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VORWORT

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Der Obergefreite John McDonald fiel am 28. Juni 1915 auf Gallipoli. Er wurde 19 Jahre alt und war, ohne es zu wissen, mein Großonkel. Nichts in seinem Leben hatte John McDonald auf diesen Tod in einem weit entfernten Land vorbereitet. Er stammte aus einem kleinen schottischen Dorf in der Nähe von Perth und ging auf das Dollar-Academy-Internat, wo er Charles Beveridge kennenlernte, der sein bester Freund werden sollte. Im Alter von 14 Jahren verließen die beiden die Schule, um sich Arbeit zu suchen: Sie zogen nach Glasgow und fanden eine Anstellung bei der North British Locomotive Company. Als im Sommer 1914 in Europa der Krieg ausbrach, schlossen sich Beveridge und McDonald gemeinsam den Scottish Rifles an (die auch als Cameronians bekannt sind). Die ungeduldigen Rekruten der 8th Scottish Rifles erhielten in den folgenden Monaten ihre Ausbildung und waren neidisch auf jene Bataillone, die schon vor ihnen nach Frankreich in die Schlacht ziehen durften. Erst im April 1915 wurde das 1/8th Battalion zum Dienst gerufen – allerdings nicht nach Frankreich, sondern zum Kampf gegen das Osmanische Reich.

McDonald und Beveridge verabschiedeten sich am 17. Mai 1915 von ihren Freunden und Familien und brachen in den Krieg auf. Per Schiff gelangten sie auf die griechische Insel Limnos, die britischen und alliierten Truppen als Stützpunkt für den Angriff auf Gallipoli diente. Als die Freunde am 29. Mai in den Hafen von Moudros einfuhren – einen Monat nachdem mit der Landung auf Gallipoli begonnen worden war –, passierten sie eine riesige Armada von Kriegs- und Transportschiffen, die dort vor Anker lag. Die jungen Rekruten dürften ehrfürchtig die Dreadnoughts und Super-Dreadnoughts bestaunt haben – einige der damals größten Schiffe weltweit. Viele zeigten Spuren des heftigen Kampfs um die Dardanellen, da die Schiffsrümpfe und Schornsteine von türkischer Artillerie getroffen worden waren.

Die Schotten bekamen zwei Wochen Zeit, um sich an den Sommer im östlichen Mittelmeer zu gewöhnen, und zogen dann in die Schlacht. Mitte Juni fuhren sie unter dem Jubel der Soldaten und Matrosen auf den noch nicht zum Einsatz befohlenen Schiffen aus Moudros ab. Nur jene, die schon auf Gallipoli gewesen waren und daher wussten, was auf die unschuldig dreinblickenden jungen Rekruten wartete, hielten ihre Begeisterung im Zaum. Ein Cameronian erinnerte sich: „Wir riefen zu einem Schiff voller kranker und verwundeter Australier hinüber: ‚Sind wir deswegen entmutigt? Nein!‘, als ein australischer Witzbold brüllend antwortete: ‚Nun, dann seid ihr es aber in Kürze.‘ Auch wenn unsere Jungs von dieser Antwort ein wenig verblüfft waren, so zeigten sie sich doch nicht von ihr überzeugt.“1

Am 14. Juni war das gesamte Bataillon sicher an Land. Vier Tage später rückten die 8th Scottish Rifles eine steile Klamm namens Gully Ravine zur Front hinauf. Durch das nie nachlassende Maschinengewehr- und Artilleriefeuer, für das Gallipoli bereits berüchtigt war, erlitten die Cameronians schon in den Schützengräben erste Verluste. Als den Scottish Rifles der Befehl zum Angriff auf die türkischen Stellungen erteilt wurde, hatten sie ihren jungenhaften Enthusiasmus bereits verloren. Ein Offizier hielt später fest: „Ob es eine Vorahnung war oder nur die Belastung durch die erst kurz zuvor übertragene Verantwortung, ich konnte jedenfalls [unter den Soldaten] keine Siegesgewissheit spüren.“2

Dem britischen Angriff vom 28. Juni war ein zweistündiger Beschuss durch Schiffskanonen vorausgegangen. Augenzeugen bezeichneten die Bombardierung als unwirksam – das Feuer war bei Weitem nicht ausreichend, um die entschlossenen osmanischen Soldaten aus ihren Verteidigungsstellungen zu vertreiben. Der britische Angriff begann wie geplant um 11 Uhr. Wie an der Westfront kletterten die Männer auf das schrille Pfeifsignal hin aus ihren Gräben. Als die Cameronians hinaufgestiegen waren, empfing sie das volle Feuer der osmanischen Soldaten, die, unbeeindruckt vom Bombardement der britischen Schiffe, in ihren Stellungen verharrten. Innerhalb von nur fünf Minuten waren die 1/8th Scottish Rifles praktisch ausgelöscht. John McDonald starb an seinen Verwundungen im Krankenlager vor Ort und wurde auf dem Lancashire Landing Cemetery beigesetzt. Charles Beveridge starb außerhalb der Reichweite der Krankenträger. Seine Überreste konnten erst nach dem Friedensschluss von 1918 geborgen werden, als seine Knochen bereits nicht mehr von denen der Männer zu unterscheiden waren, die neben ihm zu Tode gekommen waren. Er liegt in einem Massengrab; sein Name wurde in das große Mahnmal am Kap Helles eingraviert.

Das Schicksal der beiden Cameronians brachte Schrecken und Trauer über ihre Freunde und Familien in Schottland. Die Dollar Academy veröffentliche in der Herbstausgabe ihrer Vierteljahreszeitschrift Nachrufe auf John McDonald und Charles Beveridge. Die Zeitschrift beschrieb die beiden jungen Männer als allerbeste Freunde: „Sie arbeiteten zusammen, sie lebten in den gleichen Zimmern, meldeten sich zusammen bei der Armee und ‚in ihrem Tod waren sie nicht getrennt‘.“ Der Nachruf endete mit den Worten: „Beide waren sie junge Männer von herausragendem Charakter und der Positionen, die sie einnahmen, würdig.“ Auch den trauernden Eltern sprach man Mitgefühl aus.

Der Schmerz war größer, als dass ihn meine Urgroßeltern hätten schultern können. Nur ein Jahr nach dem Tod ihres einzigen Sohnes wagten die McDonalds den außergewöhnlichen Schritt und verließen noch während des Krieges Schottland, um sich in den Vereinigten Staaten niederzulassen. Im Juli 1916 – die deutschen U-Boot-Angriffe auf die Atlantik-Schifffahrt waren gerade unterbrochen – nahmen sie zusammen mit ihren beiden Töchtern ein Schiff mit dem für sie ergreifenden Namen SS Cameronia und reisten nach New York. Sie kehrten nie nach Europa zurück. Schlussendlich landete die Familie in Oregon, wo meine Großmutter mütterlicherseits später heiratete und meine Mutter und meinen Onkel zur Welt brachte. Sie und all ihre Nachfahren verdanken ihr Leben dem verfrühten Tod von John McDonald.

Meine persönliche Verbindung zum Ersten Weltkrieg ist alles andere als einzigartig. Eine 2013 im Vereinigten Königreich durchgeführte Umfrage der YouGov-Agentur fand heraus, dass 46 Prozent aller Briten ein Familienmitglied hatten oder in ihrem unmittelbaren Umfeld eine Person kannten, die im Ersten Weltkrieg gedient hatte. Solche persönlichen Verbindungen erklären auch noch mehr als ein Jahrhundert nach seinem Ausbruch die anhaltende Faszination für diesen Krieg. Das schiere Ausmaß der Mobilisierung und das Gemetzel trafen in den Ländern, die von dem Konflikt betroffen waren, so gut wie jede Familie.3

Ich erfuhr von der Geschichte meines Großonkels, als ich mich 2005 auf eine Reise nach Gallipoli vorbereitete. Meine Mutter Margaret, mein Sohn Richard und ich, die Vertreter dreier Generationen, brachen zu den Kriegsgräbern auf, um unseren Respekt zu bezeugen, und waren damit seit 90 Jahren die ersten Familienangehörigen, die John besuchten. Als wir über die gewundenen Straßen der Halbinsel Gallipoli zum Lancashire Landing Cemetery fuhren, bogen wir an einer Stelle falsch ab und landeten beim Nuri-Yamut-Denkmal, das an die türkischen Kriegstoten des 28. Juni erinnert – an genau jene Schlacht, in der John McDonald und Charles Beveridge ums Leben kamen.

Das Denkmal für die türkischen Gefallenen der Schlacht um Gully Ravine, auf Türkisch Zığındere, war eine absolute Entdeckung für mich. Während die Einheit meines Großonkels etwa 1400 Männer verlor – etwa die Hälfte all ihrer Soldaten – und die britischen Verluste insgesamt rund 3800 Soldaten betrugen, kamen bis zu 14 000 Osmanen bei diesen Kämpefen ums Leben. Das Nuri-Yamut-Denkmal ist das Massengrab für all diese osmanischen Soldaten, die unter einer schlichten Marmorgrabplatte mit der einfachen Aufschrift „Şehidlik 1915“ („Märtyrertod 1915“) beerdigt wurden. Alle Bücher, die ich über die Cameronians gelesen hatte, behandelten die furchtbare Verschwendung von britischem Leben an dem Tag, an dem auch mein Großonkel starb. Keine der englischen Quellen hatte die Tausenden türkischen Toten auch nur erwähnt. Es war ernüchternd, zu erkennen, dass die Zahl der trauernden türkischen Familien die Zahl jener, die in Schottland weinten, deutlich überstieg.

Ich reiste von Gallipoli mit der Erkenntnis ab, wie wenig wir im Westen über die türkischen und arabischen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg wissen. Die Unmenge der auf Englisch publizierten Bücher über die verschiedenen Fronten im Nahen Osten betrachteten ausschließlich britische oder alliierte Erlebnisse. Gallipoli galt als „Churchills Debakel“; Kut al-Amara war die „Kapitulation von Townshend“; der Aufstand der Araber wurde von „Lawrence von Arabien“ angeführt; es ging um „Maudes Einzug“ in Bagdad und „Allenbys Eroberung“ von Jerusalem. Sozialhistoriker, die sich der Umkehrung der offiziellen Geschichtsbetrachtung, die immer von oben nach unten verlief, verschrieben hatten, erforschten die Erfahrungen der einfachen Soldaten. Sie lasen die Tagebücher und Briefe, die in den Archiven der privaten Unterlagen des Londoner Imperial War Museum, im Australian War Memorial in Canberra oder in der Alexander Turnbull Library in Wellington zu finden sind. Nach einem Jahrhundert der Forschung verfügen wir über ein umfassendes Wissen über die alliierte Seite der Schützengräben. Doch wir haben gerade erst begonnen, uns auch die andere Seite anzuschauen – die Erfahrungen der osmanischen Soldaten, die sich in einem verzweifelten Überlebenskampf gegen mächtige Invasoren befunden hatten.

Es ist recht schwer, sich der osmanischen Front von der türkischen Seite der Schützengräben aus zu nähern. Auch wenn es Dutzende auf Türkisch oder Arabisch veröffentlichte Tagebücher und Autobiografien gibt, so verfügen nur wenige Wissenschaftler im Westen über die Sprachkenntnisse, diese auch zu lesen, und nur ein Bruchteil der veröffentlichten Primärquellen liegt in Übersetzungen vor. An Archivmaterialien zu gelangen scheint noch schwieriger. Das Türkische Archiv für militärische und strategische Studien in Ankara (Askeri Tarih ve Stratejic Etüt Başkanlığı Arşivi, kurz ATASE) besitzt die größte Sammlung an Primärmaterialien aus dem Ersten Weltkrieg im Nahen Osten. Doch der Zugang zum ATASE wird streng überwacht, und Forscher benötigen hierfür eine Sicherheitsfreigabe, deren Erteilung Monate dauern kann – und häufig genug verwehrt wird. Große Teile des Archivs sind für Wissenschaftler gesperrt, die zudem mit Einschränkungen beim Kopieren des Materials leben müssen. Einer Reihe türkischer und westlicher Forscher wurde dennoch Zutritt gewährt, und sie beginnen nun mit der Veröffentlichung wichtiger Analysen zu den osmanischen Erfahrungen im Weltkrieg. Andernorts im Nahen Osten wurden die Nationalarchive, sofern sie überhaupt existieren, erst deutlich nach dem Krieg gegründet und legen keinen besonderen Schwerpunkt auf den Weltkrieg.4

Die Vernachlässigung des Ersten Weltkriegs in arabischen Archiven spiegelt sich allgemein auch in den arabischen Gesellschaften wider. Anders als in der Türkei, in der das Schlachtfeld Gallipoli mit türkischen Mahnmalen übersät ist und jedes Jahr Gedenkveranstaltungen abgehalten werden, gibt es in den Städten und Dörfern der arabischen Welt keine Kriegsdenkmäler. Auch wenn so gut wie jeder moderne arabische Staat auf irgendeine Weise in den Weltkrieg hineingezogen worden ist, wird der Konflikt als ein Krieg der anderen erinnert – eine Zeit des Leidens, die dem arabischen Volk vom angeschlagenen Osmanischen Reich und dessen unbesonnener jungtürkischer Führung zugemutet wurde. In der arabischen Welt hat der Erste Weltkrieg Märtyrer hinterlassen (vor allem jene arabischen Aktivisten, die auf den zentralen Plätzen in Beirut und Damaskus gehängt wurden, welche man in beiden Städten später in „Märtyrerplatz“ umbenannte), aber keine Helden.

Es wird Zeit, die osmanische Front an die richtige Stelle zu rücken und zwar sowohl in der Geschichte des Ersten Weltkriegs als auch in der des Nahen Ostens. Denn der Kriegseintritt der Osmanen hat mehr als jedes andere Ereignis dafür gesorgt, dass der europäische Konflikt zu einem Weltkrieg wurde. Im Gegensatz zu den kleineren Auseinandersetzungen im Fernen Osten oder Ostafrika wurden im Nahen Osten über die gesamten vier Jahre des Krieges hinweg große Schlachten geschlagen. Darüber hinaus waren die Schlachtfelder des Nahen Ostens häufig die internationalsten des Krieges: Australier und Neuseeländer, alle Völker aus Südasien, Nordafrikaner, Senegalesen und Sudanesen machten gemeinsame Sache mit Franzosen, Engländern, Walisern, Schotten und Iren gegen türkische, arabische, kurdische, armenische und tscherkessische Soldaten in der osmanischen Armee und ihre deutschen und österreichischen Verbündeten. Die osmanische Front war ein veritabler Turmbau zu Babel, ein so noch nie dagewesener Konflikt zwischen internationalen Armeen.

Die meisten Kriegsplaner aufseiten der Entente hielten die Kämpfe im Osmanischen Reich für einen Nebenschauplatz, für kaum so bedeutend wie die Kriegsereignisse an der West- und Ostfront. Einflussreiche Briten wie Horatio Herbert Kitchener und Winston Churchill sprachen sich nur deshalb für einen Krieg gegen die Türken aus, da sie fälschlicherweise davon ausgingen, dies würde den Alliierten einen schnellen Sieg über die Mittelmächte bescheren und damit das Ende des Krieges beschleunigen. Dabei unterschätzten die Alliierten ihren Gegner und fanden sich bald in große Kriegszüge verwickelt – im Kaukasus, an den Dardanellen, in Mesopotamien und Palästina –, die Hunderttausende Männer von der Westfront abzogen und den Weltkrieg damit nur verlängerten.

Das alliierte Versagen an der osmanischen Front löste schwere politische Krisen in der Heimat aus. Die fehlgeschlagene Gallipolioffensive zwang den liberalen britischen Premierminister Herbert Henry Asquith im Mai 1915 in eine Koalitionsregierung mit den Konservativen und trug zu Asquiths Sturz im darauffolgenden Jahr bei. Die britischen Niederlagen auf Gallipoli und in Mesopotamien führten zu zwei separaten Untersuchungsausschüssen im britischen Parlament, deren Ergebnisse gleichermaßen vernichtend über die politischen wie militärischen Entscheider ausfielen.

Nicht nur dass die Osmanen den europäischen Konflikt zu einem Weltkrieg werden ließen, der Weltkrieg formte auch den modernen Nahen Osten. Kein Teil dieser Region blieb von den Verwüstungen verschont. Aus der gesamten Türkei und den arabischen Provinzen des Osmanischen Reichs sowie aus jedem Kolonialstaat in Nordafrika wurden Männer rekrutiert. Auch die Zivilisten litten unter dem wirtschaftlichen Niedergang und den mit dem Krieg einhergehenden Epidemien. Gekämpft wurde auf den Gebieten der heutigen Staaten Ägypten, Jemen, Saudi-Arabien, Jordanien, Israel und Palästina, Syrien, Libanon, Irak, Türkei und Iran. Die Mehrzahl dieser Länder entwickelte eine Eigenstaatlichkeit als direkte Folge des Untergangs des Osmanischen Reichs, der mit dem Ausgang des Ersten Weltkriegs besiegelt war.

Der Untergang des Osmanischen Reichs war ein epochales Ereignis. Mehr als sechs Jahrhunderte lang beherrschten die Osmanen das größte islamische Reich der Welt. Gegründet am Ende des 13. Jahrhunderts durch Stämme aus Zentralasien, erwies sich das osmanische Sultanat als jene Dynastie, die Byzanz sowohl in Kleinasien als auch auf dem Balkan herausfordern sollte. Mit der Eroberung der byzantinischen Hauptstadt Konstantinopel 1453 durch Sultan Mehmed II. waren die Osmanen zur bedeutendsten Macht im Mittelmeerraum aufgestiegen.

Mit Konstantinopel (später in Istanbul umbenannt) als ihrer Hauptstadt dehnten die Osmanen ihre Eroberungen rasch weiter aus. 1516 besiegte Selim I. das in Kairo ansässige Mamlukenreich und fügte Syrien, Ägypten und die Provinz Hedschas am Roten Meer dem osmanischen Besitz hinzu. 1529 war es dann Sultan Süleyman I. der Prächtige, der vor den Toren Wiens auftauchte und in ganz Europa für Schrecken sorgte. Bis zu ihrem letzten Angriff auf Wien 1683 expandierten die Osmanen weiter. Ihr Reich erstreckte sich über drei Kontinente und umfasste den Balkan, Kleinasien (bei den Türken unter dem Namen Anatolien bekannt), das Schwarze Meer und die meisten arabischen Länder vom Irak bis an die Grenze Marokkos.

In den folgenden zwei Jahrhunderten wurden die Osmanen von der Dynamik Europas überrollt. Sie begannen, Kriege gegen ihre Nachbarn zu verlieren – gegen das Russische Reich unter Katharina der Großen und gegen die habsburgischen Kaiser, deren Hauptstadt Wien sie ehemals bedroht hatten. Seit 1699 wurde das osmanische Territorium durch äußeren Druck kleiner. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts verloren die Osmanen nach und nach Gebiete an neue nationalistische Bewegungen, die in ihren Balkanprovinzen auftauchten. Griechenland griff als Erstes nach der Unabhängigkeit, nachdem es acht Jahre gegen Istanbuls Vorherrschaft angekämpft hatte (1821–1829). Rumänien, Serbien und Montenegro sicherten sich 1878 ihre Unabhängigkeit, wohingegen Bosnien, die Herzegowina und Bulgarien sich zur selben Zeit mehr Autonomie verschaffen konnten.

Die europäischen Großmächte streckten weiterhin die Hände nach osmanischem Gebiet aus, so beanspruchte Großbritannien zwischen 1878 und 1882 Zypern und Ägypten, Frankreich besetzte 1881 Tunesien und Russland annektierte 1878 drei Gebiete im osmanischen Kaukasus. Da es gegen innere wie äußere Bedrohungen um sein Staatsgebiet kämpfen musste, sagten politische Analysten zu Beginn des 20. Jahrhunderts den unmittelbar bevorstehenden Untergang des Osmanischen Reichs voraus. Eine Gruppe junger, patriotischer Offiziere, die sich selbst die Jungtürken nannten, hielt dagegen die Hoffnung hoch, das Reich durch eine Verfassungsreform wiederbeleben zu können. 1908 erhoben sie sich in einem verzweifelten Versuch, ihren Staat zu retten, gegen das autoritäre Regime von Sultan Abdülhamid II. (reg. 1876–1909). Mit dem Aufstieg der Jungtürken an die Macht begann für die Osmanen eine Phase bis dato unbekannter Turbulenzen, die das Reich schlussendlich in seinen letzten und größten Krieg hineinziehen sollten.

Der Untergang des Osmanischen Reichs

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