersprüche noch nicht gelöst, das durch ihre Anwesenheit in Ägypten entstanden war. Am 18. Dezember erklärte Großbritannien unilateral und offiziell Ägypten zu seinem Protektorat, womit nach 397 Jahren die türkische Herrschaft endete. Am folgenden Tag setzten die Briten den herrschenden Khediven Abbas Hilmi II. ab, den man verdächtigte, der osmanischen Sicht der Dinge zu nahezustehen, und setzte an seiner Stelle den ältesten Prinzen des ägyptischen Herrscherhauses, Hussein Kamil, auf den Thron. Nun, da Ägypten kein Vasallenstaat mehr war, verliehen die Briten dem neuen ägyptischen Herrscher den Titel „Sultan“ – eine Beförderung, die Hussein Kamil schmeichelte, stellte sie ihn doch auf eine Stufe mit dem osmanischen Sultan. Mit einem gefügigen König, der seine Position der Kolonialmacht verdankte, konnten sich die Briten nun auf die Sicherung Ägyptens, und insbesondere des Suezkanals, gegen osmanische Angriffe konzentrieren. Da zahlreiche britische Soldaten Ägypten bereits in Richtung Westfront verlassen hatten, wartete man auf die Verstärkung aus Australien, Neuseeland und Indien.
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Indien, seit 1858 unter Herrschaft der britischen Krone, war das Herzstück des britischen Weltreichs. Britisch-Indien wurde von einem Vizekönig regiert, dem Hunderte von Fürstenstaaten als ihrem Oberhaupt die Treue geschworen hatten. Mit einer eigenen öffentlichen Verwaltung und Armee war Indien ein eigener Staat innerhalb des britischen Kolonialgebildes. Ein Viertel der 225 Millionen Einwohner war muslimisch – mehr als 65 Millionen. Der deutsche Geheimdienst hatte die unzufriedenen indischen Muslime als Achillesferse des British Empire ausgemacht und hoffte, der osmanische Aufruf zum Dschihad provoziere Aufstände, die das Raj destabilisieren und Großbritanniens Niederlage an der Westfront beschleunigen würden.32
Als 1914 der Krieg begann, stand Großbritannien in Südasien vor zwei Aufgaben: einerseits so viele indische Soldaten zu rekrutieren wie möglich und andererseits die Loyalität der indischen Muslime gegenüber dem Empire zu bewahren und diese gegen die osmanische und deutsche Dschihad-Propaganda abzuschotten. Beide Herausforderungen im Blick, gab Georg V., der britische „König-Kaiser“, am 4. August eine Erklärung an die „Fürsten und Völker Indiens“ ab. Darin erläuterte er die britischen Gründe für die Kriegserklärung an Deutschland und bat um indische Unterstützung für den Krieg des Königreichs. Zur großen Erleichterung der Regierung reagierte die indische Herrschaftselite auf den Aufruf des Königs mit überschwänglichen Treueschwüren. „Die Loyalität der indischen Muslime zum König-Kaiser“, versicherte der Aga Khan, „steht fest gegen jeden Versuch der deutschen Diplomatie, im Nahen Osten oder sonst wo ein unechtes panislamisches Gefühl zugunsten der in Deutschland produzierten‚ gepanzerten Faust‘ zu erschaffen.“ Muslimische Fürsten in ganz Indien gaben ähnlich lautende Erklärungen ab.33
Der osmanische Kriegseintritt und die Ausrufung des Dschihad durch den Sultan bedrohten die Ordnung in Britisch-Indien. Die Öffentlichkeit war gespalten in Loyalitätsbekundungen für den Sultan-Kalifen und den König-Kaiser. Um sich die Unterstützung der indischen Muslime zu sichern, versprach König Georg V., Großbritannien und seine Verbündeten würden Mekka und Medina – die beiden heiligen Stätten Arabiens –, Dschidda, die Hafenstadt im Roten Meer sowie die mesopotamischen Wallfahrtsstätten vor Angriffen schützen. Das königliche Versprechen sorgte dafür, dass die indischen Muslime ungebrochen die britischen Kriegsbemühungen unterstützten. Doch ebenso wie es ihrer Zusage erging, den Ägyptern die Zumutungen des Krieges zu ersparen, mussten die Briten bald feststellen, dass ihr Versprechen, den Hedschas vor den Gefahren des Konflikts zu bewahren, ins Wanken geriet.
Nach der Zusicherung des Königs, die heiligen Stätten der Muslime zu schützen, stellten indisch-muslimische Notabeln großzügig ihre Hilfsbereitschaft für den britischen Kriegszug unter Beweis. Die Nawab aus Bhopal, Ranpur, Murshidabad und Dhaka sowie der Nizam von Hyderabad bestätigten, der Sultan habe die Muslime mit seinem „irrigen“ Aufruf zum Dschihad fehlgeleitet. Sie führten zudem aus, indische Muslime hätten die Pflicht, Großbritannien zu unterstützen. Der Aga Khan ging sogar so weit, dem osmanischen Anspruch auf das Kalifat seine Anerkennung zu entziehen: „Nun, da die Türkei sich derart katastrophal als Werkzeug in deutschen Händen herausgestellt hat, hat sie nicht nur sich selbst zugrunde gerichtet, sondern auch ihre Stellung als Treuhänder des Islam verspielt, und das Böse wird sie überrollen.“34
Der Rat der All-indischen Muslimliga verabschiedete im November 1914 eine Resolution mit der Feststellung, dass „die Teilnahme der Türkei im gegenwärtigen Krieg“ keinen Einfluss auf die „Loyalität und Ergebenheit“ der indischen Muslime dem britischen Empire gegenüber habe. Der Rat betonte seine Zuversicht, „dass kein Muslim in Indien auch nur um Haaresbreite von seiner überragenden Pflicht gegenüber seinem Souverän abweichen wird“, womit der König-Kaiser gemeint war. Ähnliche Resolutionen wurden im November 1914 bei Massenversammlungen von muslimischen Notabeln in ganz Indien verabschiedet.35
Nachdem sie sich der muslimischen Treue versichert hatten, fingen die Briten an, indische Truppen für den Krieg zu mobilisieren. In Indien meldeten sich auf den Aufruf Georg V. hin mehr Freiwillige, als in allen anderen Kolonien und Dominions zusammen. Zwischen 1914 und Ende 1919 schrieben sich 950 000 Inder zum Militärdienst ein, weitere 450 000 dienten als Nichtkombattanten, womit rund 1,4 Millionen Mann ins Ausland geschickt wurden, um als Soldaten, Arbeiter, Mediziner oder sonstige Helfer den britischen Kriegseinsatz zu unterstützen. Soldaten der Indienarmee kämpften an allen Fronten – mehr als 130 000 allein an der Westfront. Ihren wichtigsten Beitrag zum Krieg der Briten leisteten sie jedoch im Nahen Osten, wo fast 80 Prozent der indischen Soldaten kämpften – auf Gallipoli (9400), in Aden und am Persischen Golf (50 000), in Ägypten (116 000) und vor allem in Mesopotamien (fast 590 000).36
Dem Beispiel Britisch-Indiens folgend, wo sich muslimische Führer eloquent und deutlich gegen die Ausrufung des Dschihad durch den Sultan ausgesprochen hatten, mobilisierten auch die Franzosen loyale muslimische Würdenträger, um dem osmanischen Kriegseintritt jegliche religiöse Begründung abzusprechen. Sie begannen oben an der Spitze: Die Franzosen sicherten sich die Zustimmung des Bey von Tunis und des Sultans von Marokko, die ihre Soldaten aufforderten, tapfer für die Franzosen zu kämpfen und ihr Volk aufriefen, sich den Kolonialbehörden zu unterwerfen und ihnen zu gehorchen. Die Muftis der zwei Rechtsschulen im sunnitischen Islam Algeriens, die Malikiten und Hanafiten, bezogen sich explizit auf die Lage der Muslime in Indien, im Kaukasus und in Ägypten, als sie sich gegen den Aufruf des Sultans zum Dschihad aussprachen. Weitere religiöse Führer – Leiter religiöser Bruderschaften, Richter und andere Würdenträger – sicherten der Sache der Alliierten ihre Unterstützung zu, verdammten die Deutschen und ihre jungtürkischen Protegés und lehnten den Anspruch des Sultans auf die Autorität des Kalifen und sein Recht, im Namen der muslimischen Gemeinschaft den Dschihad ausrufen zu können, ab. Die Kolonialbehörden veröffentlichten Dutzende solcher Erklärungen sowohl auf Arabisch als auch in sorgfältig bearbeiteten französischen Übersetzungen. Der Propagandakrieg für und gegen den osmanischen Dschihad wurde auch von europäischen Orientalisten geführt – britischen, französischen und deutschen.37
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Die Deutschen konnten einige Erfolge bei ihren Bemühungen verbuchen, feindliche muslimische Kämpfer zum Dschihad gegen Großbritannien und Frankreich zu gewinnen. Sie rekrutierten islamische Aktivisten wie Scheich Salih asch-Scharif für ihre Sache. Der in Tunis als Sohn algerischer Exilanten geborene Salih asch-Scharif war islamischer Gelehrter und Nachfahre des Propheten Mohammed. Er verließ 1900 sein Geburtsland aus Protest gegen die französische Herrschaft. Der Tunesier fiel der jungtürkischen Führung während des Libyenkriegs auf, als er unter Enver diente. Es war Salih asch-Scharif, der angeblich den Dschihad gegen Italien verkündete und dem Krieg damit eine offenkundig religiöse Färbung gab. Enver, der von der Macht des Islam zur Mobilisierung des Widerstands gegen die europäischen Übergriffe ohnehin beeindruckt war, rekrutierte asch-Scharif für seinen Geheimdienst, den Teşkilât-ı Mahsusa.38
Salih asch-Scharif ging 1914 nach Berlin und arbeitete dort für die neu geschaffene Propagandaeinheit des deutschen Außenministeriums, die Nachrichtenstelle für den Orient. Er besuchte die Westfront, um über die Schützengräben hinweg direkt auf muslimische Soldaten in Reihen der Briten und Franzosen einzuwirken. Er verfasste eine Reihe von Pamphleten, die sowohl auf Arabisch als auch in der Berbersprache zusammen mit dem Aufruf des Sultans zum Dschihad über den Kampflinien abgeworfen wurden, wo nordafrikanische Soldaten kämpften. Einige von ihnen desertierten daraufhin aus der französischen Armee.39
Nachdem die Deutschen die ersten muslimischen Gefangenen an der Westfront gemacht hatten – rund 800 bis Ende 1914 –, schufen sie in Wünsdorf bei Zossen eine spezielle Einrichtung, die als „Halbmondlager“ bekannt werden sollte. Der deutsche Kommandeur des Lagers sprach Arabisch mit den Gefangenen. Das Essen im Lager entsprach den muslimischen Speisevorschriften, und es gab zudem eine prunkvolle, von Kaiser Wilhelm II. persönlich finanzierte Moschee, um den spirituellen Bedürfnissen der muslimischen Kriegsgefangenen entgegenzukommen – und um die guten Absichten des Kaisers gegenüber der muslimischen Welt zu beweisen.
Ahmed bin Hussein, ein älterer Bauer aus Marrakesch, war einer von acht marokkanischen Soldaten, die sich gemeinsam den deutschen Truppen auf den Schlachtfeldern in Belgien ergaben. Von dem Moment an, an dem sich die Männer als Muslime zu erkennen gaben, so erzählte er, „erwiesen sie [die deutschen Wachleute] uns gebührenden Respekt … Jeder klopfte uns auf die Schultern und reichte uns Essen und Trinken.“ Er wurde in ein besonderes Lager für muslimische Kriegsgefangene gebracht – zweifellos das Halbmondlager. „Sie taten uns sogar einen Gefallen und richteten uns eine Küche ein. Man servierte uns kein Schwein. Sie gaben uns gutes Fleisch, Pilaw, Kichererbsen etc. Jeder von uns bekam drei Laken, Unterwäsche und ein neues Paar Schuhe. Sie führten uns alle drei Tage zum Baden und schnitten uns die Haare.“ Die Lebensbedingungen in diesem Lager waren im Vergleich zu dem, was die Muslime in der französischen Armee und an der Front erlebt hatten, eine deutliche Verbesserung.40
Gefangene in Wünsdorf. Die Deutschen errichteten in Wünsdorf bei Zossen ein spezielles Lager für muslimische Kriegsgefangene, in dem sie Freiwillige für den Kriegseinsatz der Osmanen rekrutierten. Viele von ihnen kämpften später in den Reihen der Osmanen an den Fronten im Nahen Osten. Hier ist eine Gruppe nordafrikanischer Soldaten zu sehen, die in den französischen Stellungen gefangen genommen worden war und nun von einem ihrer eigenen Offiziere im Lager Wünsdorf begutachtet wird.
Muslimische Gefangene zogen in einer Parade durch das Lager in Wünsdorf, um vor einem (im übertragenen Sinne) gefesselten Publikum den Dschihad zu propagieren. Salih asch-Scharif war häufig Gast dort und gab eine arabischsprachige Zeitung für die Insassen heraus, die, dem Anlass entsprechend, al-Dschihad hieß. Eine Reihe nordafrikanischer Muslime und Würdenträger reiste ebenfalls an, um die Gefangenen zu besuchen und sie für die Sache der Mittelmächte zu gewinnen. Diese Gäste hielten vor den Insassen Vorträge darüber, warum der Kampf an der Seite der Alliierten etwas war, was ihren religiösen Vorstellungen widersprach und weshalb der osmanische Dschihad gegen die Feinde des Islam (also Großbritannien und Frankreich) ihre religiöse Pflicht sei.41
Hunderte Kriegsgefangene meldeten sich freiwillig für die osmanische Armee – unter ihnen der marokkanische Bauer Ahmed bin Hussein. Nachdem er sechs Monate in dem Lager für muslimische Kriegsgefangene verbracht hatte, kam ein deutscher Offizier, begleitet von einem osmanischen Offizier namens Hikmet Efendi. „Wer unter euch nach Istanbul gehen möchte“, erklärten sie, „der hebe seine Hand.“ Umgehend meldeten sich zwölf marokkanische und algerische Soldaten. „Andere hatten Angst“, fügte Ahmed bin Hussein hinzu. Die Freiwilligen bekamen Zivilkleidung und Pässe und wurden nach Istanbul geschickt, um für die Osmanen zu kämpfen.
Es lässt sich nicht sagen, wie viele muslimische Gefangene sich aus Überzeugung für den osmanischen Militärdienst meldeten und wie viele sich einfach nur meldeten, um das Kriegsgefangenenlager verlassen zu können. Was auch immer ihre Motive gewesen sein mögen, ein stetiger Strom indischer und nordafrikanischer Soldaten verließ Deutschland in Richtung Istanbul, um sich dem Krieg des Sultans anzuschließen. Nun zum zweiten Mal mobilisiert, dieses Mal jedoch als muslimische und nicht mehr als Kolonialsoldaten, stürzten sie sich erneut in den sich ausweitenden Weltkrieg, dieses Mal an dessen Fronten im Nahen Osten.42
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Als die Osmanen den Krieg erklärten, waren die Männer, die im Nahen Osten kämpfen sollten, bereits mobilisiert und auf ihrem Weg an die Fronten. Eine kleine Gruppe Nordafrikaner, die an der Westfront gefangen genommen worden war, hatte in deutschen Lagern die Seite gewechselt und schloss sich nun den Osmanen an. ANZAC-Kavallerie und -Infanterie waren auf dem Weg über den Indischen Ozean nach Ägypten. Indische Soldaten waren auf dem Persischen Golf unterwegs nach Mesopotamien oder fuhren am Jemen vorbei ebenfalls nach Ägypten. Osmanische Soldaten sammelten sich in Ostanatolien und Syrien, um gegen russische Stellungen im Kaukasus und die Briten in Ägypten vorgehen zu können. Europas Krieg war im Nahen Osten angekommen.