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KAPITEL 2 DER FRIEDEN
VOR DEM WELTKRIEG

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Im Frühling 1914 gewann das Osmanische Reich neue Zuversicht. Der Sieg im Zweiten Balkankrieg und die Rückeroberung von Edirne und Ostthrakien beflügelten den nationalen Optimismus. Nach Jahren der Kriegsentbehrungen profitierte die Wirtschaft als Erste vom Frieden: Demobilisierte Soldaten kehrten auf den Arbeitsmarkt zurück, und Bauern sagten Rekordernten voraus. Sowohl in den türkischen wie auch den arabischen Provinzen boomte die Bauwirtschaft. Sobald die Seestraßen frei von Kriegsschiffen und Minen waren, nahm der Handel wieder Fahrt auf. Mit der Ausweitung des internationalen Handels hielten moderne Erfindungen Einzug, die nun nicht mehr militärischen, sondern zivilen Zwecken dienten.

Die Ankunft des Automobils beendete die Ruhe auf Istanbuls Straßen. Bis 1908 waren Autos im Osmanischen Reich verboten gewesen. Als sie im Zuge der jungtürkischen Revolution schließlich zugelassen wurden, trafen die Pioniere der Motorisierung auf vielerlei Hindernisse. Im Großen und Ganzen waren die Straßen des Reichs ungepflastert. Werkstätten für Reparaturen und Tankstellen waren selten und lagen weit auseinander. Und es gab keine Straßenverkehrsordnung, sodass die Autofahrer schon über grundlegende Dinge in Streit gerieten, wie etwa die Frage, auf welcher Seite der Straße man zu fahren habe. Es überrascht daher nicht, dass seit 1908 zunächst nur wenige Autos im Osmanischen Reich verkauft wurden. Ende 1913, als bereits eine Million Fahrzeuge auf den Straßen der Vereinigten Staaten von Amerika unterwegs waren, schätzten Mitarbeiter der US-Botschaft in Istanbul, dass es nicht mehr als 500 Automobile im gesamten Land gab – und davon allein 250 in der Hauptstadt. In einer abgelegenen Provinzstadt wie Bagdad konnte man die Anzahl der Autos wortwörtlich an einer Hand abzählen. Doch Mitte 1914 erlebte Istanbul die ersten Verkehrsstaus, als „Limousinen, Tourenwagen, Motorlastwagen, benzinbetriebene Lieferwagen und Krankenwagen“ um den verfügbaren Platz konkurrierten.1

Zur Zeit der Jungtürken tauchten auch die ersten Flugzeuge auf. Dabei steckte die Luftfahrt noch in den Kinderschuhen: Den Brüdern Wright war im Dezember 1903 der erste erfolgreiche Flug mit einem motorisierten Luftfahrzeug gelungen. Sechs Jahre später kam der Luftfahrtpionier Louis Blériot nach Istanbul, um das Wunder des Fliegens vorzuführen. Blériot war kurz zuvor dadurch berühmt geworden, dass er am 26. Juli 1909 als erster Mensch mit seinem Eindecker über den Ärmelkanal geflogen war. Sein Besuch in Istanbul war sehnlichst erwartet worden. Vor Ort ließen starke Winde Blériots Flugzeug allerdings in das Dach eines Istanbuler Hauses stürzen, und der Pilot verbrachte die folgenden drei Wochen in einem örtlichen Krankenhaus, um sich von seinen Verletzungen zu erholen.2

1911 schickte man die ersten türkischen Piloten zur Ausbildung nach Europa. Ab 1914 begannen türkische Flieger, den Himmel über dem Osmanischen Reich zu erobern. Im Februar startete Hauptmann Fethi Bey, begleitet von einem Mitarbeiter Enver Paschas, Sadık Bey, einen Flugversuch von Istanbul über Anatolien und Syrien bis nach Ägypten. Ihr Flugzeug, ein von Blériot entwickeltes Modell, trug den Namen Muavenet-i Milliye (Nationale Unterstützung) und legte den rund 40 Kilometer langen Flug von Tarsus nach Adana in 20 Minuten zurück, wobei es auf eine Höchstgeschwindigkeit von fast 100 Stundenkilometern kam. Zuschauer applaudierten, als die Maschine über ihre Köpfe hinwegflog. Fethi Bey und Sadık Bey erreichten Damaskus, doch auf dem Weiterflug nach Jerusalem kam es zu Motorproblemen, und die beiden Männer starben beim Absturz östlich des Sees Genezareth. Die beiden ersten gefallenen türkischen Militärpiloten wurden neben Sultan Saladins Grab in der Umayyaden-Moschee von Damaskus beigesetzt. Eine zweite Flugmission scheiterte auf ähnliche Weise, bis es den beiden Piloten Salim Bey und Kemal Bey im Mai 1914 schließlich gelang, die komplette Strecke von Istanbul nach Ägypten zurückzulegen.3

Im Juni 1914 führte der amerikanische Pilot John Cooper vor Tausenden Zuschauern das Curtiss-Flugboot in Istanbul vor. Er startete mit dem Wasserflugzeug vom Marmarameer und flog 24 Kilometer in einer Höhe von 1000 Fuß (etwa 300 Meter), bevor er im Bosporus zwischen den europäischen und asiatischen Stadtteilen Istanbuls landete. Mitglieder der Regierung, des Parlaments und des Herrscherhauses verfolgten die Flugvorführung. Anschließend absolvierte Cooper sieben Flüge mit hohen Würdenträgern auf dem Passagiersitz „unter dem Applaus und der Bewunderung der Zuschauer, wobei für die meisten diese Art von Flugzeug eine gänzliche Neuheit war“, wie ein Augenzeuge berichtete. Alle großen Istanbuler Zeitungen brachten am folgenden Tag Artikel und Fotos des Ereignisses.4

Die Zunahme von motorisiertem Transport steigerte im Frühling 1914 zusätzlich den Optimismus im Osmanischen Reich. Die Regierung vereinbarte im Mai einen 100-Millionen-Dollar-Kredit mit Frankreich und sicherte sich damit die Finanzierung großer öffentlicher Bauvorhaben, die Elektrizität, Straßenbeleuchtung, Straßenbahnen, Überlandverbindungen und moderne Hafenanlagen in alle Provinzen des Landes bringen sollten. Die Verkündung des französischen Kredits führte zu weitverbreiteter Hoffnung auf einen wirtschaftlichen und industriellen Aufschwung.

Die französischen Geldmittel bildeten den Höhepunkt von Friedensverhandlungen, mit denen die europäischen Mächte die noch offenen Differenzen zwischen dem Osmanischen Reich und seinen Nachbarn nach den Balkankriegen klären wollten. Die französische Finanzspritze versprach echtes ökonomisches Wachstum und diente als kräftiger Anreiz, sich mit dem Verlust von Albanien, Makedonien und Thrakien abzufinden. Doch selbst nachdem die Friedensverträge unterschrieben und der Kredit bewilligt waren, blieben zwischen Istanbul und Athen noch wichtige Fragen ungeklärt.

Im Londoner Friedensvertrag, mit dem 1913 der Erste Balkankrieg beendet wurde, fielen drei ägäische Inseln an Griechenland. Chios und Lesbos, die die Einfahrt nach Smyrna (dem heutigen Izmir) kontrollierten, waren vom türkischen Festland aus mit bloßem Auge zu sehen. Limnos mit seinem Tiefwasserhafen Moudros liegt nicht einmal 80 Kilometer von der Meerenge der Dardanellen entfernt. Die Hohe Pforte akzeptierte den Verlust dieser Inseln nie und war nicht bereit, mit der griechischen Dominanz in ihren Küstengewässern zu leben. Während ihre Diplomaten um europäische Unterstützung für die Pläne der Regierung warben, die Ägäisinseln zurückzuerhalten, machten sich Militärs daran, das Ungleichgewicht der Seestreitkräfte im östlichen Mittelmeer zu ihren Gunsten zu verändern.

Die Regierung bestellte im August 1911 zwei moderne Großkampfschiffe vom britischen Rüstungshersteller Vickers Ltd., die im Juli 1914 geliefert werden sollten. Die Aufträge waren Teil einer britischen Marinemission, die bei der Modernisierung der Flotte helfen sollte. Der Kauf der Sultan Osman und der Reşadiye, benannt nach dem gleichnamigen Gründer des Osmanischen Reichs beziehungsweise nach dem derzeitigen Sultan Mehmed V. Reşad, rissen tiefe Löcher in die Staatskasse. Indem sie auf den Patriotismus ihrer Landleute setzte, finanzierte die Regierung die Schiffe zu großen Teilen über öffentliche Beiträge: Türkische Schulkinder forderte man auf, ihr Taschengeld zu spenden, und auf öffentlichen Plätzen wurden Stände aufgebaut, an denen loyale Untertanen für einen Betrag von fünf Piaster oder mehr eingeladen wurden, Nägel in massive Holzblöcke zu hämmern. Die Schiffe waren der ganze Stolz der Nation und halfen, die Marine des Reichs nach den Niederlagen in Libyen und dem Ersten Balkankrieg wiederaufzubauen. Griechenland und Russland hingegen betrachteten die Entwicklung mit wachsender Sorge, vor allem als die Kampfschiffe im Frühling 1914 kurz vor ihrer Fertigstellung standen. Die riesigen Schiffe würden der türkischen Marine die deutliche Überlegenheit über die russische Schwarzmeerflotte und die griechische Marine in der Ägäis sichern.

Der Streit um die Ägäisinseln und die bevorstehende Auslieferung der Dreadnoughts steigerten 1914 die Gefahr eines Krieges zwischen Griechenland und der Türkei. Funktionäre in Griechenland forderten einen Präventivschlag, um die Osmanen zu besiegen, bevor sie die neuen Kriegsschiffe einsetzen konnten. Die Osmanen wiederum bereiteten sich erneut darauf vor, ihre Untertanen zum Kriegsdienst heranzuziehen, weshalb sie im April 1914 an die Dorfvorsteher im Reich Warnungen verschickten, es könne zu einer Mobilmachung kommen. Da darin die Treue zum Islam beschworen wurde, breiteten sich Gerüchte aus, ein Krieg gegen das christliche Griechenland stehe bevor.5

Die Aussicht auf einen erneuten Krieg zwischen Griechenland und der Türkei ließ in Sankt Petersburg die Alarmglocken läuten. Auch wenn die Russen nicht weniger besorgt waren über das Kräfteverhältnis zur See als die Griechen, so lag ihnen doch vor allem daran, dass die osmanischen Gewässer für den russischen Schwarzmeerhandel geöffnet blieben: 50 Prozent der russischen Exporte und damit 90 Prozent der russischen Getreideausfuhren verliefen durch die türkischen Meerengen. Ein erneuter Krieg in der Ägäis würde zur Schließung der Seewege führen und damit den russischen Handel behindern, mit katastrophalen Auswirkungen für die russische Wirtschaft. Folglich übte Russland diplomatischen Druck auf Griechenland aus, um einen Krieg mit der Türkei zu vermeiden, während es zugleich Großbritannien zur verzögerten Auslieferung der Schiffe an die osmanische Marine zu bewegen versuchte.6

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Der russischen Diplomatie lagen noch weitere Motive zugrunde. Überzeugt davon, dass der Untergang des Osmanischen Reichs unmittelbar bevorstehe, wollten der Zar und seine Regierung ihre Ansprüche auf Gebiete mit hohem strategischem Wert für Russland untermauern, für den Fall, dass es in der Zukunft zu einer Aufteilung des osmanischen Staatsgebiets durch die europäischen Mächte kommen sollte. Zu Russlands wichtigsten Zielen gehörten der Anspruch auf die Rückgewinnung Konstantinopels für die orthodoxe Christenheit, nachdem die Stadt fast 500 Jahre lang unter türkisch-muslimischer Herrschaft gestanden hatte, sowie auf die Kontrolle der Meerengen, die das russische Schwarze Meer mit den Häfen im Mittelmeer verband. Sankt Petersburg zeigte sich daher entschlossen, jeden Krieg zu verhindern, der zur Verteilung von Gebieten an Griechenland oder Bulgarien führen könnte, die Russland beanspruchte. Der russische Ministerrat traf sich im Februar 1914, um über eine Besetzung Konstantinopels und der Meerengen zu beraten, und kam dabei überein, dass sich die beste Gelegenheit dazu im Kontext eines allgemeinen europäischen Krieges ergeben würde. Zar Nikolaus II. genehmigte die Empfehlungen seines Kabinetts im April 1914 und trug seiner Regierung auf, alle notwendigen Anstrengungen zu unternehmen, um bei der ersten sich bietenden Gelegenheit Istanbul und die Meerengen zu erobern.7

Neben den Plänen zur Annexion der osmanischen Hauptstadt entwickelten die Russen auch Vorschläge, ihre Position in Ostanatolien zu sichern. Die östlichen Ausläufer des Osmanischen Reichs hatten eine gemeinsame Grenze mit den instabilen russischen Kaukasusprovinzen und bildeten den Zugang zum Nordwestiran, wo sich Russland und Großbritannien argwöhnisch gegenüberstanden. Ostanatolien umfasste auch jene sechs Provinzen, die die europäischen Mächte als von den Armeniern bewohnte Gebiete identifiziert hatten: Erzurum, Van, Bitlis, Diyarbakır, Marmuretül-Aziz und Sivas. Etwa 1,25 Millionen Armenier lebten auf der russischen Seite der Grenze, rund eine Million in den sechs osmanischen Provinzen Ostanatoliens, die von der internationalen Gemeinschaft als Türkisch-Armenien anerkannt waren. Die Regierung des Zaren hatte seit 1878 die Verteidigung der Rechte der dort lebenden Armenier als Grund für die Einmischung in osmanische Angelegenheiten vorgeschoben. Diese russischen Ambitionen auf osmanisches Gebiet verstärkten die Spannungen zwischen Osmanen und Armeniern.8

Insbesondere in den Jahren nach der jungtürkischen Revolution waren zwischen Armeniern und Kurden bestehende Spannungen neu aufgeflammt. Einige Armenier, die aufgrund der Gewalttaten in den 1890er-Jahren geflohen waren, bemühten sich nach der Revolution von 1908 um die Rückerstattung ihrer Häuser. Manche kurdischen Stammesangehörige weigerten sich, die Ansprüche der früheren Besitzer anzuerkennen. Und schon 1909 führten diese Landstreitigkeiten zwischen Armeniern und Kurden zu Gewaltausbrüchen, bei denen die Kurden die Oberhand behielten. Die nomadischen Kurden waren deutlich besser bewaffnet als die sesshaften Armenier, und osmanische Funktionäre standen naturgemäß auf der Seite der Kurden und ergriffen nur selten Partei für die christlichen Armenier. Die Situation verschärfte sich, als osmanische Truppen aus Ostanatolien abgezogen und in die Kriege um Libyen und den Balkan entsandt wurden und man armenische Wehrpflichtige 1912 an die Balkanfront schickte. So mussten sich armenische Bauern ganz alleine gegen die Kurden wehren, während der Konflikt weiter an Brisanz zunahm.9

Russland nutzte das Machtvakuum im Juni 1913 und schlug Reformen für eine größere armenische Autonomie in Ostanatolien vor. Unter Berufung auf das Reformedikt Sultan Abdülhamids für die Armenier aus dem Jahre 1895 riefen die Russen zur Bildung zweier halbautonomer Provinzen auf, die aus den sechs östlichen Provinzen des Osmanischen Reichs bestehen und von ausländischen, von den Großmächten ernannten Generalgouverneuren regiert werden sollten. Der Vorschlag sah zudem Provinzräte vor, die aus ebenso vielen Muslimen wie Armeniern bestehen sollten. Europäische und osmanische Diplomaten hegten starke Bedenken, dass dies nur das Vorspiel zu einer Aufteilung Anatoliens sein könnte, wobei Russland Anspruch auf die östlichen Provinzen erheben würde. Sankt Petersburg untermauerte daraufhin seine diplomatischen Vorstöße durch einen Vorschlag zur Truppenstationierung entlang der russisch-türkischen Grenze und innerhalb des osmanischen Territoriums in der Stadt Erzurum – vorgeblich zur Verteidigung der Armenier. Um der Militarisierung der Situation zuvorzukommen, stimmte die Hohe Pforte einem überarbeiteten Reformvorschlag der Russen zu, der am 8. Februar 1914 unterzeichnet wurde.

Der Reformvorschlag zur Armenier-Frage schob den Konflikt mit Russland allerdings nur auf und verschärfte schlussendlich sogar die jungtürkischen Schwierigkeiten mit den Armeniern. Denn die Regierung in Istanbul verstand den Reformplan als Auftakt zu einer armenischen Staatenbildung und damit als existenzielle Bedrohung. Die Jungtürken zeigten sich entschlossen, die Umsetzung dieser Pläne auf jeden Fall zu verhindern. Talât Pascha, Innenminister und Mitglied des herrschenden Triumvirats, entwickelte ungewöhnliche Pläne, um die Armenier aus den sechs Provinzen zu vertreiben und damit solche Reformen überflüssig werden zu lassen.10

Die Verhandlungen zwischen der jungtürkischen Regierung und den Russen ließen erkennen, wie sehr das Osmanische Reich auf der internationalen Bühne isoliert worden war. Die Hohe Pforte war sich der Gefahr, die Russland für die territoriale Integrität des Reichs darstellte, nur allzu bewusst. Doch während sich die Osmanen normalerweise auf Großbritannien oder Frankreich verlassen konnten, um Russlands Ambitionen zurückzuweisen, waren diese drei Mächte inzwischen in der Triple Entente verbündet. Weder Großbritannien noch Frankreich waren nun bereit, sich für die Osmanen einzusetzen. In derart gefährlichen Zeiten brauchte das Osmanische Reich jedoch einen starken Freund. Der naheliegendste Kandidat war das Deutsche Reich.

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Die Wurzeln der deutsch-osmanischen Freundschaft reichten tief. 1898 hatte Kaiser Wilhelm II. dem Osmanischen Reich einen Staatsbesuch abgestattet. Von Istanbul aus reiste er durch die türkischen und arabischen Provinzen und besuchte wichtige Städte und historische Orte. In Damaskus versprach der Kaiser mit berühmt gewordenen Worten insbesondere den Osmanen, aber auch den Muslimen weltweit Deutschlands ewige Freundschaft: „Möge der Sultan und mögen die 300 Millionen Mohammedaner, die, auf der Erde zerstreut lebend, in ihm ihren Kalifen verehren, dessen versichert sein, dass zu allen Zeiten der deutsche Kaiser ihr Freund sein wird!“11

Wilhelms Freundschaftsbekundung war nicht gänzlich selbstlos. Angesichts seiner Rivalität mit dem älteren, längst gefestigten British Empire erkannte der Kaiser die Gelegenheit für Deutschland, durch eine Partnerschaft mit dem Osmanischen Reich an Einfluss zu gewinnen. Wilhelm glaubte, die Freundschaft mit dem Sultan, der zudem als Kalif Schutzherr der muslimischen Religion war, würde Deutschland bei den Muslimen auf der ganzen Welt deutlich beliebter werden lassen als jede andere europäische Macht. Bei über 100 Millionen Muslimen unter britischer Herrschaft in Indien, am Persischen Golf und Ägypten erkannte Deutschland das Potenzial, den Islam als Waffe gegen die Briten einsetzen zu können, sollte sich ein entsprechender Bedarf ergeben.

Zudem besetzte die Türkei eine für Deutschland geostrategisch wichtige Position. Zum Zeitpunkt des kaiserlichen Besuchs standen sich Großbritannien und Russland in einer intensiven Rivalität über die Vorherrschaft in Zentralasien gegenüber, die als „The Great Game“ (Das Große Spiel) bekannt wurde. Die türkischen Provinzen in Ostanatolien waren der Zugang sowohl nach Persien als auch nach Zentralasien. Deutschland könnte ein Mitspieler bei diesem Great Game werden und sowohl Großbritannien als auch Russland unter Druck setzen, sollte es eine Allianz mit den Osmanen eingehen.

Die Südgrenze des Osmanischen Reichs lag am Persischen Golf. Das Deutsche Reich hoffte, hier in ein von den Briten eifersüchtig bewachtes Gewässer vordringen zu können. Im 19. Jahrhundert war es Großbritannien gelungen, die Osmanen und andere europäische Mächte gleichermaßen aus dieser Region herauszuhalten: Mit exklusiven Verträgen hatte es die arabischen Herrscher der „Trucial States“ (heute Teilstaaten der Vereinigten Arabischen Emirate) sowie von Oman, Katar, Bahrain und Kuwait an die britische Krone gebunden. Nach dem kaiserlichen Besuch im Osmanischen Reich 1898 bemühte sich das Deutsche Reich, seine neue Partnerschaft mit den Türken dahingehend zu nutzen, um Großbritanniens Monopol der Herrschaft über den Persischen Golf durch eine Eisenbahnverbindung zwischen Berlin und Bagdad herauszufordern.

Im Dezember 1899 sicherte sich Deutschland die Konzession für den Bau einer Eisenbahnlinie durch die Türkei über Bagdad bis nach Basra am Persischen Golf. Die Bauarbeiten begannen 1903; 1914 verbanden die Schienen Istanbul mit Ankara und der Mittelmeerküste bei Adana. In Kilikien war man im Taurus- und Amanosgebirge (auch Nurgebirge) auf unerwartete Schwierigkeiten gestoßen und damit deutlich hinter den Zeitplan geraten. Während ein Großteil der Verbindung in Anatolien fertiggestellt war, befanden sich in Syrien und im Irak noch viele Abschnitte im Bau.12

Der erste Zug verließ den Bahnhof von Bagdad am 1. Juni 1914 ohne großes Aufheben. Die Strecke verlief rund 60 Kilometer gen Norden bis zu einem verlorenen Wüstenort namens Sumika. Unbeirrt vom fehlenden öffentlichen Interesse an dem Zug ins Nirgendwo druckte die Eisenbahngesellschaft Fahrpläne und legte sie in Ämtern, ausländischen Konsulaten, Klubs und Hotels aus. Die Arbeiten gingen zügig voran, im Oktober 1914 war die Strecke bis Samarra ausgebaut. Der Zug gen Norden verließ Bagdad einmal wöchentlich um 10 Uhr morgens und legte die 120 Kilometer lange Strecke in vier Stunden zurück, also mit einer Geschwindigkeit von etwa 30 Stundenkilometern. Der Gegenzug von Samarra nach Bagdad fuhr jeden Donnerstagmorgen um 10 Uhr los. Wenn auch der Traum einer direkten Verbindung zwischen Bagdad und Berlin noch lange keine Realität war, so half das Projekt doch dabei, das Deutsche und das Osmanische Reich während einer turbulenten Phase der europäischen Geschichte enger aneinanderzubinden.13

Die durch die Einsetzung einer deutschen Militärmission im Osmanischen Reich vertieften Beziehungen zwischen Berlin und Istanbul lösten Ende 1913 eine europäische Krise aus. Der Großwesir Said Halim Pascha hatte Kaiser Wilhelm II. um die Entsendung eines erfahrenen Generals gebeten: Dieser sollte mit einer Gruppe deutscher Offiziere der mittleren Befehlsebene die Reform und Reorganisation der osmanischen Armee beratend unterstützen. Der Kaiser nominierte den Preußen Otto Liman von Sanders, der zu diesem Zeitpunkt als Kommandeur der 22. Division des deutschen Heers in Kassel stationiert war. Er hatte einige Jahre im Generalstab gedient und war gereist, besaß jedoch keine besonderen Kenntnisse des Osmanischen Reichs. Liman nahm die Berufung, ohne zu zögern, an und fuhr Mitte Dezember 1913 mit dem Zug nach Istanbul.

Kurz nach seiner Ankunft traf er mit Sultan Mehmed V. Reşad, dem Großwesir und dem führenden Triumvirat der Jungtürken zusammen. Der deutsche General zeigte sich beeindruckt vom „Charme“ und der „gewinnenden Persönlichkeit“ des Innenministers und bemerkte, Cemal Pascha, der Befehlshaber des 1. Armeekorps, vereine „große Intelligenz mit sehr bestimmtem Auftreten“. Liman überwarf sich jedoch fast augenblicklich mit Enver Pascha. Zweifellos war Enver, Monate zuvor noch als „Befreier Edirnes“ gefeiert, verärgert darüber, dass ein deutscher Offizier über die türkische Armee urteilen durfte. Wenn auch Liman den beklagenswerten Zustand, in dem sich die osmanische Armee mit ihren zerschlissenen Uniformen, verseuchten Unterkünften sowie schlecht ernährten und unterbezahlten Soldaten befand, sehr kritisch sah, schien er diesen Mangel nicht als Envers Versagen aufzufassen. Der deutsche General glaubte vielmehr, Enver sei schneller befördert worden, als es eigentlich seiner Erfahrung und seinen Fähigkeiten entsprach. Das trat im Januar 1914 zutage, als das KEF Enver zum Kriegsminister machte. Der verblüffte Sultan Mehmed V. Reşad schien Liman aus der Seele zu sprechen, als er von der Ernennung aus der Zeitung erfuhr und sagte: „Hier steht, daß Enver Kriegsminister geworden ist; das ist doch nicht möglich, er ist noch viel zu jung dafür.“14

Die russische Regierung hatte sich von Anfang an gegen die Schaffung einer deutschen Militärmission ausgesprochen. Der Widerstand aus Sankt Petersburg entwickelte sich zu einer Krise, als Cemal Pascha Liman das Kommando über das 1. Armeekorps der osmanischen Armee übergab. Nach russischer Meinung war dies gleichbedeutend mit einer deutschen Machtübernahme über ein Gebiet, an dem Russland verstärktes Interesse hatte. Die Regierung des Zaren drohte damit, die ostanatolische Stadt Erzurum zu besetzen, um eine solche Veränderung im Mächtegleichgewicht zu verhindern.

Großbritannien und Frankreich waren entschlossen, derartige russische Vergeltungsmaßnahmen zu verhindern, hätten diese doch mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer vorzeitigen Aufspaltung des Osmanischen Reichs geführt. Doch die Briten befanden sich in einer schwierigen Lage. Schließlich leitete seit 1912 der britische Admiral Arthur Limpus eine zweiundsiebzigköpfige Marinemission im Osmanischen Reich und war zudem Oberbefehlshaber der osmanischen Marine. Anstatt die Auflösung der deutschen Militärmission anzustreben, schlugen britische Diplomaten vor, Liman könne doch das 2. Armeekorps übernehmen und damit auf die Kontrolle über die Armee in Istanbul und den Meerengen verzichten. Liman, unwillig auf politischen Druck hin seinen Auftrag abzugeben, lehnte jegliche Bemühungen ab, sein Kommando auf ein anderes Korps übertragen zu lassen. Schließlich fand der Kaiser die Lösung, bei der Liman in einen Rang befördert wurde, der für das Kommando über ein Korps zu hoch war. Liman wurde Feldmarschall und das Kommando über das 1. Armeekorps an einen osmanischen Offizier weitergegeben. Deutschland und das Osmanische Reich hatten die Krise gemeinsam bewältigt, was die beiden Staaten noch enger zusammenrücken ließ.15

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Im Sommer 1914 blickte das Osmanische Reich optimistisch auf den Wirtschaftsboom und sorgte sich gleichzeitig wegen der kriselnden Außenbeziehungen. Dieser Widerspruch wurde, auf katastrophale Art und Weise, am 28. Juni 1914 mit der Ermordung des österreichischen Kronprinzen in der bosnischen Stadt Sarajevo aufgehoben. Das Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand aktivierte ein Netz sowohl offener als auch geheimer Allianzen, die Europa in zwei feindliche Blöcke teilten. Die Tatsache, dass das Osmanische Reich außerhalb dieses trügerischen Bündnisnetzwerkes lag, konnte die Hohe Pforte nicht zufriedenstellen. Mit der aufziehenden Gefahr eines europäischen Krieges wuchsen die Befürchtungen vor einer russischen Annexion von Istanbul, den Meerengen und Ostanatolien – und damit die endgültige Aufspaltung des Osmanischen Reichs unter den Entente-Mächten. Von Frankreich war bekannt, dass es Syrien begehrte, Großbritannien hatte Interesse an Mesopotamien, und Griechenland wollte sich über die Ägäis hinaus ausdehnen. Ohne Unterstützung hatten die Osmanen keine Chance, ihr Territorium gegen so viele Feinde zu verteidigen.

Die Führung war kriegsmüde und brauchte mehr Zeit, um Militär und Wirtschaft wiederaufzubauen. Sie hatte wenig Ehrgeiz, sich in einen größeren europäischen Konflikt einzuschalten. Vielmehr suchte sie einen Verbündeten, um das verwundbare Staatsgebiet vor den Folgen eines solchen Krieges zu schützen. Die Hinwendung der Osmanen zum Deutschen Reich war keinesfalls selbstverständlich. Interessanterweise war die Hohe Pforte während der Julikrise für ein Defensivbündnis mit jeder europäischen Macht offen.

Die drei jungtürkischen Führer vertraten unterschiedliche Standpunkte, was potenzielle Verbündete anging. Enver und Talât neigten eher zu einer Allianz mit Deutschland, wohingegen Cemal der Meinung war, nur eine Entente-Macht könne die russischen Ambitionen auf osmanische Gebiete erfolgreich in Schach halten. Er selbst war frankophil, und es gab gute Gründe, sich für ein Defensivbündnis an Frankreich zu wenden: Frankreich war seit dem 100-Millionen-Dollar-Kredit im Mai 1914 der wichtigste Gläubiger der Osmanen. Sollte Frankreich ablehnen, sah Cemal in Großbritannien eine gute Alternative. Fast das gesamte 19. Jahrhundert hindurch war Großbritannien der zuverlässigste Fürsprecher der Bewahrung der territorialen Integrität des Osmanischen Reichs gewesen. In den letzten Jahren hatte Großbritannien mit der Limpus-Mission und dem Bau neuer Kriegsschiffe bei der Restrukturierung der osmanischen Marine geholfen. Seit er zum Marineminister ernannt worden war, hatte Cemal eng mit der britischen Marinemission zusammengearbeitet, deren Professionalität ihn beeindruckt hatte. Es war daher naheliegend, dass Cemal sowohl Briten als auch Franzosen als mögliche Verbündete des Osmanischen Reichs in Betracht zog.

Anfang Juli 1914, kurz nach dem Attentat in Sarajevo, besuchte Cemal auf Einladung der Regierung Frankreich und nahm an einem Marinemanöver teil. Er nutzte seine Reise nach Europa für ein Treffen mit den osmanischen Offizieren, die Kontakt zu den britischen Werften hielten, die mit dem Bau der Kriegsschiffe beauftragt waren. Die Offiziere berichteten Cemal, dass „die Engländer in einem eigentümlichen Gemütszustand sind. Sie scheinen stets nach neuen Entschuldigungen für eine verspätete Fertigstellung und Auslieferung der Kriegsschiffe zu suchen.“ Cemal wies sein Offiziere an, nach England zurückzukehren und die Schiffe baldmöglichst zu übernehmen, damit man in den Werften Istanbuls die letzten Handgriffe dann selbst übernehmen könne.16

Nachdem er die französische Flotte besichtigt hatte, kehrte Cemal Pascha nach Paris zurück und besprach sich im Außenministerium. Bei einer Unterredung mit einem leitenden Mitarbeiter kam Cemal direkt auf den Punkt: „Sie müssen uns in die Entente aufnehmen und gleichzeitig vor den furchtbaren Gefahren beschützen, die uns vonseiten Russlands drohen.“ Im Gegenzug, so versprach Cemal, würde die Türkei ein treuer Verbündeter sein, der Frankreich und Großbritannien helfen werde, „einen eisernen Ring um die Mittelmächte zu schmieden“. Der französische Diplomat erwiderte vorsichtig, dass seine Regierung nur dann mit den Osmanen ein Bündnis eingehen könne, wenn die anderen Alliierten dem zustimmten, was „sehr zweifelhaft“ sei. Cemal deutete diese Antwort als Absage. „Ich verstand einwandfrei, dass Frankreich überzeugt war, es wäre unmöglich für uns, den eisernen Klauen Russlands zu entkommen und dass es uns unter keinen Umständen seine Hilfe gewähren würde.“ Am 18. Juli verließ Cemal Paris und kehrte mit leeren Händen nach Istanbul zurück.

Am 28. Juli 1914, einen Monat nach dem Mord in Sarajevo, erklärte das Habsburgerreich Serbien den Krieg. Was als Konflikt auf dem Balkan begann, zog bald die größten Militärmächte Europas in einen totalen Krieg. Russland, durch ein Bündnis an Serbien geknüpft, bedrohte nun Österreich-Ungarn mit Krieg. Das Deutsche Reich stand seinem Partner Österreich bei, und die Alliierten Russlands, Großbritannien und Frankreich, zogen ebenfalls in die Schlacht. Am 4. August war die Triple Entente mit Deutschland und Österreich im Krieg.17

Der Kriegsausbruch in Europa löste im ganzen Osmanischen Reich Alarm aus – vom Kabinettstisch in der Hohen Pforte durch die Städte bis hin zu den ländlichen Regionen in Anatolien und den arabischen Gebieten. Die Notwendigkeit eines Defensivbündnisses, das die territoriale Integrität sichern sollte, wurde noch dringlicher. Die Jungtürken wussten aus Cemals Berichten, dass von Frankreich kein solches Bündnis zu erwarten war. Ihr Vertrauen in Großbritannien sollte bald auf ähnliche Weise enttäuscht werden.

Am 1. August, drei Tage vor seiner Kriegserklärung an Deutschland, belegte Großbritannien die vom Osmanischen Reich bestellten zwei Kriegsschiffe mit Beschlag. Cemal Pascha war über diese Nachricht äußerst bestürzt, waren doch die neuen Schiffe als Stützpfeiler der maritimen Aufrüstung eingeplant. Er erinnerte sich an seine Gespräche mit den osmanischen Marineoffizieren in Paris und erkannte, dass die wiederholten britischen Verzögerungen „nichts als ein Vorwand gewesen sind, die … den von England lang gehegten Plan verrieten, sich diese Schiffe anzueignen“. Angesichts der Tatsache, dass die Schiffe bereits vollständig bezahlt worden waren, und zwar zu einem Großteil durch öffentliche Spenden, wurde die britische Beschlagnahmung als nationale Demütigung der Türkei aufgefasst. Damit war eine britisch-osmanische Verständigung unmöglich. Bereits am nächsten Tag, dem 2. August 1914, schloss das Osmanische Reich ein geheimes Bündnisabkommen mit Deutschland.18

Die Österreicher hatten Mitte Juli 1914 als Erste vorgeschlagen, das Osmanische Reich in die Allianz der Mittelmächte aufzunehmen. Wien hoffte, Serbien isolieren und Bulgarien neutralisieren zu können, indem man zu einer Einigung mit Istanbul kam. Die Deutschen verwarfen die Idee zunächst. Sowohl der deutsche Botschafter in Istanbul, Freiherr Hans von Wangenheim, als auch General Liman von Sanders, der Chef der deutschen Militärmission, glaubten, dass die Osmanen sich eher als militärische und diplomatische Belastung herausstellen könnten. Die Türkei, so schrieb Wangenheim am 18. Juli nach Berlin, „ist zweifellos heut noch vollkommen bündnisunfähig. Sie würde ihren Verbündeten nur Lasten auferlegen[,] ohne ihnen die geringsten Vorteile bieten zu können“.19

Enver, Talât und der Großwesir Said Halim Pascha diskutierten die Angelegenheit einer deutsch-osmanischen Allianz Ende Juli mit Wangenheim. Sie warnten den Botschafter, die Osmanen könnten gezwungen sein, die Unterstützung der Entente-Mächte durch ein Bündnis mit Griechenland zu suchen, sollte Deutschland sich nicht mit ihnen einigen. Als Wangenheim dies nach Berlin meldete, entschied Kaiser Wilhelm II. zugunsten eines Pakts mit dem Osmanischen Reich. Nachdem man zwei Jahrzehnte lang die deutsch-osmanische Freundschaft gepflegt hatte, erschreckte den Kaiser die Vorstellung, die Türken in die Arme der Russen oder Franzosen zu drängen. Am 24. Juli wies Wilhelm seinen Botschafter in Istanbul an, der Anfrage der Osmanen umgehend zu entsprechen. „Eine Ablehnung oder Brüskierung wäre gleich bedeutend mit Übergang derselben an Russo-Gallien“, erklärte der Kaiser, „und unser Einfluß ist ein für alle mal dahin.“20

Am 27. Juli hatten Deutsche und Osmanen die Bedingungen für ein geheimes Verteidigungsbündnis gegen Russland ausverhandelt. Die acht Artikel des verblüffend einfachen Dokuments würden nur dann in Kraft gesetzt, sollte Russland gegen eine der beiden Seiten Feindseligkeiten beginnen – was schon zum Zeitpunkt der Unterzeichnung höchst wahrscheinlich war, zumal Deutschland am 1. August Russland den Krieg erklärte. Entscheidend war, dass das Deutsche Reich vorgab, die territoriale Integrität des Osmanischen Reichs gegen russische Ansprüche verteidigen zu wollen. Durch den Vertrag gelangte die deutsche Militärmission unter die Autorität der Regierung in Istanbul, die im Gegenzug zusagte, dass die Mission „einen effektiven Einfluss auf die allgemeine Führung der Armee“ haben werde. Das Verteidigungsbündnis sollte bis Ende 1918 gelten – mit der Aussicht auf eine Verlängerung bei beiderseitigem Einverständnis. Eine Bedingung konnte Deutschland nicht durchsetzen, dass nämlich die Osmanen bei Kriegseintritt sofort militärische Operationen gegen Russland oder die Briten in Ägypten beginnen würden, um die muslimischen Untertanen ihres Reichs zur Erhebung gegen die Entente-Mächte zu bewegen.21

Am Abend der Unterzeichnung des Pakts mit Deutschland rief Kriegsminister Enver Pascha die allgemeine Mobilmachung aus. Alle Männer zwischen 20 und 45 mussten sich registrieren, Reservisten wurden zu ihren Einheiten gerufen. Die Mobilisierung traf die Bevölkerung wie ein Schlag, doch sie bewies ihren deutschen Verbündeten, dass die Jungtürken ihre Zusagen einhalten wollten. Die Osmanen hingegen, die so ungeduldig auf ein Verteidigungsbündnis gedrängt hatten, hatten es nicht eilig, in einen Weltkrieg einzutreten.

*

Dem wirtschaftlichen Aufschwung der ersten Jahreshälfte 1914 folgte ein spektakulärer Crash im August. Da die jungen Männer zum Militärdienst einberufen wurden, fehlten Arbeiter auf den Feldern und in den Fabriken. Der einst so vielversprechende Handel brach angesichts der Befürchtung, dass alle Häfen wegen der Kämpfe geschlossen werden würden, ein. Die Quartiermeister der Armee fingen an, Lebensmittel, Vieh und Material für den Bedarf der Armee unter voller Mobilisierung zu beschlagnahmen. Türkische Familien entwarfen Pläne für den Notfall. Nach drei rasch aufeinanderfolgenden Kriegen wussten sie, wie stark ein weiterer Konflikt sich auf ihr Leben auswirken würde.

Der in Istanbul geborene Irfan Orga war 1914 erst sechs Jahre alt. Der Krieg raubte ihm all den Wohlstand, den er in seinem jungen Leben kennengelernt hatte. Einige seiner frühesten Erinnerungen waren die an hitzige Familiendebatten nach dem Kriegsausbruch in Europa. Ihm stand noch deutlich vor Augen, wie er in diesem Sommer eines Abends aus dem Bett geklettert war, um die Erwachsenen zu belauschen. „Es war sehr still, und ich konnte jedes Wort der Unterhaltung verstehen. Mein Vater schien meine Großmutter überzeugen zu wollen, unser Haus zu verkaufen!“ „Unsinn!“, gab die Großmutter zurück. „Warum sollte ein Krieg in Europa irgendeine Auswirkung auf unser Leben haben?“

Orgas Vater überraschte seine Familie, als er sie von seiner Absicht unterrichtete, nicht nur das Haus der Familie, sondern ebenfalls das Teppich-Export-Geschäft veräußern zu wollen. „Der Verkauf ist nötig, wenn wir alle überleben wollen“, erklärte er. „Es gibt so viele Schwierigkeiten, Arbeit, Export, schlechter Ruf im Ausland; nun beendet der Krieg in Europa all meine Hoffnungen auf die Märkte dort. Sollte die Türkei in den Krieg ziehen – und ich glaube, das wird sie – werde ich fortgehen müssen.“ Sein erst sechsundzwanzigjähriger Vater wusste, dass er im Falle eines Krieges eingezogen werden würde. „Es ist besser, das alles schon jetzt loszuwerden. Und wenn ich eines Tages zurückkomme – nun, mit unserem Namen ist es einfach, das Geschäft neu aufzubauen.“ Die Familie schwieg entsetzt.

„Dieses Gespräch war der erste Hinweis auf all die Veränderungen, die noch kommen sollten“, erkannte Orga. Zu gegebener Zeit wurden das Elternhaus und das Geschäft verkauft, um von dem Erlös Lebensmittel zu kaufen und Rücklagen zu bilden, die Orgas Vater für nötig hielt, um einen für die Türkei langen und zerstörerischen Krieg zu überstehen. Doch nicht einmal diese Vorsichtsmaßnahmen genügten, um die Familie vor extremer Armut zu schützen.22

Der Handel kam am 3. August zum Erliegen, nachdem die Regierung die Meerengen geschlossen hatte. Der Hafenmeister informierte alle ausländischen Regierungen, die osmanische Marine habe in den Meerengen des Bosporus und der Dardanellen Seeminen verlegt, alle Navigationslichter gelöscht und alle Signalbojen entfernt. Zwischen dem 4. August und dem 26. September organisierten die Osmanen einen Schlepperdienst, um Schiffe sicher durch die Minenfelder zu lenken. Am 27. September endeten diese Lotsenfahrten, und die Meerengen wurden für die kommerzielle Schifffahrt endgültig geschlossen. Die Auswirkungen auf den osmanischen Handel waren sofort spürbar und katastrophal, aber auch die Russen litten unter der Schließung. Da das Schwarze Meer fortan von internationalen Gewässern und Handelsplätzen abgeschnitten war, blieben Hunderte russischer Schiffe voller Getreide und anderer Waren im Schwarzen Meer eingeschlossen.23

Die deutsche Marine war die Erste, die Zugang zu den gesperrten Gebieten verlangte. Kurz nach der Kriegserklärung an Frankreich machte sich die deutsche Mittelmeerdivision gen Nordafrika auf, um den feindlichen Truppentransport von Algerien nach Frankreich zu unterbinden. Die Goeben, ein schweres Kriegsschiff, und der leichte Kreuzer Breslau beschossen am 4. August die algerischen Küstenstädte Bône (heute Annaba) und Philippeville (heute Skikda). Der Angriff forderte Menschenleben und löste an der nordafrikanischen Küste Panik aus. Die Briten, die an ebendiesem Tag dem Deutschen Reich den Krieg erklärt hatten, befahlen ihrer Mittelmeerflotte, die deutschen Schiffe zu versenken. Die britischen Schiffe erhielten bei der Verfolgung der Goeben und der Breslau in das östliche Mittelmeer Unterstützung durch die geschwächte französische Marine.

Die deutsche Admiralität hatte dem Kommandeur des Geschwaders, Konteradmiral Wilhelm Souchon (dessen französischer Nachname auf seine hugenottische Herkunft verweist), bereits befohlen, türkische Gewässer anzusteuern. In einem Gespräch mit dem deutschen Botschafter und dem Chef der Militärmission, Liman von Sanders, am 1. August in Istanbul hatte Enver Pascha ausdrücklich die Überstellung deutscher Kriegsschiffe in osmanische Gewässer gefordert, bevor das Verteidigungsbündnis mit Deutschland in Kraft treten könne. Damit wollte er den Verlust der an diesem Tag von den Briten beschlagnahmten Dreadnoughts kompensieren und das osmanisch-russische Kräfteverhältnis im Schwarzen Meer zu seinen Gunsten verändern. Botschafter Wangenheim versicherte Berlins Zusage, vor allem weil man hier erwartete, die deutschen Schiffe könnten genutzt werden, um die Türkei in den Krieg hineinzuziehen und eine neue Front mit Russland zu eröffnen.

Die Deutschen hatten also ein ausgesprochenes Interesse daran, ihre Schiffe in türkischen Hoheitsgewässern vor Anker gehen zu lassen. Sie wussten, dass ihre Schiffe den britischen und französischen unterlegen waren und dass die Goeben Probleme mit dem Kessel hatte. Im offenen Meer wären sie dem sicheren Untergang geweiht gewesen. Darüber hinaus war Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg der Meinung, bereits die Anwesenheit deutscher Kriegsschiffe in türkischen Gewässern werde die „Erhaltung der türkischen Neutralität unmöglich“ machen. Die unausweichliche Krise würde die Hohe Pforte zwingen, zum Geheimabkommen mit Deutschland zu stehen, was wiederum eine schnelle osmanische Antwort entweder gegen Russland im Osten oder gegen Großbritannien in Ägypten zur Folge haben müsse. In beiden Fällen würden die deutschen Schiffe in türkischen Gewässern neue Fronten gegen die Entente eröffnen und das Kräfteverhältnis zugunsten Deutschlands verändern.24

Die Osmanen nutzten die Schwierigkeit der deutsche Marine zu ihrem Vorteil. Auch wenn Enver die Entsendung deutscher Schiffe gefordert hatte, so war dies doch ohne Zustimmung der Regierung erfolgt, weshalb die Hohe Pforte den sich nähernden Kriegsschiffen zunächst die Hafeneinfahrt verweigerte. In einem frühmorgendlichen Treffen mit Botschafter Wangenheim gab Premierminister Said Halim am 6. August nach, formulierte aber die Bedingungen, unter denen der Goeben und der Breslau die Durchfahrt durch die Meerengen erlaubt würden. Said Halim bestand darauf, dass die deutschen Schiffe nichts unternehmen würden, um die osemanische Neutralität im sich schnell ausweitenden europäischen Konflikt zu gefährden. Dann zählte er sechs Forderungen an die Deutschen auf, womit zum ersten Mal die osmanischen Ziele im Ersten Weltkrieg formuliert wurden.

Said Halim verlangte als Erstes, dass Deutschland den Osmanen bei der Aufhebung der Kapitulationen helfen müsse – die Kapitulationen waren eine Reihe bilateraler Verträge, die Europäern, die im Osmanischen Reich lebten, Handelsprivilegien und extraterritoriale Rechte zusprachen. Die Osmanen hatten diese Kapitulationen auf dem Höhepunkt ihrer Macht den damals schwächeren europäischen Staaten zugestanden, um die Handelsbeziehungen zu verbessern. Die frühesten Kapitulationen waren im 14. Jahrhundert an italienische Stadtstaaten gegangen, und das System war bis in 17. Jahrhundert auf die Briten und Franzosen ausgeweitet worden. Im 20. Jahrhundert hingegen, als das Osmanische Reich deutlich schwächer geworden war als seine europäischen Nachbarn, hatte die Entwicklung der Kapitulationen für ein Ungleichgewicht gesorgt, das die osmanische Souveränität in vielerlei Hinsicht beeinträchtigte. Die Osmanen hofften, ein großer europäischer Krieg könne sie davon befreien, und bemühten sich um Deutschlands Unterstützung für die unilaterale Aufkündigung, von der man wusste, dass sie an den europäischen Höfen und Regierungszentralen Entrüstung auslösen würde.

Punkt zwei auf Said Halims Liste betraf die jüngsten Gebietsverluste nach den Balkankriegen. Die Osmanen wollten vor dem Beginn von Feindseligkeiten gegen die Triple Entente unbedingt Sicherheitsvereinbarungen mit Rumänien und Bulgarien treffen, um sicherzustellen, dass die Nachbarn vom Balkan weder Türkisch-Thrakien noch Istanbul bedrohten. Der Großwesir bemühte sich um deutsche Hilfe sowohl beim Abschluss der „unabdingbaren Einigung mit Rumänien und Bulgarien“ als auch bei der Verhandlung „eines gerechten Abkommens mit Bulgarien“ über die gleichmäßige Aufteilung „möglicher Kriegsgewinne“. Zudem müsse Deutschland zusichern, dass im Falle eines Kriegseintritts von Griechenland aufseiten der Entente und dessen Niederlage die drei Ägäisinseln Chios, Lesbos und Limnos wieder unter türkische Herrschaft gestellt würden.

Die Regierung strebte außerdem Gebietsgewinne auf russische Kosten an. Die Hohe Pforte verlangte Deutschlands Zusicherung, dass man nach einem Sieg über die Entente „der Türkei eine kleine Veränderung ihrer östlichen Grenze“ zugestehe, bei der „die Türkei in direkten Kontakt mit den russischen Muslimen kommt“: Die Osmanen wollten die drei 1878 an Russland abgetretenen Provinzen zurück. Zudem forderten sie, Deutschland solle jeden Friedensvertrag mit den besiegten europäischen Mächten so lange hinauszögern, bis jedes osmanische Territorium, das womöglich während des Krieges besetzt worden war, von fremden Truppen frei wäre und wieder unter osmanischer Souveränität stünde – im Grunde eine Neuformulierung der Gebietsgarantien, die im deutsch-türkischen Allianzvertrag ganz zentral gewesen waren. Und schließlich bat Said Halim den deutschen Botschafter, dafür zu sorgen, dass die Türkei „eine angemessene Kriegsentschädigung“ für all seine Anstrengungen erhalte.25

Dem deutschen Botschafter blieb wenig anderes übrig, als den Forderungen des Großwesirs gleich vor Ort nachzugeben. Es war mitten in der Nacht, die deutschen Schiffe näherten sich schnell und ein Großteil der Forderungen hätte nur dann erfüllt werden müssen, sollten die Osmanen zu einem deutschen Sieg beigetragen haben. Doch indem Wangenheim osmanischen Forderungen nachgab, schuf er einen Präzedenzfall, bei dem der schwächere Partner wichtige Konzessionen bei seinem deutschen Verbündeten durchsetzen konnte, was sich bis zum Ende des Krieges noch öfter wiederholen sollte.

Am Nachmittag des 10. August erschienen die deutschen Schiffe vor der türkischen Küste. Enver Pascha telegrafierte dem Kommandeur der Befestigungen an den Dardanellen, er solle der Breslau und der Goeben die Einfahrt in die Meerenge erlauben. Am nächsten Morgen lotste ein türkisches Torpedoboot das Schiff sicher durch die jüngst verminten Dardanellen. Kaum hatten die deutschen Schiffe die Dardanellen erreicht, legten der britische und der französische Botschafter beim Großwesir gegen die Entscheidung, den deutschen Schiffen das Ankern in osmanischen Gewässern zu erlauben, Protest ein. Dies verletze die osmanische Neutralität.

An diesem Abend, dem 11. August, traf sich das jungtürkische Triumvirat im Haus des Großwesirs zum Abendessen. Nur Enver wusste zu diesem Zeitpunkt von den dramatischen Ereignissen, die sich kurz zuvor in den Dardanellen ereignet hatten. „Uns ist ein Sohn geboren worden!“, rief er zur allgemeinen Verblüffung seiner Kollegen mit eigentümlichem Lächeln. Enver, in vielerlei Hinsicht der entschiedenste Fürsprecher eines Bündnisses mit Deutschland, begrüßte die Ankunft der deutschen Schiffe mit dem gleichen Vergnügen, wie er auch die Geburt eines Sohnes bejubelt hätte. Während er seine Kollegen über die Ankunft der Breslau und der Goeben informierte, erläuterte er ihnen die politischen Probleme, vor denen das Reich nun stand. Laut Kriegsrecht hatte die Regierung zwei Optionen, um ihre Neutralität zu bewahren: Sie konnte verlangen, dass die deutschen Schiffe innerhalb von 24 Stunden die osmanischen Gewässer verlassen müssten, oder sie konnte die deutschen Schiffe entwaffnen und in einem Hafen festsetzen.26

Es kam nicht infrage, dass die Osmanen die Schiffe ihrer deutschen Verbündeten aus den türkischen Gewässern verbannten, um sie der sicheren Zerstörung durch die wartende britische und französische Flotte auszusetzen. Als der Großwesir und seine Minister daher das Thema einer Entwaffnung des Schiffes mit dem Botschafter diskutieren wollten, lehnte Wangenheim diese rundweg ab. Die Osmanen schlugen daher einen Kompromiss vor. Die Deutschen sollten die Schiffe durch einen fiktiven Verkauf an die neuen türkischen Besitzer übergeben. Noch bevor der Botschafter dazu aus Berlin eine Antwort bekommen konnte, veröffentlichte Cemal Pascha am 11. August ein offizielles Kommuniqué, in dem der „Kauf “ der Goeben und Breslau durch die osmanische Regierung für 80 Millionen Reichsmark bekannt gegeben wurde – eine Zahl, die Cemal offenbar aus der Luft gegriffen hatte. Die deutschen Schiffe sollten die von den Briten beschlagnahmten Dreadnoughts Sultan Osman und Reşadiye ersetzen.

Die Ankündigung des Schiffsverkaufs an die osmanische Marine war sowohl für die Jungtürken als auch für die verwirrte deutsche Regierung ein PR-Coup. Türkischer Zorn gegen Großbritannien wegen des „Diebstahls“ der Kriegsschiffe wandelte sich in Dankbarkeit gegenüber Deutschland für die Bereitstellung der modernen Kriegsschiffe, die die Marine so dringend benötigte. Aber auch die Jungtürken konnten einen Erfolg für sich verbuchen, hatten sie doch über die Briten und Franzosen triumphiert, indem sie ein modernes Kriegsschiff erlangt hatten, mit dem sie der russischen Schwarzmeerflotte überlegen waren. Botschafter Wangenheim musste seiner Regierung in Berlin nur noch den Fait accompli erklären, als die Goeben und die Breslau in Yavuz Sultan Selim und Midilli umbenannt wurden. Admiral Souchon erhielt das Oberkommando über die osmanische Marine, die deutschen Matrosen wurden in die osmanische Marine integriert. Doch das Beste aus osmanischer Sicht war, dass das deutsche Schiff das Kräfteverhältnis zur See zugunsten der Osmanen verschoben hatte und die Verbindung zu Deutschland vertieft worden war, ohne dass Istanbul gezwungen worden wäre, seine Neutralität in diesem sich ausweitenden, globalen Konflikt aufzugeben.

*

Nachdem sie die Krisen im August 1914 überstanden hatten, befanden sich die Osmanen in einer vorteilhaften Lage. Ihnen war es gelungen, ein Bündnis mit einer großen europäischen Macht zu schmieden, um ihr Territorium vor einer russischen Aggression zu schützen. Sie hatten ihr Heer mobilisiert und damit die Europäer gezwungen, die Türkei wahrzunehmen. Sie hatten moderne Kriegsschiffe erworben, die das Machtverhältnis sowohl in der Ägäis als auch im Schwarzen Meer zu ihren Gunsten drehte. Und bei all dem war es Istanbul gelungen, sich nicht in den Krieg selbst hineinziehen zu lassen. Im Idealfall würden die Osmanen ihre Neutralität so lange beibehalten, wie dieser europäische Konflikt andauerte, und es den Mittelmächten überlassen, die Armeen der Entente niederzuringen. Das hätte es den Türken erlaubt, schlicht abzuwarten und erst dann in das Gefecht einzugreifen, wenn ein österreichischdeutscher Sieg wahrscheinlich geworden wäre, um damit ihre Kriegsziele unter möglichst geringem Einsatz an Menschen und Material zu erreichen.

Deutschland verlangte von seinem Verbündeten hingegen eine weit aktivere Rolle. Von dem Augenblick an, als die deutschen Schiffe in osmanischen Besitz übergegangen waren, drängte Berlin die Türken zum Kriegseintritt. Die einzige Frage, die die deutschen Militärstrategen umtrieb, war die, wie man den Partner am besten in die Kriegsanstrengungen einbinden könnte. Einige waren der Ansicht, die Türken sollten eine neue Front gegen die Russen eröffnen, um die russischen Attacken gegen die Mittelmächte abzuschwächen. So könnte man Teile der deutschen Armee an der Westfront gegen Großbritannien und Frankreich einsetzen. Jene, die den Osmanen näherstanden, verstanden das Zögern Istanbuls, die Russen anzugreifen. Das Osmanische Reich hatte seit 1711 jeden seiner Kriege gegen Russland verloren, und unmittelbar nach den Kriegen gegen Italien und auf dem Balkan war keine Zuversicht zu erkennen, dass man dieses Mal den gefährlichsten Gegner des Reichs würde besiegen können. Sollte die Türkei Russland 1914 angreifen und verlieren, stünde sie mit großer Wahrscheinlichkeit vor ihrer Aufspaltung.

Andere vertraten die Ansicht, die Truppen wären am wirkungsvollsten bei einem raschen Angriff auf britische Stellungen in Ägypten einzusetzen. Könnten die Osmanen den Suezkanal einnehmen, würde man damit die britische Kommunikation mit Indien unterbrechen und den Nachschub an Mensch und Material nicht nur vom Subkontinent, sondern auch aus Australien und Neuseeland unterbinden. Die deutschen Kriegsplaner gaben sich keiner Illusion über die Stärke der britischen Verteidigungslinien entlang des Suezkanals hin. Dennoch waren sie überzeugt, die Osmanen verfügten über eine Geheimwaffe, mit der sich die britischen Stellungen schwächen ließen.

Neben seiner Rolle als Herrscher des Osmanischen Reichs übte der Sultan auch das religiöse Amt des Kalifen aus, also des Führers der muslimischen Gemeinschaft weltweit. Die Deutschen wollten die religiöse Begeisterung der zwölf Millionen muslimischen Ägypter sowie der Millionen Muslime in den britischen und französischen Kolonien in Asien und Afrika nutzen, um die Entente-Mächte von innen heraus zu schwächen. Ein Angriff auf Ägypten, zusammen mit der Ausrufung eines Dschihad, eines heiligen islamischen Krieges, könnte einen Aufstand unter der unruhigen ägyptischen Bevölkerung auslösen, der es den Briten unmöglich machen würde, länger im Land zu bleiben – so die Überlegung.

John Buchans erstmals 1916 veröffentlichter Erfolgsroman Grünmantel behandelt die europäische Faszination der latenten Kraft des islamischen Fanatismus. „Der Islam ist eine kriegerische Religion, und seine Verkünder stehen immer noch mit dem Koran in der einen und dem Schwert in der anderen Hand am Pult“, erklärt Sir Walter Bullivant, der führende Geheimdienstler in Buchans Buch – nur um gleich darauf zu fragen: „Wenn es nun wie für Noah einen Bündnisregenbogen gibt, der auch den fernsten Mohammedaner mit Träumen vom Paradies fanatisiert? Was dann, mein Freund?“ Varianten dieses fiktiven Gesprächs, das Buchan im britischen Außenministerium des Jahres 1915 ansiedelte, dürften tatsächlich in den Berliner Regierungsbüros geführt worden sein. Man nannte dies „Islampolitik“, und nicht wenige Deutsche glaubten, der wichtigste Beitrag des Osmanischen Reichs zum Krieg sei genau hier zu finden.27

Der Prophet der deutschen Islampolitik war Freiherr Max von Oppenheim. 1860 in eine Bankiersdynastie hineingeboren, hatte von Oppenheim ausreichend Vermögen, um sich sein privates Interesse am Orient zu finanzieren. 1883 unternahm er seine erste Reise in den Nahen Osten und sah sich sowohl als Wissenschaftler als auch als Abenteurer viel in der Region um. 1892 zog er nach Kairo, von wo aus er bis 1909 zahlreiche weitere Reisen unternahm. Er machte sich einen Namen als fleißiger Autor, und seine vierbändige Forschungsarbeit Die Beduinen ist bis heute ein Standardwerk über die arabischen Stämme. T. E. Lawrence, später als „Lawrence von Arabien“ bekannt, gehörte zu seinen Lesern. Obwohl deutsche Diplomaten ihn als „einheimisch geworden“ verunglimpften, gewann von Oppenheim das Vertrauen von Kaiser Wilhelm II., welcher dem einzelgängerischen Orientalisten 1900 den Titel eines Legationsrats verliehen hatte. In jedem Sommer, wenn von Oppenheim Deutschland besuchte, traf sich der Kaiser mit ihm zu einer kurzen Besprechung über den Zustand der muslimischen Welt – einen Teil jener Welt, an der Wilhelm seit seiner triumphalen Reise durch das Osmanische Reich 1898 persönliches Interesse gewonnen hatte.

Von Oppenheim, dem britischen Empire gegenüber ablehnend eingestellt, war einer der Ersten, der Deutschlands aufstrebende Freundschaft mit der muslimischen Welt als Waffe gegen Großbritannien vorschlug. Schon 1906 stellte er fest: „Wir dürfen nicht vergessen, daß … der Islam in der Zukunft eine viel größere Rolle zu spielen berufen scheint, als in dem letzten Jahrhundert. … [D]ie kriegerische Kraft und die numerische Stärke gewisser islamischer Ländergebiete wird später einmal einzelnen europäischen Staaten gegenüber vielleicht eine sehr große Bedeutung haben.“ Der Baron wollte diese Stärke zu Deutschlands Vorteil nutzbar machen. Als im August 1914 der Krieg ausbrach, eröffnete von Oppenheim ein Dschihad-Büro in Berlin, um panislamisches Propagandamaterial herzustellen, das Revolten in Französisch-Nordafrika, im russischen Zentralasien und in Britisch-Indien, dem Kronjuwel des britischen Empires mit 80 Millionen Muslimen, anstiften sollte. Von Oppenheim versicherte dem Kanzler, dass selbst in dem Falle, dass die Muslime sich nicht erheben würden, schon allein durch die Möglichkeit einer muslimischen Revolte in Indien „für England die Notwendigkeit eines baldigen, uns genehmen Friedensschlusses gegeben sein“ würde.28

Auch wenn diese Taktik häufig als „Dschihad made in Germany“ abgetan wurde, glaubten doch viele offen säkulare Jungtürken ebenfalls, dass religiöser Fanatismus gegen die Entente eingesetzt werden könne. Enver hatte bei seinen Kämpfen 1911 in Libyen erkannt, welche Macht hinter dem Islam steckte. Noch vor seinem Aufbruch nach Libyen hatte er zu einem Guerillakrieg gegen die Italiener aufgerufen. Vor Ort angekommen, betrachtete er den Konflikt zunehmend aus dem Blickwinkel des Dschihad. In seinen Briefen beschrieb Enver libysche Freiwillige als „fanatische Muslime, die den Tod im Angesicht des Feindes als Geschenk Gottes ansehen“ und bemerkte wiederholt, dass sie ihm als Schwiegersohn des Kalifen besonders ergeben waren. Sein Kollege Cemal sah den Islam ebenfalls als verbindendes Element zwischen Arabern und Türken an und glaubte, ein Religionskrieg könne dieses Band stärken: „Die Mehrheit der Araber würde nicht zögern, in diesem großen Krieg ein Opfer für die Befreiung des muselmanischen Kalifats zu bringen.“ Einflussreiche Mitglieder der unionistischen Führungsriege zeigten sich also überzeugt, dass ein Dschihad, diese mächtige Waffe aus der Anfangszeit des Islam, in dem drohenden Konflikt mit den europäischen Großmächten als Kraftquelle wiederbelebt werden könnte.29

Welche Hoffnung auch immer die Jungtürken mit dem Dschihad verbanden, sie setzten sich weiter dafür ein, das Osmanische Reich so lange wie möglich aus dem Kriegsgeschehen herauszuhalten. Im August und September 1914 entschuldigten sich türkische Funktionäre immer wieder bei den zunehmend ungeduldigen Deutschen. Die Mobilmachung sei, so ihre Erklärung, noch nicht abgeschlossen. Müssten die Osmanen Russland angreifen, bevor die Armee ihre volle Einsatzbereitschaft erreicht hätte, drohe eine Niederlage, welche das Osmanische Reich eher zu einer Belastung denn zu einem Verbündeten der Mittelmächte machen würde. Die Osmanen machten den Deutschen klar, dass sie Russland noch immer als existenzielle Bedrohung für ihr Reich ansahen. Die Jungtürken ließen ihre neuen Alliierten allerdings nicht wissen, dass sie in ihrer Verzweiflung angesichts der russischen Bedrohung sogar den Russen selbst ein Geheimbündnis vorgeschlagen hatten – eines, das zwangsläufig zu einem Bruch mit Deutschland geführt hätte.

Enver Pascha, der als engagiertester Anwalt der deutsch-türkischen Beziehungen galt, war der Erste, der einen geheimen Vertrag mit Russland vorschlug. Am 5. August, nur drei Tage nach dem Abschluss des Bündnisses mit den Deutschen, überraschte Enver den russischen Militärattaché in Istanbul, General M. N. Leontjew, mit dem Vorschlag für ein Defensivbündnis mit Russland. Großwesir Said Halim und Envers jungtürkischer Kollege Talât Pascha wurden in die Beratungen miteinbezogen und brachten den russischen Botschafter an der Hohen Pforte, Michail Nikolajewitsch de Giers, mit an den Verhandlungstisch. Sie bemühten sich um russische Garantien für die territoriale Integrität des Osmanischen Reichs und die Rückgabe der drei Ägäisinseln sowie des von Bulgarien besetzten Westthrakiens. Im Gegenzug wollten die Osmanen die Entente mit allen militärischen Mitteln unterstützen und alle deutschen Offiziere und Techniker ausweisen, die im Osmanischen Reich tätig waren. Enver, Talât und Said Halim konnten den russischen Botschafter und den Militärattaché von der Ernsthaftigkeit ihrer Absichten überzeugen, sodass die beiden russischen Funktionäre sich für die vorgeschlagene Allianz mit der Türkei aussprachen.30

Der osmanische Botschafter in Sankt Petersburg, Fahreddin Bey, verfolgte den Ansatz einer türkisch-russischen Allianz mit der russischen Regierung weiter. Er erläuterte Außenminister Sergei Sasonow, die Osmanen wünschten territoriale Garantien und die russische Zusage, sich in Ostanatolien nicht weiter für die nationalen Bestrebungen der Armenier einzusetzen. Sasonow hingegen ließ sich weder von den Jungtürken noch von seinem Botschafter in Istanbul überzeugen. Er weigerte sich, das armenische Reformprojekt fallen zu lassen, und hatte nur wenig Zutrauen in Envers Versprechen, mit Deutschland zu brechen. Sasonow erklärte sich nur dazu bereit, mit Unterstützung durch Russlands Alliierte Großbritannien und Frankreich, eine Garantie der Entente-Mächte für die territoriale Integrität des Osmanischen Reichs auszusprechen, solange der Staat im Krieg neutral bleibe. Eine solche Garantie würde jedoch nicht bei der Wiedererlangung der Gebiete in der Ägäis und in Thrakien helfen und könnte das Osmanische Reich zudem nicht vor russischen Forderungen nach dem Krieg bewahren.

Die Tatsache, dass Sasonow an dem armenischen Reformprojekt festhielt, verstärkte nur die osmanischen Ängste vor zukünftigen Plänen zur Aufspaltung des Reichs. Das deutsche Angebot schien weiterhin das bessere zu sein, und gegen Ende August kehrten die Osmanen zu ihrer speziellen Beziehung zu den Mittelmächten zurück. Dass die Jungtürken überhaupt die Russen in ihre Überlegungen miteinbezogen hatten, belegt, was sie alles zu tun bereit waren, um sich von dem europäischen Krieg fernzuhalten.

*

Angesichts des Verlaufs der Kriegsereignisse im August und September 1914 hatten die Osmanen gute Gründe, sich den Eintritt in den Krieg sehr genau zu überlegen. Der deutsche Angriffskrieg hatte zur raschen Besetzung Belgiens und zum schnellen Vormarsch auf Paris geführt, wurde aber in der entscheidenden Schlacht an der Marne (5. bis 12. September) gestoppt. Die Feinde gruben erste Schützengräben, die sich fortan als eines der typischen Merkmale des Stellungskriegs an der Westfront herausstellen sollten. Das andere Kennzeichen des Weltkriegs zeichnete sich ebenfalls bereits im September 1914 ab: bisher nie dagewesene hohe Opferzahlen. Die Franzosen beklagten mehr als 385 000 Tote und Verwundete, bei den Deutschen waren es mehr als 260 000 allein an der Westє front. Deutsche Truppen besiegten Ende August in der Schlacht von Tannenberg eine komplette russische Armee, was zu mehr als 50 000 Toten und 90 000 Gefangenen führte. Die Russen waren gegen die Österreicher erfolgreicher, die mehr als 320 000 Tote und 100 000 Gefangene in Galihzien zählten (wobei auch die russischen Verluste in Galizien mit 200 000 Toten und 40 000 Kriegsgefangenen ungemein hoch waren). Österreich startete zudem im August 2014 einen Angriff auf Serbien, der scheiterte und bei dem die Habsburger mit 24 000 Gefallenen deutlich mehr Opfer zu beklagen hatten als Serbien, dessen Bevölkerungszahl weniger als ein Zehntel des österreichisch-ungarischen Reichs betrug. Die Briten verzeichneten bis November 90 000 Tote und Verletzte – mehr als alle Soldaten der ursprünglich eingesetzten sieben Divisionen des Britischen Expeditionskorps. In nicht einmal sechswöchigen Kämpfen hatten die Entente und die Mittelmächte mehr als eine Million Opfer zu beklagen. Das reichte aus, um die Jungtürken zum Innehalten zu bewegen.31

Die Geduld der Deutschen mit der osmanischen Prokrastination endete im September 1914. Da die deutschen Truppen an der Westfront festsaßen und die österreichische Armee durch die Kämpfe gegen Russland und Serbien stark geschwächt war, drängten die Mittelmächte die Osmanen dazu, eine neue Front gegen Russland zu eröffnen. Die Jungtürken versprachen weiterhin, in den Krieg einzugreifen, forderten aber zugleich mehr Finanzmittel und Kriegsmaterial. Mitte September verweigerte der deutsche Kriegsminister, General Erich von Falkenhayn, jedes weitere „Ersuchen der Türkei um Überlassung von Offizieren, Geschützen und Munition …, bevor die Türkei sich im Kriegszustand mit unseren Gegnern befindet. Mit dem Zeitpunkt des Beginns der Feindseligkeiten würde jedoch den Wünschen in denkbar weitestem Umfange entsprochen werden.“ Was Berlin betraf, so war der Transfer der Goeben und der Breslau an die osmanische Marine das perfekte Instrument, um Feindseligkeiten mit Russland zu beginnen und die Dominanz im Schwarzen Meer zu erringen. Ein Angriff auf Russland würde die türkische Neutralität beenden und die Osmanen in den Krieg hineinziehen. Zu diesem Zeitpunkt könnte der Sultan den Dschihad ausrufen, an dem große Hoffnungen der deutschen Strategen hingen, was die Unterminierung der Entente-Mächte durch ihre muslimischen Kolonien anging. Die Herausforderung für Deutschland bestand darin, die Osmanen zur Aufgabe ihres Zögerns und zum Angriff auf Russland zu zwingen.32

Ein wichtiges Hindernis für die Osmanen stellten ihre finanziellen Mittel dar. Sie benötigten erhebliche Zuschüsse, um ihr hohes Maß an Mobilmachung aufrechtzuerhalten und zu militärischen Maßnahmen übergehen zu können. Mitte Oktober bot Kriegsminister Enver Pascha bei Verhandlungen an, Russland augenblicklich auf dem Seeweg anzugreifen, sollte sein Land finanziell unterstützt werden. Enver sagte zudem zu, die Russen in Ostanatolien zu binden und britische Stellungen in Ägypten anzugreifen; außerdem würde der Sultan den Heiligen Krieg gegen die Entente ausrufen. Die Deutschen waren rasch mit dem Angebot einverstanden und schickten zwei Millionen türkische Pfund in Gold nach Istanbul, um die Feindseligkeiten gegen Russland auszulösen. Die Deutschen versprachen weitere drei Millionen Pfund über die nächsten acht Monate, nachdem die Osmanen formell den Krieg erklärt hätten. Diese Geldmittel gaben den osmanischen Militärstrategen die finanzielle Sicherheit, mit denen sie ihre eigenen anspruchsvollen Kriegsziele angehen konnten.

Am 24. Oktober entwarf Marineminister Cemal Pascha jenen schicksalhaften Befehl, der Admiral Souchon autorisierte, ein Manöver im Schwarzen Meer durchzuführen. Enver Pascha gab Souchon einen zweiten Satz an Befehlen mit, die den Angriff der Flotte auf russische Marinekräfte anordneten. Der Admiral stimmte zu, Envers Befehle so lange verschlossen zu halten, bis er per Funk zu dessen Durchführung aufgefordert würde. Doch die Initiative lag nun nicht länger in den Händen des Osmanen, als die neu beflaggten deutschen Schiffe am 27. Oktober ins Schwarze Meer einliefen.

Souchon mag dem Rang nach der zweithöchste Befehlshaber der osmanischen Marine gewesen sein, doch seine absolute Loyalität gehörte dem deutschen Kaiser. Als Enver Souchon keine Funkmeldung machte, übernahm der deutsche Admiral die Initiative und eröffnete am 29. Oktober die Schlacht gegen die Kaiserlich-Russische Schwarzmeerflotte vor der Krim, bei der er ein Kanonenboot und einen Minensucher versenkte. Die Yavuz Sultan Selim (die ehemalige Goeben) beschoss zudem die russische Stadt Sewastopol. Am nächsten Tag veröffentlichte die osmanische Regierung eine Erklärung, in der sie einen russischen Angriff auf die türkische Flotte verurteilte. Erst Russland, dann auch Großbritannien und Frankreich riefen ihre Botschafter aus Istanbul zurück und erklärten am 2. November den Krieg.

Das Osmanische Reich befand sich im Krieg. Alles, was nun noch zu tun übrig blieb, war das Hissen der Flagge des Dschihad. Nicht zum ersten Mal nutzten die Osmanen die Religion, um ihre Untertanen für den Krieg zu mobilisieren. Erst 1877 hatte Sultan Abdülhamid II. mit dem Banner des Propheten Mohammed zum Dschihad gegen die Russen aufgerufen. Doch 1914 waren die Umstände andere. Dieses Mal würde der Sultan die Muslime des Osmanischen Reichs und der Länder jenseits der osmanischen Grenzen zu einem Krieg gegen Nichtmuslime aufrufen – zunächst gegen Russen, Briten, Franzosen, Serben und Montenegriner – jedoch nicht gegen die Verbündeten des Reichs, Deutschland und Österreich. Eine Gruppe von 29 Islamgelehrten traf sich in Istanbul, um fünf Rechtsauffassungen (Fatwas, oder auf Türkisch fetvas) zu beraten und zu entwerfen, mit denen der Dschihad erlaubt wurde. Die fünf Fatwas wurden formell vom Sultan genehmigt und am 11. November in einer nichtöffentlichen Sitzung führenden Politikern, Militärs und religiösen Autoritäten vorgestellt. Erst anschließend, am 14. November, rief man den Heiligen Krieg vor einer großen Menschenmenge aus, die sich im Namen des Sultans vor der Fatih-Moschee Mehmed des Eroberers versammelt hatte. Die Menschen stimmten jubelnd zu.33

Die osmanischen Autoritäten durften zuversichtlich sein, dass Araber und Türken innerhalb der Reichsgrenzen dem Ruf des Sultans folgen würden. Ob der Dschihad darüber hinaus in der ganzen Welt, die sich auf einen Krieg einstellte, auf Widerhall stoßen würde, blieb abzuwarten.

Der Untergang des Osmanischen Reichs

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